OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 30.06.2021 - 6 So 19/21 - asyl.net: M29830
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Leitsatz:

Rechtsmittel der Beschwerde gegen nachträgliche Aufhebung der Prozesskostenhilfe zulässig:

"Die Entscheidung über die Aufhebung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe gem. § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. ZPO unterfällt nicht dem Beschwerdeausschluss nach § 146 Abs. 2 VwGO."

(Amtlicher Leitsatz; entgegen OVG Berlin, Beschl. v. 19.12.2017, OVG 5 M 51.17)

Schlagwörter: Prozesskostenhilfe, Aufhebung, Beschwerdeausschluss, Beschwerde, PKH,
Normen: VwGO § 146 Abs. 2, VwGO § 166 Abs. 3, ZPO § 124 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

1. Die Beschwerde ist zulässig; sie ist insbesondere nicht nach § 146 Abs. 2 VwGO ausgeschlossen. Nach § 146 Abs. 2 VwGO können Beschlüsse über die Ablehnung von Prozesskostenhilfe nicht mit der Beschwerde angefochten werden, wenn das Gericht ausschließlich die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe verneint. Gegenstand der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist die nachträgliche Aufhebung von ursprünglich bewilligter Prozesskostenhilfe nach § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. ZPO. Auf diese Fallgestaltung ist der Beschwerdeausschluss des § 146 Abs. 2 VwGO nicht anwendbar.

Hierfür spricht der Wortlaut der Norm, denn die nachträgliche Aufhebung ist keine "Ablehnung von Prozesskostenhilfe". In der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist es daher inzwischen ganz herrschende Meinung, dass eine Anwendung des Beschwerdeausschlusses in den Fällen des § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. ZPO abzulehnen ist (vgl. OVG Bautzen, Beschl. v. 15.2.2016, 3 E 98/15, juris Rn. 3 ff.; OVG Berlin, Beschl v. 23.06.2016, OVG 12 M 38.16, juris Rn. 1 ff.; OVG Berlin, Beschl. v. 13.2.2018, OVG 11 M 27.17, juris Rn. 3; VGH Mannheim, Beschl. v. 6.3.2018, 11 S 212/18, juris Rn. 7 ff.; OVG Berlin, Beschl. v. 17.8.2018, OVG 3 M 146.17, juris Rn. 4 ff.; OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.1.2019, 8 PA 90/18, juris Rn. 5 ff. zur nachträglichen Anordnung von Ratenzahlungen gem. § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 120a Abs. 1 ZPO). Eine abweichende Auffassung wird – soweit ersichtlich – allein vom 5. Senat des OVG Berlin-Brandenburg für die hier nicht vorliegende Fallgestaltung einer nachträglichen Anordnung von Ratenzahlungen durch das Verwaltungsgericht angenommen (OVG Berlin, Beschl. v. 19.12.2017, OVG 5 M 51.17, juris Rn. 9). Die Kommentarliteratur folgt der herrschenden Rechtsprechung (Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Mai 2018, § 146 Rn. 11; Guckelberger, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 146 Rn. 28a; Happ, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 146 Rn. 11; Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 146 Rn. 10; Kuhlmann, in: Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 146 Rn. 13; Riese, in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juli 2020, § 166 Rn. 138).

Nichts Gegenteiliges ist dabei der Entstehungsgeschichte des Beschwerdeausschlusses in § 146 Abs. 2 VwGO zur Frage seiner Reichweite in Bezug auf eine nachträgliche Aufhebung der Prozesskostenhilfeentscheidung zu entnehmen. Die amtliche Begründung der Bundesregierung zum Entwurf des § 146 Abs. 2 VwGO n.F. (in Art. 12 Nr. 1 des Gesetzes zur Änderung des Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferechts vom 31. August 2013 (BGBl. I S. 3533, 3538) ist hinsichtlich dieser Frage nicht eindeutig. Es heißt darin lediglich, dass "… [i]n Anpassung an § 172 Absatz 3 Nummer 2 SGG ... in § 146 Absatz 2 die Beschwerdemöglichkeit im Verfahren der Prozesskostenhilfe eingeschränkt [wird]", wobei "… [d]ie Ablehnung der Prozesskostenhilfe mit der Beschwerde nur noch angefochten werden [kann], wenn die Erfolgsaussichten in der Hauptsache vom Gericht verneint wurden. Hat das Gericht hingegen die persönlichen oder wirtschaftlichen Voraussetzungen verneint, ist die Beschwerde gegen diese Entscheidung nicht statthaft" (BT-Drs. 17/11472, S. 48 f.). Dass der Gesetzgeber dabei über den Fall der (erstmaligen) Ablehnung von Prozesskostenhilfe im Bewilligungsverfahren hinausgehende weitere Fallgestaltungen im Blick hatte, namentlich die nachträgliche Entziehung von Prozesskostenhilfe, wird in diesen Ausführungen nicht erkennbar (ebenso OVG Lüneburg, Beschl. v. 28.1.2019, 8 PA 90/18, juris Rn. 7; VGH Mannheim, Beschl. v. 6.3.2018, 11 S 212/18, juris Rn.11; OVG Bautzen, Beschl. v. 15.2.2016, 3 E 98/15, juris Rn. 6). [...]

2. Die Beschwerde ist begründet. Die Voraussetzungen für die auf § 166 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 VwGO i. V. m. § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. ZPO gestützte Aufhebung der bewilligten Prozesskostenhilfe liegen nicht (mehr) vor.

Nach § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. ZPO soll das Gericht die Bewilligung der Prozesskostenhilfe aufheben, wenn die Partei eine Erklärung nach § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 120a Absatz 1 Satz 3 ZPO nicht oder ungenügend abgegeben hat. Auf Verlangen des Gerichts muss die Partei gemäß § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 120a Abs. 1 Satz 3 ZPO jederzeit erklären, ob eine Veränderung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eingetreten ist. Hierzu hat die Partei nach § 120a Abs. 4 Satz 1 ZPO zwingend das gemäß § 117 Abs. 3 ZPO eingeführte Formular über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bei Prozess- und Verfahrenskostenhilfe zu verwenden.

Die Erklärung über die aktuellen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse unter Verwendung des dafür vorgesehenen Formulars hat der Kläger nunmehr im Beschwerdeverfahren nachgereicht (vgl. Bl. 69 ff. des PKH-Hefts). Es liegen danach zumindest zum jetzigen Zeitpunkt die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe gemäß § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. ZPO nicht mehr vor.

Es steht einer Berücksichtigung der im Beschwerdeverfahren eingereichten Formularerklärung und Belege nicht entgegen, dass der Kläger sie ungeachtet einer Fristsetzung (PKH-Heft, Bl. 18) und Erinnerung (PKH-Heft, Bl. 27) durch das Verwaltungsgericht ohne zureichende Entschuldigung verspätet abgegeben hat. Denn eine für die Erklärung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse gemäß § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 120a Abs. 1 Satz 3 ZPO gesetzte Frist ist keine Ausschlussfrist und die nach § 166 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 124 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. ZPO mit der Nichtabgabe einhergehende Sollfolge der Bewilligungsaufhebung hat keinen Strafcharakter (vgl. Neumann/Schaks, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 166 Rn. 175). Wird die geforderte Erklärung im Beschwerdeverfahren nachgereicht und ergibt sich daraus, dass die Bewilligungsvoraussetzungen weiterhin vorliegen, scheidet die Aufhebung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe daher aus (vgl. OVG Berlin, Beschl. v. 13.2.2018, OVG 11 M 27/17, juris, Rn. 6; OVG Bautzen, Beschl. v. 15.2.2016, 3 E 98/15, juris Rn. 9; OVG Berlin, Beschl. v. 23.6.2016, OVG 12 M 38/16, juris Rn. 3 m.w.N.; a.A. in der Zivilgerichtsbarkeit OLG Naumburg, Beschl. v. 14.4.2005, 14 WF 72/05 , juris Rn. 6 f.; vgl. zum Meinungsstand in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung Schultzky/Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 124 Rn. 14). Entscheidend für die Mittellosigkeit ist der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 166 Rn. 14a). [...]