VG Chemnitz

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Zitieren als:
VG Chemnitz, Urteil vom 03.05.2021 - 5 K 156/18.A - asyl.net: M29717
https://www.asyl.net/rsdb/m29717
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für eine Familie aus Venezuela mit zwei minderjährigen Kindern:

1. Aufgrund der allgemeinen Lebensbedingungen in Venezuela könnten die Eltern zwar für sich selbst, aber nicht für ihre beiden minderjährigen Kinder ein ausreichendes Existenzminimum sicherstellen. Da eine Rückkehr nur im Familienverbund realistisch ist, ist für alle ein Abschiebungsverbot festzustellen.

2. Kein Abschiebungsverbot für das dritte, inzwischen volljährig gewordene Kind, da dieses als junge, gesunde und arbeitsfähige Person ein ausreichendes Existenzminimum für sich selbst erwirtschaften kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Venezuela, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, Kind, Kinder, minderjährig,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

(bb) Es liegen Erkenntnisse vor, wonach die humanitären Bedingungen in Caracas, in anderen größeren Städten, aber auch in der Heimatregion der Kläger zu 1, zu 2, zu 4 und zu 5 bzw. in Venezuela so schlecht sind, dass sie sich einer extremen Gefahr für Leib oder Leben gegenübersehen würden. Die allgemeinen Lebensbedingungen in Venezuela sind geprägt von einer schwierigen wirtschaftlichen Situation und Versorgungslage sowie von prekären humanitären Gegebenheiten. Nach Lage der Erkenntnismittel leidet Venezuela an einer schweren wirtschaftlichen und humanitären Krise. Venezuela erlebt eine Phase der Hyperinflation bzw. seit 2019 eine chronische Inflation mit Episoden von Hyperinflation, die die Kaufkraft der Bevölkerung schmälert und die Beschaffung von Nahrungsmitteln, Arzneimitteln und weiteren Grundversorgungsgütern erschwert (EASO, Venezuela Länderfokus, August 2020, S. 19). Die Nahrungsmittel in Venezuela sind knapp, die Lebensmittelversorgung ist prekär und die Teuerungsrate für Nahrungsmittel steigt weiter. Der staatlich festgelegte Mindestlohn ist nicht geeignet, ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern. 80 Prozent der Venezolaner können sich eine ausreichende Grundnahrung nicht leisten (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Venezuela vom 13.12.2019, S. 31). 95 Prozent der Haushalte leben in Armut und 79 Prozent der Haushalte in extremer Armut (EASO, a.a.O., S. 20). Die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Elektrizität ist mangelhaft (EASO, a.a.O., S. 49 ff.). Je nach Quelle wird die Arbeitslosenquote unterschiedlich angegeben. Den Angaben des Präsidenten Nicolas Maduro im Januar 2020 zufolge betrug die Arbeitslosenquote 6 Prozent, während der IWF die Quote für 2020 auf 35,5 Prozent veranschlagte. Der ENCOVI war zu entnehmen, dass sich die Arbeitslosenquote bei Personen über 15 Jahre alt auf 44 Prozent beläuft (EASO, a.a.O., S. 20 m.w.N.). Die bereits bestehenden großen Probleme an Lebensmittelsicherheit, Gesundheitsversorgung und genereller wirtschaftlicher Krise sind durch die Covid-19-Pandemie massiv verstärkt worden, zumal gerade die besonders hart getroffenen Gruppen üblicherweise auf Tageslohnarbeiten angewiesen sind (BAMF, Länderinformation Gesundheitssystem und COVID-19-Pandemie, Stand November 2020, S. 3 f.). Es mag daher sein, dass insbesondere die wirtschaftliche und finanzielle Situation der Menschen in Venezuela schlecht ist. Diese allgemeine Lage in Venezuela führt jedoch nicht ohne weiteres dazu, dass eine Abschiebung zwingend eine Verletzung von Art. 3 EMRK nach sich ziehen würde und jeder Rückkehrer generell in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit den Tod oder schwerste Gesundheitsschäden bei einer Rückführung nach Venezuela erleiden müsste. Eine schwierige soziale und wirtschaftliche Lage begründet nicht ohne Weiteres ein Abschiebungsverbot Die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK auf Grund der bestehenden humanitären Versorgungslage sind demnach nach Auffassung des Einzelrichters im Falle der Rückkehr leistungsfähiger, erwachsener Personen ohne faktische Unterhaltsverpflichtungen - auch ohne familiäres oder soziales Netzwerk - nicht erfüllt, sofern nicht spezifische individuelle Einschränkungen oder Handicaps festgestellt werden können. Das Gericht geht daher hinsichtlich Venezuelas von dem Grundsatz aus, dass eine gesund und arbeitsfähige Person ihren eigenen Lebensunterhalt noch selbst sichern kann.

Die Kläger zu 1, zu 2, zu 4 und zu 5 entsprechen nicht dem vorgenannten Bild der alleinstehenden gesunden und leistungsfähigen Person, die bei einer Rückkehr nach Venezuela ihre Existenz sichern kann. Den Klägern zu 1 und zu 2 dürfte es bei einer Rückkehr allenfalls noch gelingen, durch Arbeit das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige zu erlangen. In ihrer Person liegen keine besonderen Umstände vor, welche in der gebotenen Gesamtschau die Prognose rechtfertigen würden, dass er sich bei einer angenommenen Rückkehr nach Venezuela auch ein Leben am Rande des Existenzminimums nicht wird sichern können. Spezifische Einschränkungen oder Handicaps, die ihre Erwerbsfähigkeit wesentlich einschränken würden, sind nicht glaubhaft gemacht. Insbesondere heißt es in den beiden aktuellen ärztlichen Attesten vom 12.4.2021, betreffend die Kläger zu 1 und zu 2, dass die Folgen bei Nichtbehandlung "nicht absehbar" seien. Die Kläger zu 1 und zu 2 haben bereits vor ihrer Ausreise gezeigt, dass sie trotz der widrigen Lebensbedingungen in Venezuela in der Lage war, sich Verdienstmöglichkeiten zu erschließen. Das Gericht geht deshalb davon aus, dass es den Klägern zu 1 und zu 2 - trotz des angespannten Arbeitsmarktes - möglich sein wird, einer Beschäftigung nachzugehen und sich die erforderlichen Mittel durch die Aufnahme einer existenzsichernden Tätigkeit zu erwirtschaften. Allerdings wird damit nicht der Unterhalt für die minderjährigen Kläger zu 4 und zu 5 sichergestellt. Auf tragfähige familiäre Verbindungen können die Kläger nach den Erkenntnissen in der mündlichen Verhandlung nicht zurückgreifen. Selbst bei ernsthaftem Bemühen auch nach einer Übergangszeit wird es den Kläger zu 1 und zu 2 daher nicht gelingen den Lebensunterhalt für sich und die Kläger zu 4 und zu 5 selbstständig sichern zu können. [...]