VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Beschluss vom 28.05.2021 - A 8 K 424/21 (Asylmagazin 7-8/2021, S. 288 f.) - asyl.net: M29703
https://www.asyl.net/rsdb/m29703
Leitsatz:

Besondereres Begründungserfordernis bei Ablehnung subsidiären Schutzes als offensichtlich unbegründet, wenn der Schutzantrag auch auf allgemeine Verhältnisse im Herkunftsland gestützt wird:

"[...] 1. Ein Asylantrag kann nur dann als offensichtlich unbegründet i.S.d. § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG abgelehnt werden, wenn die Voraussetzungen dieser Vorschrift für alle vorgebrachten, selbstständig tragenden Verfolgungsgründe erfüllt sind.

2. Bei der Berufung auf allgemeine Verhältnisse im Herkunftsland, die grundsätzlich auf einen Schutzanspruch nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG führen können, bedarf das Offensichtlichkeitsurteil nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG daher regelmäßig einer besonderen Begründung."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Mali, offensichtlich unbegründet, subsidiärer Schutz, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Begründungserfordernis,
Normen: AsylG § 30 Abs. 3 Nr. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

28 Wird ein Schutzersuchen neben individuellem Vorbringen des Betroffenen auch auf allgemeine Gründe gestützt und ist das individuelle Vorbringen des Betroffenen nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet abzulehnen, so steht damit noch nicht fest, dass Gleiches auch für die allgemeinen Gründe gilt. Das Tatbestandsmerkmal "Punkte" nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hat insoweit besondere Bedeutung, als damit deutlich gemacht wird, dass die Voraussetzungen der Bestimmung zumindest dann, wenn der Schutzsuchende mehrere Verfolgungsgründe geltend gemacht hat, für alle wesentlichen, selbstständig zu beurteilenden Verfolgungsgründe erfüllt sein müssen (Funke-Kaiser/Fritz/Vormeier, GKAsylG (Lfg. 113/01.10.2017), § 30 AsylG Rn. 65; a.A. Kluth/Heusch, BeckOK AuslR (29. Ed./01.04.2021), § 30 AsylG Rn. 36). Jeder selbstständig geltend gemachte Verfolgungsgrund muss offensichtlich unbegründet sein (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht (13. Auflage 2020), § 30 AsylG Rn. 7). Erwägungen zur offensichtlichen Unbegründetheit des individuellen Vorbringens rechtfertigen es daher nicht ohne Weiteres, den Asylantrag auch im Hinblick auf die Gewährung subsidiären Schutzes z.B. nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht lediglich als "einfach" unbegründet, sondern als offensichtlich unbegründet abzulehnen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.06.2017 - 2 BvR 1353/17 -, juris).

29 Wird der Antrag im Hinblick auf den individuellen Vortrag eines Schutzsuchenden gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet qualifiziert, darf eine Ablehnung des Antrags insgesamt als offensichtlich unbegründet vielmehr nur dann erfolgen, wenn dies auch für die weiteren geltend gemachten selbstständigen Verfolgungsgründe gilt, die über den individuellen Vortrag hinausgehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.05.2000 - 2 BvR 349/97 -, juris Rn. 5). Zu schlüssigem Vortrag ist der Schutzsuchende jedoch nur hinsichtlich seines persönlichen Bereichs verpflichtet, so dass ihm ein Vortrag i.S.d. § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG hinsichtlich allgemeiner Verhältnisse im Herkunftsland regelmäßig kaum wird entgegengehalten werden können (vgl. zu dieser Differenzierung Funke-Kaiser/Fritz/Vormeier, GK-AsylG (Lfg. 113/01.10.2017), § 30 AsylG Rn. 66 ff.).

30 b) Nach diesen Maßstäben ist hier die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung anzuordnen. Denn die Antragsgegnerin hat den Asylantrag auch bezogen auf die Gewährung subsidiären Schutzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt, ohne die Offensichtlichkeitsentscheidung mit Blick auf § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG tragfähig gesondert zu begründen.

31 Der Bescheid des Bundesamts enthält zwar ausführliche Erwägungen dazu, weshalb das individuelle Vorbringen des Antragstellers zum Verfolgungsgeschehen als in wesentlichen Punkten nicht substantiiert und in sich widersprüchlich zu erachten und der Asylantrag deshalb nach § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG als offensichtlich unbegründet abzulehnen sei. Diese Erwägungen sind jedoch nicht geeignet zu begründen, dass der Asylantrag auch im Hinblick auf die Gewährung subsidiären Schutzes wegen ernsthafter individueller Bedrohung einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht lediglich "einfach" unbegründet, sondern – mit den sich aus § 36 AsylG ergebenden asylverfahrensrechtlichen Konsequenzen – offensichtlich unbegründet sein soll. Denn insoweit geht es um allgemeine Gründe für das Schutzersuchen, die nicht mit dem individuellen Vortrag des Beschwerdeführers zusammenhängen.

32 Hinsichtlich dieser Gründe lässt sich keineswegs festhalten, dass an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Bundesamts vernünftigerweise kein Zweifel bestehen könne und sich die Ablehnung (auch) des Antrags auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG geradezu aufdränge: Die Sicherheitslage in Mali ist insgesamt angespannt (eingehend hierzu, insbesondere auch zu den Unruhen im Jahr 2020, dem anschließenden Militärputsch und den eingeleiteten Stabilisierungsmaßnahmen: UN Security Council, Situation in Mali (Report of the Secretary-General, 29.09.2020)). In allen Regionen kommt es – mit höchst unterschiedlicher Intensität – nach wie vor zu willkürlicher Gewalt sowie auch zu Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Organe (vgl. z.B. für den exzessiven Gewalteinsatz bei Demonstrationen in Bamako mit mehreren Todesopfern im Juli 2020: UN Security Council, Situation in Mali (Report of the Secretary-General, 29.09.2020), S. 11). Zuletzt hat sich die Sicherheitslage insbesondere in den im Zentrum des Landes gelegenen Provinzen Mopti und Ségou weiter verschlechtert (hierzu und zum Folgenden UN Security Council, Situation in Mali (Report of the Secretary-General) vom 28.12.2020, S. 8 ff., und vom 26.03.2021, S. 6 ff.; UNHCR, Position on Returns to Mali – Update II (01.07.2019), S. 3 f.; zur Provinz Mopti als Zentrum des Konflikts und zu den maßgeblichen Akteuren EASO, COI Query: Armed groups, Security situation, Internal displacement situation in Mopti Region between 1 June-30 November 2020 (17.12.2020)). [...]

34 Zivilpersonen sind auch weiterhin die Hauptopfer von Angriffen der bewaffneten und gewalttätigen extremistischen Gruppen. [...]

35 Hinzu kommt, dass der Generalsekretär des Präsidialamtes am 14.05.2021 ohne Angabe von Gründen die Auflösung der nach dem Militärputsch im August 2020 eingesetzte Übergangsregierung bekanntgab und Regierungschef Moctar Ouane mit der Bildung einer neuen Übergangsregierung beauftragt wurde (BAMF, Briefing Notes vom 17.05.2021). Anschließend wurden Übergangspräsident Bah Ndaw und Regierungschef Moctar Ouane von Offizieren festgenommen und in eine Militärbasis gebracht. Sie gaben sodann ihren Rücktritt bekannt, was auf einen erneuten Militärputsch hindeutet (vgl. z.B. www.faz.net/aktuell/politik /ausland/putsch-in-mali-spitze-der-uebergangsregierung-tritt-zurueck-17359683.html, abgerufen am 26.05.2021), dessen Folgen für die Sicherheitslage im Land und die Intensität des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts noch gar nicht absehbar sind. [...]