VG Wiesbaden

Merkliste
Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 15.12.2020 - 3 K 180/17.WI.A - asyl.net: M29806
https://www.asyl.net/rsdb/m29806
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für transsexuelle Person aus Pakistan:

Eine Transfrau, der aufgrund offen geführter Beziehungen mit Männern Homosexualität zugeschrieben wird, ist in Pakistan flüchtlingsschutzrelevanter Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt.

(Leitsätze der Redaktion; Anm.: Das Gericht differenziert hier zwischen trans* und homosexuellen Personen, bei letzteren wird die Verfolgungsgefahr i.d.R. verneint, siehe OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 08.07.2020 - 13 A 10174/20.OVG (Asylmagazin 10-11/2020, S. 377 ff.) - asyl.net: M28842)

Schlagwörter: Pakistan, homosexuell, intersexuell, transsexuell, LGBTI, Strafbarkeit, nichtstaatliche Verfolgung, Vorverfolgung, Pakistan, Diskretion, interner Schutz, unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Zur Situation Transsexueller in Pakistan ist den in das vorliegende Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln Folgendes zu entnehmen:

Transsexualität ist in Pakistan nicht gesetzlich verboten. Die Gesellschaft grenzt Transgender jedoch generell aus und bezeichnet sie als "Hijra". Die Hijra sind eine alte und ausgegrenzte Gruppe in Pakistan, Indien und Bangladesch, deren Mitglieder als Männer geboren, sich jedoch mit der Seele einer Frau identifizieren. Es bedarf keinerlei physischer Übergänge wie Operationen, um in die Hijra-Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Hijras kleiden sich in der Regel wie Frauen. Die meisten von ihnen identifizieren sich weder als Männer noch als Frauen, sondern vielmehr als ein "drittes Geschlecht". Hijras sind in Pakistan rechtlich anerkannt, aber dennoch Außenseiter. Neben Tanzen auf Hochzeiten oder Segnung der Neugeborenen stellen Bettelei und Prostitution Einkommensquellen für die Hijras dar. Die Hijras sind im öffentlichen Leben anzutreffen. Sie unterliegen auch keiner systematischen Verfolgung. Die Zugehörigkeit zur Gruppe der Hijra bietet in gewissem Umfang Schutz und Unterstützung vor nichtstaatlicher Diskriminierung. Der pakistanische Staat hat in den letzten Jahren diverse Maßnahmen zum Schutz der Rechte von Transgender ergriffen. Im Jahr 2012 urteilte das Oberste Gericht, dass Transgender als "drittes Geschlecht" anerkannt und ihnen korrekte Personalausweise ausgestellt werden. Bei den 2013 durchgeführten Wahlen konnten Hijras erstmals als Kandidaten und Wähler teilnehmen. Im Jahr 2016 ordnete der oberste Gerichtshof an, Transgender-Personen durch soziale Wohlfahrtsprogramme wie Benazir lncome Support Programms und das Bait-ul-Mal finanziell zu unterstützen. Im Jahr 2017 wurde erstmals ein Reisepass mit der Angabe Transgender als Geschlecht ausgestellt und bei der Volkszählung gab es auf den Erhebungsbögen die Wahlmöglichkeit für das dritte Geschlecht. 10.418 Personen (ca. 0,05% der Gesamtbevölkerung) deklarierten sich dabei als Transgender. Nach Angaben der lokalen Interessenvertretung Trans Action leben etwa 500.000 Transgender-Personen in Pakistan. Im April 2018 wurde in Lahore eine Schule eröffnet, in der Transsexuelle aller Altersgruppen Schulbildung und berufliche Fortbildung absolvieren können. So soll auch Erwachsenen, denen bisher Bildung verwehrt wurde, der Zugang zu einem Erwerbseinkommen erleichtert werden. Die Eröffnung weiterer solcher Schulen in Karachi und Islamabad ist für die Zukunft geplant. Im Juni 2016 wurde von einer Gruppe religiöser Führern ein Urteil ("Fatwa") gesprochen, welches Transgender-Personen erlaubt, andere Transgender-Personen zu heiraten. Doch ist diese "Fatwa" rechtlich nicht bindend. Der konservative Rat für islamische Lehre in Pakistan stellte sich hinter Transsexuelle, indem er Familien kritisierte, die Transsexuelle verstoßen und enterben worden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt vom 31. Juli 2018, S. 128 ff.).

Etwas anderes gilt aber für Trans- und Homosexuelle, die ihre Sexualität in einer verfolgungsrelevanten Weise offen leben. Für diese Personen besteht in Pakistan ein reales Verfolgungsrisiko.

Ein offen trans- und homosexuell lebender Mann ist in Pakistan ohne interne Schutzmöglichkeiten homophoben Übergriffen durch staatliche wie insbesondere durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass von dem Asylbewerber eine Geheimhaltung seiner Homosexualität im Herkunftsland oder Zurückhaltung nicht erwartet werden darf (vgl. EuGH, Urteil vom 07. November 2013 – C-199/12 - bis C-202/12 - , BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 22. Januar 2020 - 2 BvR 1807/19 -). Es wäre vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts schlechthin unvertretbar und würde die Willkürschwelle überschreiten, wenn einem homosexuellen Asylsuchenden gemäß § 3e AsylG asylrechtlicher Schutz unter Verweis auf die Möglichkeit, seine homosexuelle Orientierung im Herkunftsstaat geheim zu halten, versagt werden würde. Insbesondere kann der Kläger auch nicht auf eine geschlechtsumwandelnde Operation verwiesen werden.

Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger - aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls - einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]