Zur Vermutung der Fluchtgefahr bei vorheriger Entziehung von der Abschiebung:
"Der Vermutungstatbestand des § 62 Abs. 3a Nr. 5 AufenthG [für Fluchtgefahr bei bereits erfolgter Entziehung von der Abschiebung] setzt voraus, dass der Betroffene eine konkrete, auf seine Abschiebung gerichtete Maßnahme der Behörde vereitelt hat"
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
14 b) Die Haftanordnung ist aber rechtswidrig, weil sie auf einer unzureichenden Tatsachengrundlage beruht und dieser Verstoß gegen § 26 FamFG im Beschwerdeverfahren nicht geheilt worden ist und auch nicht mehr geheilt werden konnte.
15 aa) Die Haftgerichte sind auf Grund von Art. 20 Abs. 3 und Art. 104 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich und auf Grund von § 26 FamFG einfachrechtlich verpflichtet, das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungshaft in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, müssen auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht und die Freiheitsentziehung rechtfertigen (BVerfGK 15, 139 Rn. 20; NVwZ-RR 2020, 801 Rn. 51; BGH, Beschlüsse vom 20. Januar 2011 - V ZB 226/10, FGPrax 2011, 144 Rn. 15, vom 17. Oktober 2013 - V ZB 172/12, InfAuslR 2014, 52 Rn. 14, und vom 20. Oktober 2016 - V ZB 167/14, NVwZ 2017, 733 [Ls] = juris Rn. 9). Die Freiheitsentziehung darf auch nur für einen Zeitraum angeordnet werden, für den eine ausreichende Tatsachengrundlage festgestellt ist (BGH, NVwZ 2017, 733 [Ls], Beschlüsse vom 20. September 2018 - V ZB 102/16, NVwZ-RR 2019, 391 [Ls] = juris Rn. 30, und vom 6. Oktober 2020 - XIII ZB 85/19, juris Rn. 20). Angesichts des hohen Ranges des Freiheitsgrundrechts gilt dies in gleichem Maße, wenn die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme in Rede steht (vgl. BVerfGK 7, 87, 100, und NVwZ-RR 2020, 801 Rn. 51).
16 bb) Daran fehlt es hier. Die festgestellten Tatsachen ergeben eine in diesem Sinne tragfähige tatsächliche Grundlage weder für die Verlassenspflicht des Betroffenen noch für die angenommenen Haftgründe.
17 (1) Aufgrund der getroffenen Feststellungen konnte das Beschwerdegericht ebenso wenig wie das Amtsgericht davon ausgehen, dass sich die Pflicht des Betroffenen zur Ausreise aus Deutschland noch aus dem Bescheid des Bundesamts vom 18. August 2015 ergab und es keiner neuen Rückkehrentscheidung bedurfte. [...]
20 (aa) Der fehlende Rücklauf von Grenzübertrittsbescheinigungen kann zwar einen Rückschluss auf die fehlende Ausreise in den Zielstaat - hier Albanien - erlauben. Voraussetzung hierfür ist aber, dass dem ausreisepflichtigen Ausländer erläutert wird, welcher Behörde er diese Bescheinigung zur Ausfüllung und Rückleitung an die ausstellende Ausländerbehörde zu übergeben hat. Ohne eine solche Erläuterung wüsste ein Ausländer gewöhnlich nicht, dass er die Bescheinigung nach Nr. 50.4.1.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz (vom 26. Oktober 2009, GMBl. 2009, 878 - AV AufenthG) im Fall der direkten Rückreise in seinen Heimatstaat der deutschen Grenzbehörde (vgl. Nr. 50.4.1.1.2 AV AufenthG), andernfalls, nämlich beim Durchqueren anderer Staaten des Schengensystems, nach der Ankunft in seinem Heimatstaat bei der deutschen Auslandsvertretung (vgl. Nr. 50.4.1.1 und 50.4.1.1.1 AV AufenthG) abzugeben hat. Deshalb sieht Nr. 50.4.1.2 AV AufenthG vor, dass dem Ausländer ein entsprechender Hinweis zu erteilen ist, der hier in den Ausländerakten aber nicht dokumentiert ist. Ohne eine entsprechende Überprüfung entbehrt die Annahme fehlender Ausreise der erforderlichen tatsächlichen Grundlage.
21 (bb) Das Beschwerdegericht stützt seine Annahme, der Betroffene sei nicht nach Albanien ausgereist, weiter darauf, dass der Reisepass des Betroffenen keinen Einreisestempel der albanischen Behörden aufweise. Es folgt damit der Darstellung der beteiligten Behörde im Haftantrag und den Feststellungen des Amtsgerichts. Diese musste es angesichts der widersprechenden Einlassung des Betroffenen auf ihre Richtigkeit überprüfen. Diese Prüfung war im Zeitpunkt seiner Entscheidung nur noch anhand der Kopie des Reisepasses des Betroffenen in den Ausländerakten möglich, da dieser zu diesem Zeitpunkt bereits nach Albanien abgeschoben worden war. Der gebotene Abgleich der Feststellungen des Amtsgerichts mit dem Inhalt der Ausländerakten kann nicht stattgefunden haben. Die in den Ausländerakten enthaltene Kopie des Reisepasses weist mehrere Aus- und Einreisestempel der albanischen Behörden auf, unter anderem Stempel für die Einreise des Betroffenen nach Albanien am 17. Oktober 2015 und am 15. August 2016. Danach konnte die Darstellung des Geschehens zutreffen, die der Betroffene bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Amtsgericht gegeben hat. Ohne weitere Überprüfungen durfte das Beschwerdegericht deshalb nicht davon ausgehen, dass der Betroffene seine Zusagen einer freiwilligen Rückkehr nach Albanien nicht eingehalten und bei seiner Anhörung vor dem Amtsgericht die Unwahrheit gesagt hat. [...]
24 (b) Auch die Voraussetzungen des § 62 Abs. 3a Nr. 5 AufenthG, wonach Fluchtgefahr vermutet wird, wenn der Ausländer sich der Abschiebung entzogen hat, sind nicht festgestellt.
25 (aa) Diese Regelung ist an § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG in der bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung angelehnt (vgl. Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BT-Drucks. 19/10047 S. 42). Zur Auslegung der Neuregelung ist daher die zu § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AufenthG aF ergangene Rechtsprechung heranzuziehen. Dem steht nicht entgegen, dass die Regelung früher als eigenständiger Haftgrund ausgestaltet war, während sie jetzt ein Vermutungstatbestand für den Haftgrund der Fluchtgefahr ist. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass mit der Gesetzesänderung die inhaltlichen Anforderungen an den Tatbestand herabgesetzt werden sollten. Hiergegen spricht neben dem Fehlen entsprechender Ausführungen in der Gesetzesbegründung insbesondere, dass § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ("ist ... in Haft zu nehmen") anerkanntermaßen unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit einschränkend auszulegen ist. Bei fehlender Fluchtgefahr reicht allein die Erfüllung der formalen Tatbestände der Haftgründe nicht aus, um Sicherungshaft anzuordnen. Eine Widerlegung der zu vermutenden Fluchtgefahr war im Ausnahmefall schon nach der bisherigen Rechtslage möglich (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Mai 2011 - V ZB 36/11, FGPrax 2011, 254 Rn. 10; BVerfG, Kammerbeschluss vom 13. Juli 1994 - 2 BvL 12/93, NVwZ 1994, Beilage 8, 57, 58). Der terminologische, inhaltlich jedoch allenfalls geringfügige graduelle Unterschied zwischen den bisherigen Haftgründen und den geltenden Vermutungen für Fluchtgefahr rechtfertigt es nicht, an die Erfüllung des Tatbestandes geringere Anforderungen zu stellen.
26 (bb) Deshalb setzt der Vermutungstatbestand des § 62 Abs. 3a Nr. 5 AufenthG voraus, dass der Ausländer eine konkrete, auf seine Abschiebung gerichtete Maßnahme der Behörde vereitelt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Juni 2017 - V ZB 21/17, NVwZ 2017, 1640 Rn. 6; Bergmann/Dienelt/Winkelmann, Ausländerrecht, 13. Aufl., § 62 AufenthG Rn. 120). Dies ist nur möglich, wenn die Ausländerbehörde bereits konkrete Maßnahmen zur Vorbereitung der Abschiebung des Ausländers ergriffen, etwa einen Termin für seine Abschiebung ins Auge gefasst hat. Nach den getroffenen Feststellungen hat die beteiligte Behörde aber gerade nicht die Abschiebung des Betroffenen vorbereitet, sondern ihm – zweimal - Gelegenheit gegeben, freiwillig auszureisen. [...]