VG Lüneburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 18.03.2021 - 2 A 68/18 - asyl.net: M29757
https://www.asyl.net/rsdb/m29757
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für einen psychisch erkrankten jungen Mann aus der Russischen Föderation:

1. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG liegt vor. Die diagnostizierten psychischen Erkrankungen (PTBS, rezidivierende depressive Störung, Asperger-Syndrom) sind zwar grundsätzlich auch in der Russischen Föderation behandelbar. Der Zugang zu einer steten professionellen Behandlung ist jedoch im vorliegenden Fall nicht möglich. Denn eine aus dem Ausland zurückkehrende Person muss die Versicherungspolice bei den Sozialbehörden erneut beantragen. Dies ist dem Kläger aufgrund seiner eingeschränkten Selbständigkeit nicht möglich.

2. Es liegt auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vor, da der Kläger die bürokratischen Hürden beim Zugang zu staatlichen Sozialleistungen aufgrund seiner Erkrankungen allein nicht überwinden könnte.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Russische Föderation, psychische Erkrankung, Entwicklungsstörung, Asperger-Syndrom, medizinische Versorgung, Suizidgefahr, Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Sozialleistungen,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG, § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Ausgehend von diesen Maßstäben ist im vorliegenden Einzel(all ein Abschiebungsverbot in Bezug auf die Russische Föderation anzunehmen. Zur Überzeugung der Einzelrichterin steht fest, dass der Kläger in der Russischen Föderation nicht in der Lage wäre, das eigene Überleben auf Basis des Existenzminimums zu sichern und ein Obdach zu finden. Zwar ist der Kläger gut gebildet; er hat in der Russischen Föderation das Abitur absolviert und in Deutschland das Studium der Rechtswissenschaften in ... aufgenommen. Dennoch ist aus Sicht der Einzelrichterin nicht hinreichend sichergestellt, dass der Kläger sein Existenzminimum durch die Aufnahme einer Arbeit in seinem Heimatland sicherstellen könnte. Bei dem Kläger liegt ausweislich der vorgelegten ärztlichen Unterlagen eine tiefgreifende  Entwicklungsstörung vor. Er leidet unter einem Asperger-Autismus (ICD 10: F84.5), einer Posttraumatischen Belastungsstörung (ICD 10: F 43.1) sowie einer Rezidivierenden Depressiven Störung (ICD 10: F 33.1). Die Dipl.-Psych. … führt in ihrem Attest vom ... 2021 aus, dass der  Kläger aufgrund der tiefgreifenden Entwicklungsstörung im Sinne des Asperger-Autismus und dem komplexen Symptomkomplex mit depressiver und angstbezogener Symptomatik nicht in der Lage sei, einen Studienort außerhalb der familiären Umgebung wahrzunehmen. Der Kläger zeige einen chronischen Störungsverlauf, so gelinge es ihm einerseits, sein Studium der Rechtswissenschaften zu beginnen, gleichzeitig habe er keine Möglichkeit sich von aktuellen bestehenden Lebensumständen zu distanzieren. Auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung bestätigte der Kläger dies. Er gab an, dass er in außergewöhnlichem Umfang auf die Hilfe und Unterstützung durch seine Familie angewiesen sei und ihn kleinste Veränderungen des Tagesablaufs, und sei es auch nur ein verrücktes Möbelstück, vollkommen verunsichern würden und zu Panikattacken führten. Er sei auch bei Dingen des alltäglichen Lebens auf die Mithilfe durch seine Familie angewiesen; so unterstütze ihn beispielsweise sein Bruder bei alltäglichen verkehrlichen Situationen. Zudem sei er in außergewöhnlichem Umfang auf einen routinierten Ablauf angewiesen.

Vor diesem Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass es dem Kläger gelingen würde, im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland eigenständig eine Arbeit aufzunehmen, um damit sein Existenzminimum zu sichern. Er wäre dann nicht nur örtlich von seiner Familie, auf dessen Unterstützung er nach seinen glaubhaften Angaben außergewöhnlich angewiesen ist, getrennt, sondern er wäre darüber hinaus auch in einem anderen Land, nämlich seinem Heimatland, mit welchem er nach eigenen Angaben traumatische Ereignisse verbindet. Letzteres hätte bei lebensnaher Betrachtung zusätzliche negative Auswirkungen auf den Kläger, als dass davon auszugehen ist, dass sich die psychische Situation des Klägers im Falle einer Rückkehr erneut verschlechtern würde, was wiederum Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit des Klägers hätte. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass die Erkrankungen des Klägers in der Russischen Föderation grundsätzlich behandelbar sind (vgl. nur Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, 16.12.2019, S. 21, im Folgenden Lagebericht 16.12.2019; Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Moskau an das Sächs. OVG vom 31.1.2018). Denn aufgrund des diagnostizierten Krankheitsbildes ist nicht hinreichend gewährleistet, dass der Kläger eigenständig (ohne Unterstützung durch seine Familie) ärztliche Hilfen in seinem Heimatland in Anspruch nehmen würde und könnte. Überdies ist nicht hinreichend sichergestellt, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr eine Unterkunft findet. Bürger/innen ohne Unterkunft oder mit einer unzumutbaren Unterkunft und sehr geringem Einkommen können zwar kostenfreie Wohnungen beantragen. Dennoch ist dabei mit Wartezeiten von einigen Jahren zu rechnen. Es gibt in der Russischen Föderation keine Zuschüsse für Wohnungen (vgl. nur Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt vom 27.3.2020, S. 102). Die Russische Föderation verfügt zwar über ein reguläres Sozialversicherungs-, Wohlfahrts- und Rentensystem. Alle Sozialleistungen liegen aber auf einem niedrigen Niveau (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt vom 27.03.2020, S. 100). Leistungen hängen von der spezifischen Situation der Personen ab; eine finanzielle Beteiligung der Profitierenden ist nicht notwendig. Alle Leistungen stehen auch Rückkehrern offen. Die erfolgte Registrierung legalisiere den Aufenthalt und ermögliche den Zugang zu Sozialhilfe, staatlich geförderten Wohnungen und zum kostenlosen Gesundheitssystem sowie zum legalen Arbeitsmarkt (vgl. BayVGH, Urt. v. 23.7.2014 - 19 B 12.1073 -, juris Rn. 87). Arbeitnehmer/innen mit einem Behindertenstatus haben das Recht auf eine Behindertenrente. Dies gilt unabhängig von der Ursache der Behinderung. Diese wird für die Dauer der Behinderung gewährt oder bis zum Erreichen des normalen Rentenalters (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt 27.3.2020, S. 99 ff.). Diese grundsätzlich gegebenen staatlichen Hilfen führen im vorliegenden Einzelfall zu keiner abweichenden Beurteilung. Denn dass der Kläger eigenständig (ohne familiäre Hilfe) in der Lage wäre, die staatlich gegebenen Hilfen in Anspruch zu nehmen, ist angesichts des diagnostizierten Krankheitsbildes nicht hinreichend sichergestellt. [...]

Aus den vorgelegten Attesten ergibt sich, dass der Kläger an einer Posttraumatischen Belastungsstörung, einer Rezidivierenden Depressiven Störung sowie einem Asperger-Syndrom leidet. Zwar erreicht eine posttraumatische Belastungsstörung nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/7538, S. 18) den für die Annahme eines Abschiebungsverbots erforderlichen Schweregrad regelmäßig nicht. Hier liegt aber ein Ausnahmefall vor, denn die Abschiebung des Klägers würde bei ihm zu einer wesentlichen Gesundheitsgefährdung bis hin zu einer Selbstgefährdung führen. [...]

Die diagnostizierten Erkrankungen würden sich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei Rückkehr des Klägers in die Russische Föderation wesentlich verschlechtern und zu einer konkreten Gefahr führen. Ausweislich der jüngsten Atteste bedarf die Erkrankung des Klägers steter professioneller Behandlung, die zu erreichen dem Kläger in Russland nicht möglich sein wird. Zwar ist die Erkrankung des Klägers grundsätzlich auch in .der Russischen Föderation behandelbar. Die medizinische Versorgung in Russland ist aber auf einfachem Niveau und nicht überall ausreichend. Es gibt einen dringenden Ärztemangel. So ist 2011 und 2016 die Zahl der Krankenhäuser um 50% und die der Ärztezentren um 13% gesunken. Besonders schlecht ist die Situation auf dem Land. Nicht einmal 33% der Ortschaften haben direkten Zugang zu medizinischer Versorgung (Lagebericht, 2019, S. 21). Insbesondere in der psychiatrischen Versorgung ist ein signifikanter Mangel an Fachkräften zu verzeichnen. So ist nach Angaben aus dem Jahr 2012 in Tschetschenien das Republican Psychoneurological Dispensary die Hauptinstitution für psychologische Beratung (counselling assistance) in Grosny. Sämtliche Patientinnen und Patienten in Tschetschenien suchen zunächst diese Institution auf. Indes arbeitet laut Angaben der Independent Psychiatric Association of Russia im März 2015 in dieser Institution nur eine Psychotherapeutin (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Tschetschenien: Gesundheitswesen und Behandlung psychischer Erkrankungen und Störungen, 8.9.2015, S. 13). Soweit in dieser Lage für den Kläger überhaupt Behandlungskapazitäten bestehen, ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger diese erreichen könnte. Zwar haben grundsätzlich alle Staatsbürger im Rahmen der staatlich finanzierten, obligatorischen Krankenversicherung ("OMS") Zugang zu einer kostenlosen medizinischen Versorgung; dabei ist jeder Staatsbürger, auch ein Rückkehrer, und egal ob er einer Arbeit nachgeht oder nicht, von der Pflichtversicherung erfasst. Ein Recht auf eine kostenlose medizinische Grundversorgung ist in der Verfassung verankert. Bei stationärer Behandlung ist die Versorgung mit Medikamenten sowie bei Notfallbehandlungen kostenlos. In der Praxis ist aber zu berücksichtigen, dass Korruption im Gesundheitssektor weit verbreitet ist und vielfach informelle Zahlungen verlangt werden. Auch Kosten für Medikamente müssen deshalb meist durch Patientinnen und Patienten getragen werden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt, S. 96 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Russland: Stationäre psychiatrische Behandlungen, Auskunft, 24.6.2015, S. 10). Zudem muss eine aus dem Ausland zurückkehrende Person die Versicherungspolice bei den Sozialbehörden erneut beantragen. Um in den Genuss einer möglichen kostenfreien oder subsidiären Behandlung und Medikation kommen zu können, kann ein Patient eine Invalidität beantragen, was eine persönliche Vorstellung vor einer medizinischen Kommission erfordert, welche den Grad der Beeinträchtigung feststellt (vgl. Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Moskau an das Sächs. OVG vom 31.1.2018, Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Stade vom 2.9.2019). Angesichts der eingeschränkten Selbständigkeit des Klägers (insbesondere aufgrund des diagnostizierten Asperger-Autismus) ist nicht hinreichend sichergestellt, dass er sich alleine, ohne familiäre Unterstützung, registrieren und sodann entsprechende Nachweise beantragen könnte. [...]