VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 19.05.2021 - 28 K 84.18 A - asyl.net: M29838
https://www.asyl.net/rsdb/m29838
Leitsatz:

Keine drohenden Menschenrechtsverletzungen für "Anerkannte" in Italien:

Ein gesunder, erwerbsfähiger Mann mit internationaler Schutzberechtigung in Italien kann dort seine elementaren Grundbedürfnisse erfüllen. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die allgemeine und wirtschaftliche Lage in Italien, auch nicht im Zuge der Covid-19-Pandemie, in einer Weise verschlechtert hätte, dass eine den Maßstäben des Art. 3 EMRK, Art. 4 Eu-GrCH widersprechende Verelendung eintreten würde.

(Leitsätze der Redaktion)

 

Schlagwörter: Italien, internationaler Schutz in EU-Staat, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Integration, Mann, systemische Mängel, Aufnahmeeinrichtung, Aufnahmebedingungen, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Dublinverfahren, Obdachlosigkeit,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, RL 2013/33/EU Art. 20 Abs. 5, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

26 Gemessen an diesen Maßstäben steht Art. 4 GRCh der Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig nicht entgegen. Auf Grundlage der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisse ist nicht anzunehmen, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Italien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten wird und seine elementarsten Bedürfnisse ("Bett, Brot, Seife") für einen längeren Zeitraum nicht wird befriedigen können (so zur Situation von anerkannt Schutzberechtigten in Italien OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15. Dezember 2020 – 7 A 11038/18 –, juris Rn. 39 ff.; VG Berlin, Urteil vom 21. Februar 2021 – VG 31 K 718.18 A –, juris Rn. 19 ff.; VG Karlsruhe, Urteil vom 14. September 2020 – A 9 K 3639/18 –, juris Rn. 36 ff.; VG Cottbus, Urteil vom 26. August 2020 – 5 K 1123/19.A –, juris Rn. 17 ff.; a. A. noch Kammerurteil vom 16. Juli 2020 – VG 28 K 21.18 A –, juris Rn. 42 ff.; vgl. auch: VG Köln, Beschluss vom 27. August 2020 – 8 L 1429/20.A –, juris Rn. 11 ff.; VG Hannover, Urteil vom 10. August 2020 – 3 A 3184/15 –, juris Rn. 35 ff.). [...]

27 International Schutzberechtigte haben grundsätzlich Zugang zu den Aufnahmezentren "Sistema accoglienza integrazione", den sogenannten SAI-Zentren. Diese ersetzen die früheren SIPRIOMI- bzw. SPRAR-Zentren. Die SAI-Zentren sind nunmehr selbst in zwei Organisationsstufen unterteilt, die sich einmal an Schutzsuchende und zum anderen an Personen mit internationalem Schutzstatus richten (vgl. Circular letter der Italienischen Dublin-Einheit vom 8. Februar 2021 [betr. Änderungen nach Inkrafttreten des Dekretes Nr. 130/2020]; Europäische Kommission, Italy, A new system of reception and integration, 25. Januar 2021).

28 Da die bisherigen SIPROIMI-Zentren (lediglich) umbenannt wurden und nunmehr unter der Bezeichnung SAI weitergeführt werden (vgl. Europäische Kommission, Italy, A new system of reception and integration, 25. Januar 2021), geht die Kammer davon aus, dass im Wesentlichen für die SAI-Zentren, jedenfalls soweit sie sich an Personen mit internationalem Schutzstatus richten, die Bedingungen gelten, die zuvor für die SIPROIMI-Zentren gegolten haben. [...]

30 Nach Beendigung der Aufnahme in einem SAI-Projekt stehen (auch aus dem Ausland zurückkehrende) anerkannt Schutzberechtigte italienischen Staatsangehörigen gleich, d. h. sie können nach Italien einreisen, sich frei im Land bewegen und haben wie italienische Staatsangehörige Zugang zum Sozialsystem (vgl. für die SIPROIMI-Zentren SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 49, 62). Sie haben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keinen (erneuten) Zugang zu den SAI-Einrichtungen.

31 Auf dieser Grundlage ist davon auszugehen, dass der Kläger einen Anspruch auf Unterbringung in einem SAI-Zentrum hat und damit seine Grundbedürfnisse nach Unterkunft und materieller Grundversorgung befriedigen kann. Denn es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger in der Vergangenheit bereits in einem SIPROIMI-Projekt in Italien untergebracht war. [...]

32 Eine Unterbringung des Klägers in einem der SAI-Zentren scheitert auch nicht an den vorhandenen Kapazitäten. [...]

34 Aber selbst unter der Annahme, dass der Kläger nicht in einem SAI-Zentrum aufgenommen würde, wäre davon auszugehen, dass der Kläger seine Grundbedürfnisse in Italien zu sichern vermag. Insbesondere bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass sich die allgemeine und wirtschaftliche Lage in Italien, auch nicht im Zuge der COVID-19-/Corona-Pandemie in einer Weise verschlechtert hätte, die bei gesunden und arbeitsfähigen Männern im Fall einer Rückkehr nach Italien nunmehr zu einem "Automatismus der Verelendung" führen würde (vgl. zu diesem Maßstab OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. September 2019 – OVG 3 B 33.19 –, juris Rn. 34). Es lässt sich weder mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit feststellen, dass der Kläger als anerkannt Schutzberechtigter in Italien keine ausreichende Arbeit finden kann, die das nach Art. 4 GRCh gebotene Existenzminimum zu sichern vermag, noch liegen belastbare Hinweise darauf vor, dass er hierdurch nicht auch in die Lage versetzt würde, für sich eine Unterkunft zu finden.

35 International Schutzberechtigte werden in Italien in die Lage versetzt, ihren Lebensunterhalt selbständig zu bestreiten, denn sie haben dort ungehinderten Zugang zum Arbeitsmarkt bzw. zu einer Berufsausbildung (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 68 f.; ACCORD, Anfragebeantwortung zu Italien vom 18. September 2020, S. 5). Der Zugang anerkannt Schutzberechtigter zum Arbeitsmarkt wird durch das italienische Recht nicht beeinträchtigt. [...] Unbeschadet der Vermittlungsmöglichkeiten der SAI-Zentren kann von Schutzberechtigten erwartet werden, in die Regionen zu ziehen, in denen sie auch ohne vorherige Ausbildung Beschäftigungen etwa in der Landwirtschaft und im Tourismus finden (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15. Dezember 2020 – 7 A 11038/18 –, juris Rn. 45 f.). Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Corona-Pandemie, die insbesondere den Tourismus- und Gaststättensektor hart getroffen hat. Für diese Bereiche zeichnet sich zwar eine langsame Erholung ab. Die Arbeitsplätze sind hier aber momentan noch knapper als vor Ausbruch der Pandemie. Für ungelernte Arbeiterinnen und Arbeiter bleiben jedoch jedenfalls die Bereiche der Hausarbeit, des Reinigungsgewerbes oder insbesondere der Landwirtschaft, in dem die Pandemie sogar zeitweise eine stark erhöhte Nachfrage zur Folge hatte, weil die ansonsten regelmäßig nach Italien reisenden Saisonarbeiter infolge der eingeschränkten Mobilität in Europa ausgeblieben sind (vgl. EURES, Kurzer Überblick über den Arbeitsmarkt, Stand: November 2020). [...]

38 Vom Kläger kann auch erwartet werden, dass er etwaige Schwierigkeiten in der Zeit unmittelbar nach seiner Ankunft überwindet und auch dann, wenn er nicht in einer Einrichtung des SAI-Systems untergebracht werden kann, eine ggf. zunächst nur vorübergehende Unterkunft findet, bis er einen Arbeitsplatz erlangt hat. [...]

41 Vom Kläger kann auch erwartet werden, dass er etwaige administrative Schwierigkeiten überwindet. [...]

42 Keine menschenrechtsrelevante Gefahr droht anerkannten, nicht vulnerablen Schutzberechtigten – wie dem Kläger – zur Überzeugung der Kammer auch hinsichtlich der in Italien verfügbaren medizinischen Versorgung. Anerkannt Schutzberechtigte haben jedenfalls Zugang zur notwendigen medizinischen Versorgung. [...]