VG Trier

Merkliste
Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 08.04.2021 - 10 K 3215/20.TR - asyl.net: M29818
https://www.asyl.net/rsdb/m29818
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für transgeschlechtliche Person aus Pakistan:

Eine transgeschlechtliche Person, der aufgrund offen geführter Beziehungen mit Männern Homosexualität zugeschrieben wird, ist in Pakistan flüchtlingsschutzrelevanter Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt.

(Leitsätze der Redaktion; diese und weitere Entscheidungen zu LSBTI-Personen sind auch zu finden in der Rechtsprechungssammlung des LSVD)

Schlagwörter: Pakistan, homosexuell, intersexuell, transsexuell, transgender, LGBTI, Strafbarkeit, nichtstaatliche Verfolgung, Vorverfolgung, Diskretion, interner Schutz, unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Dies zugrunde gelegt, ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, da er als bekennender Trans- und Homosexueller in Pakistan einer Verfolgung jedenfalls durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt wäre, welche an einen Verfolgungsgrund i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anknüpft und gegen welche zu schützen der pakistanische Staat nicht hinreichend willens oder in der Lage ist, wobei für den Kläger keine interne Fluchtalternative besteht. [...]

Dem Kläger droht als bekennendem Trans- bzw. Homosexuellen in Pakistan nach Auffassung der Kammer durch die dortige Bevölkerung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung i.S.v. § 3a Abs. 1 AsylG. Dazu zählen sowohl Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention - EMRK- keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1) als auch solche, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffenen ist wie von einer schwerwiegenden Verletzung der grundlegenden Menschenrechte (Nr. 2). Zu den Artikeln, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK in keinem Fall abgewichen werden darf, gehört Art. 3 EMRK, der unmenschliche oder erniedrigende Behandlung verbietet. [...]

Nach der Überzeugung der Kammer ist der Kläger bei einer Rückkehr nach Pakistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer solchen zielgerichteten unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt. Auf eine eventuelle Vorverfolgung, die nach Art. 4 Abs. 4 Qualifikations-RL 2011/95/EU die Vermutung einer erneuten Verfolgung begründen würde, kommt es daher nicht an. Dabei reicht es zwar nicht aus, dass es sich bei dem Herkunftsland um ein "homophobes Land" handelt und es zu gesellschaftlicher Ausgrenzung und Stigmatisierung kommt (vgl. OVG Nds., Beschluss vom 18. Oktober 2013 - 8 LA 221/12 -, juris); die zielgerichtete unmenschliche und erniedrigende Behandlung durch die nichtstaatlichen Akteure muss vielmehr ein bestimmtes Maß erreichen. Dieses Maß wird jedoch im Falle einer Rückkehr des Klägers nach Pakistan nach der aktuell vorliegenden Sachlage voraussichtlich erreicht werden, da er in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen auf Ablehnung und Diskriminierung stoßen und einer allgegenwärtigen Gewalt ausgesetzt sein würde.

Wie sich sowohl aus den der Kammer vorliegenden Erkenntnismitteln als auch aus den Schilderungen des Klägers im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens ergeben hat, ist in der pakistanischen Bevölkerung eine stark homophobe Grundhaltung zu erkennen. Zwar unterliegen Homo- und Transsexuelle in Pakistan keiner Gruppenverfolgung, da ein staatliches Verfolgungsprogramm nicht vorliegt und auch die Gefahr einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure gering ist, da es jedenfalls an der notwendigen Verfolgungsdichte fehlt (vgl. OVG RP, Urteil vom 8. Juli 2020 - 13 A 10174/20.OVG, esovgrp, betr. homosexuelle Männer; VG Wiesbaden, Urteil vom 15. Dezember 2020 - 3 K 180/17.WI.A -, nicht veröffentlicht m.w.N.; VG Berlin, Urteil vom 17. August 2020 - 6 K 686.17 A -, juris; vgl. auch Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Pakistan vom 29. September 2020 - im Folgenden: AA -, S. 15 u. 19). Gleichwohl belegen die dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel vielfältige und häufige Übergriffe nichtstaatlicher Akteure im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG gegen Personen, die ihre Trans- und/oder Homosexualität offen ausleben (vgl. Schreiben der Bundesgeschäftsstelle des Lesben- und Schwulenverbandes Deutschland - LSVD - vom 14. Dezember 2020 zur Situation transgeschlechtlicher Personen in Pakistan). Die pakistanische Gesellschaft ist eine der homophobsten Bevölkerungen weltweit. Laut einer in 39 Ländern durchgeführten Studie ist Pakistan eines der Länder mit dem höchsten Bevölkerungsanteil, der sich gegen Homosexualität ausspricht (VG Berlin, Urteil vom 17. August 2020, a.a.O., m.w.N.).

Geschlechtsverkehr unter Männern wird nach den Erkenntnismitteln in Pakistan nur heimlich toleriert und im Übrigen nur geduldet, wenn er nicht als Ausdruck von Homosexualität, sondern etwa als erste sexuelle Erfahrung in der streng geschlechtergetrennten Gesellschaft wahrgenommen wird. Bisweilen werde über heimlichen homosexuellen Geschlechtsverkehr auch hinweggesehen, solange der Mann jedenfalls eine Frau heirate und dadurch niemand Traditionen oder die Religion in Frage stelle (VG Berlin, Urteil vom 17. August 2020, a.a.O., m.w.N.). Gleichwohl ist es Personen in Pakistan nicht möglich, sich öffentlich zu ihrer Trans- bzw. Homosexualität zu bekennen und entsprechend zu leben. Eine "LGBTI-Community" bestehe lediglich virtuell in den sozialen Medien oder im Untergrund. Lediglich Transsexuelle (wie Khusras) seien die einzige "sichtbare" sexuelle Minderheit in Pakistan. Homosexuelle hielten ihre sexuelle Orientierung indes geheim. Zwar sei die Akzeptanz von LGBTI-Personen in Lahore, Karachi und Islamabad größer als in anderen Regionen Pakistans. Medienberichten zufolge gibt es dort sogar eine "äußerst lebhafte schwule Subkultur", eine "schwule Partyszene" sowie eine Vielzahl schwuler "Hotspots". Homosexualität ist aber weiterhin nach § 377 des pakistanischen Strafgesetzbuches (PPC) als "gewollter unnatürlicher Geschlechtsverkehr" verboten, und die gesetzlich vorgesehenen Strafen werden auch tatsächlich verhängt (vergleiche AA, AO,

Demnach sind jedenfalls diejenigen Homosexuellen bzw. Transsexuellen, für die es ein inneres Bedürfnis ist, ihre Trans- bzw. Homosexualität auch öffentlich auszuleben, nach Auffassung der Kammer in Pakistan einer im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG - relevanten Verfolgung ausgesetzt (vgl. VG Trier, Beschluss vom 4. Februar 2021 -10 L 326/21.TR-, nicht veröffentlicht; VG Trier, Urteil vom 23. Juli 2020 - 10 K 534/19.TR -, nicht veröffentlicht, m.w.N., u.a. auf VG Gelsenkirchen, Urteil vom 5. Oktober 2016 2a K 5150/16.A , juris; eine flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgung für Angehörige dieser Gruppe im Einzelfall jedenfalls nicht ausschließend: OVG RP, Urteil vom 8. Juli 2020, a.a.O.).

In Pakistan steht gegen diese Übergriffe auch kein wirksamer Schutz zur Verfügung (§ 3c Nr. 3 Halbsatz 2 AsylG). Die gesellschaftliche Diskriminierung und Gewalt gegen Homosexuelle wird durch das Verhalten vieler staatlicher Akteure sogar verstärkt, da etwa Polizeibeamte das geltende Strafrecht für Übergriffe gegen Homosexuelle missbrauchen (vgl. AA, a.a.O., S. 15). In zahlreichen Fällen körperlicher Übergriffe und Todesdrohungen durch Familienangehörige erstatteten die homosexuellen Opfer keine Anzeige bei der Polizei aus Angst, aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verhaftet zu werden. Zudem wird berichtet, Polizeibeamte weigerten sich, Strafanzeigen von Homosexuellen entgegenzunehmen und entsprechende Straftaten aufzuklären (vgl. USDOS, a.a.O., S. 45). Zwar wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Für verfolgte Trans- oder Homosexuelle gibt es in Pakistan indes - wie dargelegt - keinen internen Schutz gegen Verfolgung im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG. Die beschriebene Verfolgungsgefahr von Homosexuellen besteht jedoch in allen Teilen Pakistans gleichermaßen, regionale Unterschiede sind dabei nicht erkennbar (vgl. VG Frankfurt [Oder], Urteil vom 4. Juni 2020 - 2 K 1297/16.A -, juris, m.w.N.). Es ist unerheblich, dass es - wie von der Beklagten dargelegt - Personen aus der oberen pakistanischen Mittelschicht, den Eliten und den intellektuellen Kreisen mitunter möglich sein soll, in Großstädten wie Lahore, Karachi oder Islamabad innerhalb bestimmter Gruppierungen, die ihre sexuelle Orientierung teilen oder tolerieren, "diskret und unter dem Radar" zu leben, denn kann von Homosexuellen bereits nicht verlangt werden, dass sie ihre sexuelle Orientierung lediglich innerhalb solcher Gruppierungen ausleben (vgl. VG Freiburg [Breisgau], Urteil vom 5. Oktober 2017 - A 6 K 4389/16 -, juris). Darüber hinaus existiert in Pakistan keine sich öffentlich bekennende LGBTI-Community, so dass auch in den pakistanischen Großstädten niemand seine sexuelle Orientierung in der Öffentlichkeit ausleben kann, obgleich die Akzeptanz von LGBTI-Personen dort größer ist als in anderen Regionen Pakistans. Hieran ändert auch nichts, dass der Kläger trotz seiner Androgynie von seinen Eltern in dem Bestreben, sich zu einer männlichen Geschlechtsidentität zu bekennen, unterstützt wurde, da diese Unterstützung sich nicht auf ein Bekenntnis zu seiner Homosexualität bezog.

Die Beklagte begründet ihre Entscheidung aber im Wesentlichen mit der Erwägung, bei einer diskreten Lebensweise seien Homo- und Transsexuelle in Pakistan nicht bedroht. Diese Argumentation verkennt jedoch die unionsrechtliche Bindung an die Grundsatzentscheidung des EuGH, von einem Asylantragsteller dürfe nicht erwartet werden, dass er seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden (vgl. EuGH, Urteil vom 7. November 2013, a.a.O.).

Jedenfalls ist nach der Erkenntnislage unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Klägers eine Verfolgung bei Rückkehr beachtlich wahrscheinlich. Seine Homosexualität, die seinen dringenden Wunsch nach einer über Sexualkontakte hinaus offen gelebten Beziehung zu einem Mann einschließt, ist wesentlicher Bestandteil seiner Identität. In Pakistan drohten im deswegen landesweit schwere Verletzungen seiner Rechte, welchen er nur durch ein Vermeidungsverhalten entgehen könnte. Ein solches ist ihm jedoch nicht zumutbar, da es mit seiner Identität unvereinbar wäre. [...]