OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 25.02.2021 - 7 A 10826/20 - asyl.net: M29724
https://www.asyl.net/rsdb/m29724
Leitsatz:

Rechtmäßigkeit der Ausweisung eines mit Drogen in Konflikt geratenen Ausländers

1. Zur Rechtmäßigkeit einer Ausweisung eines im Bereich der schweren Betäubungsmittelkriminalität straf­fällig gewordenen Ausländers der sogenannten zweiten Generation nach einem langjährigen legalen Aufenthalt (Rn.35).

2. Der faktische oder erklärte "Verzicht" auf die Ausweisung führt grundsätzlich zu einem "Verbrauch" des aktuellen Ausweisungsgrundes. Der dem Ausländer dadurch vermittelte Vertrauensschutz steht jedoch unter dem Vorbehalt, dass sich die für die behördliche Entscheidung maßgeblichen Umstände nicht ändern. Sieht die Behörde anlässlich der strafgerichtlichen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist, von der Ausweisung ab, ist in der Regel davon auszugehen, dass sie sich die Überprüfung dieser Entscheidung für den Fall des Widerrufs der Strafaussetzung vorbehält (im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 16. November 1999 – 1 C 11/99 –, juris Rn. 20) (Rn.45).

3. Bei der Prognose zur Wiederholungsgefahr sind Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte an die Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte rechtlich nicht gebunden. Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 StGB sind zwar von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der ausländerrechtlichen Prognose ein wesentliches Indiz dar. Von ihnen geht aber keine Bindungswirkung aus (Rn.50).

4. Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (Rn.58).

5. Bei Ausländern der zweiten Ausländergeneration ist regelmäßig anzunehmen, dass sie die Muttersprache ihrer Eltern erlernt haben und zumindest in Grundzügen noch beherrschen (Rn.82).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, Straftat, Drogendelikt, Vertrauensschutz, faktischer Inländer, Bewährung, Resozialisierung,
Normen: AufenthG § 53, AufenthG § 54, AufenthG § 55, EMRK Art. 8, StGB § 57,
Auszüge:

[...]

44 a. Es liegt ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor, da der Kläger wegen mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist. [...]

45 Es liegt auch kein Verbrauch des Ausweisungsgrundes aus dem Jahr 2009 durch die im Anschluss unterlassene Ausweisung vor. Zwar wird der faktische oder erklärte "Verzicht" auf die Ausweisung grundsätzlich zu einem "Verbrauch" des aktuellen Ausweisungsgrundes führen. Der dem Ausländer dadurch vermittelte Vertrauensschutz steht jedoch unter dem Vorbehalt, dass sich die für die behördliche Entscheidung maßgeblichen Umstände nicht ändern. Sieht die Behörde anlässlich der strafgerichtlichen Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist, von der Ausweisung ab, ist in der Regel davon auszugehen, dass sie sich die Überprüfung dieser Entscheidung für den Fall des Widerrufs der Strafaussetzung vorbehält (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 1999 – 1 C 11/99 –, juris, Rn. 20). [...]

46 b. Der Kläger kann sich demgegenüber auf gesetzlich typisierte Bleibeinteressen berufen. Er kann ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs.1 Nr. 1 und 2 AufenthG geltend machen, da er seit dem 13. Oktober 2000 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis und seit dem 1. Januar 2015 einer Niederlassungserlaubnis ist und sich daher über viele Jahre rechtmäßig in der Bundesrepublik aufhält. Zudem wiegt das Bleibeinteresse auch deswegen besonders schwer, weil der Kläger, der im Alter von einem Jahr in die Bundesrepublik eingereist ist, seine wesentliche Prägung im Bundesgebiet erfahren hat (vgl. BayVGH, Beschluss vom 4. April 2017 – 10 ZB 15.2062 – juris, Rn. 35 m.w.N.; EGMR, Urteil vom 13. Oktober 2011 – Nr. 41548/06 – Trabelsi, juris, Rn. 53 f.). Allerdings verhindert auch dieser Umstand nicht von vornherein seine Ausweisung, sondern erfordert lediglich eine Abwägung der besonderen Umstände des Betroffenen und des Allgemeininteresses im jeweiligen Einzelfall (vgl. BayVGH, Beschluss vom 4. April 2017 – 10 ZB 15.2062 – juris, Rn. 35 m.w.N.). [...]

49 bb. Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs und insbesondere der jüngsten Entwicklungen ist die hinreichende Wahrscheinlichkeit der Begehung vergleichbarer Straftaten beim Kläger gegeben.

50 Zunächst führt allein der Umstand, dass die Reststrafe der letzten Verurteilung vom 24. März 2015 mit Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 16. November 2017 zur Bewährung ausgesetzt worden ist, nicht bereits für sich genommen zum Ausschluss der Wiederholungsgefahr. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts treffen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr. Dabei sind sie an die Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte rechtlich nicht gebunden. Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 Strafgesetzbuch – StGB – sind zwar von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der ausländerrechtlichen Prognose ein wesentliches Indiz dar. Von ihnen geht aber keine Bindungswirkung aus (vgl. BVerwG, Urteile vom 28. Januar 1997 – 1 C 17/94 –, juris, und vom 15. Januar 2013 – 1 C 10/12 –, juris, Rn. 18).

51 Dies folgt aus den unterschiedlichen Zwecken der vorzeitigen Haftentlassung und Ausweisung, die deshalb unterschiedlichen Regeln unterliegen: Bei Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit gegebenenfalls unter Auflagen "offen" inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Bei dieser Entscheidung stehen naturgemäß vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund; zu ermitteln ist, ob der Täter das Potenzial hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Die der Ausweisung zugrunde liegende Prognoseentscheidung bezieht sich demgegenüber nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen. Bei dieser längerfristigen Prognose kommt dem Verhalten des Betroffenen während der Haft und nach einer vorzeitigen Haftentlassung zwar erhebliches tatsächliches Gewicht zu. Dies hat aber nicht zur Folge, dass mit einer strafrechtlichen Aussetzungsentscheidung ausländerrechtlich eine Wiederholungsgefahr zwangsläufig oder zumindest regelmäßig entfällt (vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2013 – 1 C 10/12 –, juris, Rn. 19). [...]

58 Auch sein überwiegend positives Verhalten in der Haft und sein mehrfach geäußerter Therapiewille lassen die Wiederholungsgefahr nicht entfallen. Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (vgl. BayVGH, Beschluss vom 29. Mai 2018 – 10 ZB 17.1739 – juris, Rn. 9). Wohlverhalten kommt insbesondere dann nur begrenzte Aussagekraft zu, wenn es unter der Kontrolle des Strafvollzugs und unter dem Druck eines Ausweisungsverfahrens steht (vgl. BayVGH, Beschluss vom 13.Oktober 2017 – 10 ZB 17.1469 – juris, Rn. 12). Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. hierzu BayVGH, Beschlüsse vom 29. Mai 2018 – 10 ZB 17.1739 – juris, Rn. 9 m.w.N. und vom 11. März 2020 – 10 ZB 19.777 –, juris, Rn. 9). [...]

69 aa. Die Ausweisung begründet hier einen Eingriff in das Grundrecht des Klägers aus Art. 2 Abs. 1 GG auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und in Art. 8 Abs. 1 EMRK (vgl. hierzu EGMR, Urteil vom 23.Juni 2008 – 1638/03, Maslov II –, BeckRS 2009, 70641, Rn. 61; Urteil des Senats vom 4. Dezember 2009 – 7 A 10881/09.OVG –, juris, Rn. 34 und Beschluss vom 3. Mai 2012 – 7 A 11425/11.OVG –, juris, Rn. 7). [...]

72 bb. Nach diesen Maßgaben ist die Ausweisung des Klägers trotz seines langjährigen legalen Aufenthaltes und seiner familiären Bindungen im Bundesgebiet verhältnismäßig. [...]