Einhaltung der 5-Jahresfrist für die Rückausnahme vom Ausschluss von Sozialleistungen nach dem SGB II nur bei fortwährender melderechtskonformer Anmeldung:
"Die Rückausnahme des § 7 Abs. 1 S. 4 und 5 SGB II setzt nicht nur eine einmalige Anmeldung bei der Meldebehörde, sondern ein durchgehendes Gemeldetsein im Bundesgebiet für die Dauer von mindestens fünf Jahren voraus (Rn. 7)."
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
5 Der Antragsteller ist polnischer Staatsangehöriger. Er ist der Meinung, er sei nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, 2 SGB II von den Leistungen des SGB II ausgeschlossen, weil er sich auf § 4a Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) und/oder § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II berufen könne.
6 Der Verweis des Antragstellers auf § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU geht fehl. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) ist geklärt, dass Zeiten der Verbüßung einer Freiheitsstrafe innerhalb des Fünfjahreszeitraums den rechtmäßigen Aufenthalt unterbrechen und der Fünfjahreszeitraum nach der Haftentlassung wieder neu beginnt. [...]
7 Auf § 7 Abs. 1 Satz 4, 5 SGB II kann sich der Antragsteller ebenfalls nicht berufen. Der Antragsteller gibt an, er halte sich seit 2013, davon durchgehend seit dem 28. Januar 2015 in der Bundesrepublik Deutschland auf. Er war/ist jedoch hierzulande seit dem 28. Januar 2015 nicht durchgängig gemeldet (sondern nur vom 28. Januar 2015 bis zum 28. Februar 2016, vom 12. Juni 2018 bis zum 1. Juli 2018 und ab 20. Februar 2020). Zwar ist in Literatur und Rechtsprechung umstritten, ob § 7 Abs. 1 Satz 4, 5 SGB II fortwährende (und überdies melderechtskonforme) Anmeldungen während der gesamten Dauer der Fünfjahresfrist voraussetzt (so LSG Schleswig-Holstein Beschluss vom 4. Mai 2018, L 6 AS 59/18 B ER; LSG Hessen, Beschluss vom 16. Oktober 2019, L 7 AS 343/19 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. Mai 2020, L 31 AS 602/20 B ER; Groth, in: BeckOK Sozialrecht, 60. Edition, Stand 1. März 2021, § 23 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch ‹SGB XII› Rn. 18e; so möglicherweise auch: Mushoff, in: BeckOK Sozialrecht, 60. Edition, Stand 1. März 2021, § 7 SGB II Rn. 43) oder nicht (so LSG Hamburg, Beschluss vom 20. Juni 2019, L 4 AS 34/19 B ER; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 9. Dezember 2019, L 6 AS 152/19 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 3. Juli 2020, L 8 SO 73/20 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen Beschluss vom 23. April 2018, L 7 AS 2162/17 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Mai 2020, L 18 AS 1812/19; Geiger, in: Münder/Geiger, SGB II, 7. Aufl. 2021, § 7 Rn. 42). Dem Senat erscheint jedoch (nunmehr, da er anders noch mit Beschluss vom 17. August 2020 ‹L 5 AS 982/20 B ER› entschieden hat) die erstgenannte Auffassung überzeugender. Für sie spricht bereits der Gesetzeswortlaut. Denn setzte § 7 Abs. 1 Satz 4, 5 SGB II keine fortwährenden und überdies melderechtskonforme Meldungen während der gesamten Dauer der Fünfjahresfrist voraus (mit der Folge, dass sich auf § 7 Abs. 1 Satz 4, 5 SGB II auch Ausländerinnen und Ausländer berufen könnten, die sich während ihres gewöhnlichen fünfjährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur einmal angemeldet – und anschließend allenfalls umgemeldet – haben), müsste sich § 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II entnehmen lassen, welche Anmeldung für den Beginn der Fünfjahresfrist maßgeblich ist. § 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II spricht jedoch nur von der "Anmeldung", nicht von der "erstmaligen" oder "letztmaligen" Anmeldung. Zeiten des Aufenthalts vor der Anmeldung können zudem nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut auch dann nicht berücksichtigt werden, wenn die/der Ausländer/in sie anderweit nachweisen kann (vgl. Groth, in: BeckOK SozR/Groth, 60. Edition, Stand 1. März 2021, § 23 SGB XII Rn. 18e; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. August 2018, L 23 SO 146/18 B ER; Hohm, in: Schellhorn/Hohm/Scheider/Legros, SGB XII, 20. Aufl. 2020, § 23 Rn. 98; Knickrehm, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Sozialrecht, 6. Aufl. 2019, § 7 SGB II Rn. 9e; Loose, in: Hohm, SGB II, Lsbl., § 7 Rn. 74.6; Birk, in: LPK-SGB XII, 12. Aufl. 2020, § 23 Rn. 34). Daher gebietet auch Art. 3 Abs. 1 GG, für die Zeit nach der Anmeldung fortwährende (und überdies melderechtskonforme) Meldungen zu verlangen (andernfalls ließe sich nicht rechtfertigen, warum diejenige/derjenige Ausländer/in, die/der sich nachweislich seit mindestens fünf Jahren gewöhnlich in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, sich aber erst kürzlich angemeldet hat, keine Leistungen nach dem SGB II erhält, wohl aber diejenige/derjenige Ausländer/in, die/der sich nachweislich seit mindestens fünf Jahren gewöhnlich in der Bundesrepublik Deutschland aufhält, sich hierzulande auch vor fünf Jahren angemeldet, sich jedoch wenig später wieder abgemeldet und danach nicht wieder angemeldet hat). Allein dies entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers. Denn in der amtlichen Begründung zu § 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II heißt es (Bundestagsdrucksache 18/10211 S. 14): "[…]; durch die verpflichtende Meldung bei der Meldebehörde dokumentieren die Betroffenen ihre Verbindung zu Deutschland, die Voraussetzung für eine Aufenthaltsverfestigung ist." Daraus folgt, dass eine Abmeldung das genaue Gegenteil dokumentiert (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 4. Mai 2020, L 31 AS 602/20 B ER). Hinzu tritt, dass der Ausschuss für Arbeit und Soziales zum Entwurf eines "Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch" am 25. November 2016 mehrere Sachverständige öffentlich angehört hat. Die "Diakonie Deutschland" hat unter anderem folgenden Einwand erhoben (vgl. Ausschussdrucksache 18‹11›851 S. 46): "Der Fristlauf ab Anmeldung beim zuständigen Meldeamt ist tatbestandlich zu eng gefasst. § 30 Abs. 3 SGB I, der den persönlichen Geltungsbereich für die Sozialgesetzbücher festlegt, stellt auf den Wohnsitz oder den gewöhnlichen Aufenthalt der betreffenden Person in Deutschland ab, wie er den Umständen nach erkennbar ist. Dies ist der Fall, wenn die Umstände dafür sprechen, dass er sich nicht nur vorübergehend in Deutschland aufhält. Daher müssen auch andere Nachweise, die eine eindeutige Indizfunktion für den dauerhaften Aufenthalt in Deutschland haben, für einen Fristlauf zugrunde gelegt werden können." Diesen Einwand hat der Gesetzgeber nicht aufgegriffen, weil nach seinem Willen die Anmeldung nicht Indiz für einen dauerhaften Aufenthalt ist, sondern Voraussetzung für eine Aufenthaltsverfestigung (siehe oben Bundestagsdrucksache 18/10211 S. 14; vgl. auch die Rede der Parlamentarischen Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales ‹Anette Krame› in der zweiten und dritten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes "zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch" ‹Plenarprotokoll 18/206 S. 20624›: "Zum anderen enthält der Gesetzentwurf eine Neuerung: Erstmals wird gesetzlich fixiert, wann von einer Verfestigung des tatsächlichen Aufenthalts auszugehen ist und wir aus verfassungsrechtlichen Gründen Leistungen gewähren."). Zu berücksichtigen ist überdies, dass § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II eine Ausnahmevorschrift ist (vgl. Bundestagsdrucksache 18/10211 S. 15: "Ausländische Personen, die sich nach § 7 Absatz 1 Satz 4 – neu – auf die Rückausnahme vom Leistungsausschluss nach § 7 Absatz 1 Satz 2 Nummer 2 berufen […].") und Ausnahmevorschriften eng auszulegen sind (vgl. Bundessozialgericht ‹BSG›, Urteil vom 23. Oktober 1958, 8 RV 619/57; BSG, Urteil vom 24. November 2020, B 12 KR 34/19 R; Bundesverwaltungsgericht ‹BVerwG›, Beschluss vom 18. März 1961, GrSen 4.60; BVerwG, Urteil vom 21. Juni 2005, 2 WD 12/04; BVerfG, Beschluss vom 21. Juni 2005, 2 BvR 957/04). Dies ergibt sich auch aus dem Sinn und Zweck, der dem "Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch" vom 22. Dezember 2016 (Bundesgesetzblatt 2016 Teil I S. 3155), mit dem § 7 Abs. 1 Satz 4, 5 SGB II eingeführt wurde, zugrunde liegt. Denn mit diesem Gesetz wollte der Gesetzgeber die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II alter Fassung (a. F.) und § 23 Abs. 1 Satz 1, 3, Abs. 3 Satz 1 SGB XII a. F. korrigieren und den Kreis der hilfebedürftigen, erwerbsfähigen Ausländerinnen und Ausländer, die Leistungen nach dem SGB II/SGB XII beanspruchen können, konkretisieren und zugleich eng begrenzen (vgl. Bundestagsdrucksache 18/10211 S. 11, 12: "Das BSG hat den Betroffenen außerdem unabhängig davon, zu welcher der im SGB II ausgeschlossenen Gruppen sie gehören, Leistungen nach dem SGB XII im Ermessenswege zugesprochen. Bei einem verfestigten Aufenthalt, den das BSG im Regelfall nach sechs Monaten annimmt, soll das Ermessen jedoch auf null reduziert sein, so dass für die Betroffenen so gut wie immer ein Anspruch besteht. Die Entscheidungen des BSG haben zu Mehrbelastungen bei den für die Leistungen zuständigen Kommunen geführt. […] Es ist davon auszugehen, dass die Regelung des Leistungsausschlusses im SGB XII eine Lenkungswirkung entfalten wird. Folglich werden voraussichtlich – frühestens fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes – nur für eine geringe, nicht quantifizierbare Anzahl an Personen Ansprüche im SGB II entstehen, sodass nicht mit nennenswerten Mehrausgaben zu rechnen ist. Die Anzahl der Personen, die bereits mit Inkrafttreten der Regelung die Anspruchsvoraussetzungen ‹fünf Jahre Aufenthalt seit Meldung bei der zuständigen Meldebehörde› erfüllen, dürfte sehr gering sein, so dass hierdurch ebenfalls keine nennenswerten Mehrausgaben zu erwarten sind."; vgl. auch die Rede des Abgeordneten Stephan Stracke ‹CDU/CSU› in der ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes "zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch" ‹Plenarprotokoll 18/200 S. 20039›: "Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist abenteuerlich. Sie besagt, dass jeder EU-Ausländer sich Sozialleistungen ersitzen kann, er muss bloß sechs Monate hier in Deutschland sein. Dieses sozialpolitische Ergebnis der Rechtsprechung ist nicht hinnehmbar. Deswegen korrigieren wir es."). Dem Einwand, dass einzelnen Personengruppen – wie etwa Obdachlosen – der Zugang zu den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II versperrt werde, wenn § 7 Abs. 1 Satz 4, 5 SGB II fortwährende Meldungen während der gesamten Dauer der Fünfjahresfrist voraussetzte (so LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Mai 2020, L 18 AS 1812/19; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. Mai 2021, L 9 SO 56/21 B ER), ist zu entgegnen, dass er auch für die gegenteilige Auffassung gilt, weil (wenn schon nicht auf durchgehende Meldungen, so doch zumindest) auf eine Anmeldung nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut nicht verzichtet werden kann, auch nicht bei Obdachlosen (vgl. Hohm, in: Schellhorn/Hohm/Scheider/Legros, SGB XII, 20. Aufl. 2020, § 23 Rn. 98; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. August 2018, L 23 SO 146/18 B ER; Knickrehm, in: Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann, Kommentar zum Soziaalrecht, 6. Aufl. 2019, § 7 SGB II Rn. 9e; Loose, in: Hohm, SGB II, Lsbl., § 7 Rn. 74.6; Birk, in: LPK-SGB XII, 12. Aufl. 2020, § 23 Rn. 34). Dem Einwand ist ferner entgegenzuhalten, dass unfreiwillig obdachlose Personen die Möglichkeit haben, sich nach dem Polizei- und Ordnungsrecht der Länder in eine Notunterkunft einweisen zu lassen und dort anzumelden. Menschen, die freiwillig obdachlos sind, haben die Möglichkeit, sich unter der Adresse der örtlichen Wohnungslosenhilfe anzumelden (in Berlin ist dies die Zentrale Beratungsstelle für Menschen in Wohnungsnot, Levetzowstraße 12a, 10555 Berlin ‹vgl. weddingweiser.de/effektive-hilfe-fuer-obdachlose-aber-wie/ und www.wohnungslos-berlin.de/ueber-uns/›). Dem Einwand ist darüber hinaus entgegenzuhalten, dass das Grundgesetz nicht die Gewährung voraussetzungsloser Sozialleistungen gebietet (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 2010, 1 BvR 2556/09, BSG, Urteil vom 29. April 2015, B 14 AS 19/14 R). Der Einwand, der Gesetzgeber habe in § 7 Abs. 1 Satz 6 SGB II selbst Ausnahmen vom Lauf der Frist des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II geregelt, zu denen eine Unterbrechung der Meldung nicht gehöre (so LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Mai 2020), überzeugt ebenfalls nicht. § 7 Abs. 1 Satz 6 SGB II regelt keine Ausnahme zu § 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II, sondern ergänzt die von § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II aufgestellten Voraussetzungen (vgl. die Worte "auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts", die nur auf § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II Bezug nehmen; vgl. auch die Rede des Abgeordneten Stephan Stracke ‹CDU/ CSU› in der ersten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes "zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch" ‹Plenarprotokoll 18/200 S. 20040›), so dass § 7 Abs. 1 Satz 4 bis 6 SGB II so zu lesen sind, als stünde dort "wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhn - lichen und rechtmäßigen (im Sinne von nicht ausreisepflichten) Aufenthalt im Bundesgebiet haben, gerechnet ab dem Zeitpunkt, ab dem sie im Bundesgebiet durchgehend ordnungsgemäß gemeldet sind". [...]
9 Fest steht der Aufenthalt des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland lediglich für die Zeiten, in denen er in Berlin und Brandenburg in Strafhaft war. Für alle anderen Zeiten liegen keine oder kaum aussagekräftige Indizien (in Form von Meldungen) vor. Die eidesstattlichen Versicherungen des Antragstellers vom 24. März 2020 und 26. März 2020 scheiden als Beweismittel aus. [...]