OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 05.02.2021 - 6 Bs 136/20 - asyl.net: M29679
https://www.asyl.net/rsdb/m29679
Leitsatz:

Entstehung des Aufenthaltsrechts für Familienangehörige nach Assoziationsrecht:

1. Eine Aufenthaltserlaubnis erlischt auch dann nach § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG, wenn eine Person zwar jeweils kurz vor Ablauf der 6-monatigen Frist nach § 51 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG aus dem Ausland nach Deutschland zurückkehrt, es sich jedoch aus den Gesamtumständen ergibt, dass sie aus einem seiner Natur nach nicht nur vorübergehenden Grund ausgereist ist.

2. Das abgeleitete Recht von Familienangehörigen nach dem Assoziationsrecht setzt voraus, dass die stammberechtigte Person im Zeitpunkt des Erwerbs der abgeleiteten Rechte ihres Familienmitglieds die türkische Staatsangehörigkeit besitzt. 

3. Das abgeleitete Aufenthaltsrecht nach Assoziationsrecht entsteht in dem Fall, in dem die stammberechtigte Person zuvor unter Aufgabe der türkischen Staatsangehörigkeit eingebürgert wurde, nicht in entsprechender Anwendung assoziationsrechtlicher Vorschriften oder als Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger*innen gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: türkische Staatsangehörige, türkischer Arbeitnehmer, Assoziationsberechtigte, Erlöschen, Aufenthaltstitel, Einbürgerung, freizügigkeitsberechtigt,
Normen: AEUV Art. 21, ARB 1/80 Art. 7, ARB 1/80 Art. 6, AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 6, AufenthG § 51 Abs. 1 Nr. 7,
Auszüge:

[...]

9 [...] Ob der Ausländer aus dem Bundesgebiet i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG "aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden Grunde ausreist", bestimmt sich nach allen objektiven Umständen des Einzelfalls, während es auf den inneren Willen des Ausländers nicht allein ankommen kann. Dabei erlischt der Aufenthaltstitel jedenfalls, wenn sich aus den Gesamtumständen ergibt, dass der Betreffende seinen Lebensmittelpunkt ins Ausland verlagert hat (BVerwG, Urt. v. 11.12.2012, 1 C 15.11, NVwZ-RR 2013, 338, juris Rn. 16). Durch diese Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht den zuvor erkannten Auslegungsmaßstab (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.1.2012, 1 C 1.11, BVerwGE 141, 325, juris Rn. 9), auf den sich der Antragsteller beruft, dass es der Regelungszweck des § 51 Abs. 1 Nr. 6 und 7 AufenthG sei, die Aufenthaltstitel in den Fällen zum Erlöschen zu bringen, in denen das Verhalten des Ausländers typischerweise den Schluss rechtfertige, dass er von seinem Aufenthaltsrecht keinen Gebrauch mehr machen wolle, jedenfalls dahingehend konkretisiert, dass es nicht allein hinreichend ist, dass der Ausländer subjektiv an dem Aufenthaltstitel festhalten will. In diesem Sinne dürfte auch der vom Antragsteller zitierte Beschluss des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts (v. 16.12.2019, 4 Bs 30/18) zu verstehen sein, der zu diesem Punkt auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Januar 2012 Bezug nimmt. Dementsprechend ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass es für den Erhalt des Aufenthaltstitels nicht hinreichend ist, wenn der Ausländer diesen quasi in "Reserve" behalten möchte; liegt eine Ausreise aus einem nicht nur vorübergehenden Grund i.S.d. § 51 Abs. 1 Nr. 6 AufenthG vor, so kann der Ausländer das Erlöschen des Aufenthaltstitels daher auch nicht dadurch vermeiden, dass er jeweils kurz vor Ablauf von sechs Monaten nach der Ausreise mehr oder weniger kurzfristig in das Bundesgebiet zurückkehrt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.12.1988, 1 B 135.88, InfAuslR 1989, 114, juris Rn. 7; OVG Münster, Beschl. v. 24.4.2007, 18 B 2764/06, juris Rn. 14; OVG Lüneburg, Beschl. v. 20.1.2020, 13 ME 348/19, InfAuslR 2020, 160, juris Rn. 12). Allein eine derartige wiederholte Rückkehr für wenige Tage ist daher grundsätzlich nicht geeignet, die nur vorübergehende Natur der Ausreise zu belegen.

10 Zutreffend geht daher das Verwaltungsgericht davon aus, dass im Hinblick auf ein Erlöschen des Aufenthaltstitels lediglich Auslandsaufenthalte unschädlich sind, die nach ihrem Zweck typischerweise zeitlich begrenzt sind und die keine wesentliche Änderung der gewöhnlichen Lebensumstände in Deutschland mit sich bringen; fehlt es - unter Würdigung der objektiven Umständen des Einzelfalles, zu denen auch der innere Willen des Ausländers zählt, auf den es aber nicht allein ankommt, - an einem dieser Umstände, liegt ein seiner Natur nach nicht vorübergehender Grund vor. Der Aufenthaltstitel erlischt jedenfalls dann, wenn sich aus den Gesamtumständen ergibt, dass der Ausländer seinen Lebensmittelpunkt ins Ausland verlagert hat; in diesem Fall ist die Ausreise - unabhängig vom inneren Willen des Ausländers - nicht nur aus einem vorübergehenden Grund erfolgt. [...]

23 a) Der Antragsteller hat als Ehemann von Frau ... zu keinem Zeitpunkt gemäß Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 ein Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers erworben. Nach dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 ist Voraussetzung für die Ableitung eines Arbeits- und in der Folge auch Aufenthaltsrechts von einem stammberechtigten Familienangehörigen, dass dieser Stammberechtigte - im Zeitpunkt des Erwerbs der abgeleiteten Rechte des Familienangehörigen - ein dem regulären Arbeitsmarkt angehörender türkischer Arbeitnehmer ist. [...]

25 b) Soweit der Antragsteller geltend macht, dass der Anwendungsbereich des Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 erweiternd auszulegen sei, wenn die Integration des türkischen Arbeitnehmers (hier: Frau ...) durch  Einbürgerung in die Bundesrepublik Deutschland maximal fortgeschritten sei, folgt der Senat dem nicht.

26 aa) Dabei dürfte der Antragsteller zutreffend davon ausgehen, dass Frau ... - sofern sie Rechte aus Art. 6 ARB 1/80 vor ihrer Einbürgerung in die Bundesrepublik Deutschland erworben hatte - diese Rechte auch nach ihrer Einbürgerung beibehalten hat; ein Fortbestand erworbener Rechte ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes unabhängig vom Fortbestand der Voraussetzungen für deren Erwerb (vgl. zu Art. 7 ARB 1/80: EuGH, Urt. v. 21.10.2020, C-720/19, GR./. Duisburg, juris Rn. 24 unter Verweis auf das Urt. v. 22.12.2010, Bozkurt, C-303/08, InfAuslR 2011, 89, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27 bb) Aus der genannten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ergibt sich jedoch weder, dass entgegen dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 hinreichend ist, dass der Stammberechtigte die Rechte aus Art. 6 ARB 1/80 zustehen, noch dass Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 - erweiternd - auf eine Fallkonstellation wie die vorliegende entsprechend anwendbar wäre (vgl. OVG Koblenz, Beschl. v. 29.6.2009, 7 B 10454/09, NVwZ-RR 2009, 978, juris Rn. 15; VGH Kassel, Beschl. v. 23.7.2007, 11 UZ 601/07, InfAuslR 2008, 7, juris Rn. 4; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, zu Art. 7 ARB 1/80 Rn. 39; Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, Art. 7 EWG-Türkei, Rn. 7 f.; vgl. zum Kooperationsabkommen mit Marokko: EuGH, Urt. v. 11.11.1999, C-179/89, Mesbah, InfAuslR 2000, 56). Die vom Antragsteller angeführte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu der nach seiner Auffassung in Bezug auf die Unionsbürgerrichtlinie vergleichbaren Rechtslage (vgl. Urt. v. 14.11.2017, C-165/16, ... bzw. ..., NVwZ 2018, 137, juris; nachfolgende Zitate geben jeweils die Randnummer dieser Entscheidung an) spricht nach Auffassung des Senats gegen die von ihm geltend gemachte erweiternde Auslegung von Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80. Denn der Europäische Gerichtshof legt in dem zitierten Verfahren nicht primär die streitgegenständliche Unionsbürgerrichtlinie zur Gewährleistung der Effektivität der Freizügigkeit erweiternd aus, sondern misst den Sachverhalt in Bezug auf die nachziehenden Familienangehörigen zunächst maßgeblich an Art. 21 Abs. 1 AEUV. Im Einzelnen: [...]

30 (2) Diese zur Unionsbürgerrichtlinie entwickelte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ist bereits nicht übertragbar auf das Recht zur Arbeitsaufnahme und Aufenthaltsgewährung nach dem  Assoziationsratsbeschluss 1/80. Denn sie gründet sich auf der Forderung der Wirksamkeit des der Unionsbürgerrichtlinie übergeordneten Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 Abs. 1 AEUV, welches eines der grundlegenden Gewährleistungen bzw. Freiheiten der europäischen Union ist. Eine derartige Verwurzelung in einem übergeordneten Rechtsrahmen besteht für das Arbeitsaufnahme- und Aufenthaltsrecht türkischer Arbeitnehmer aus dem Assoziationsratsbeschluss nicht. Zudem weist das Bundesverwaltungsgericht (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.3.2015, 1 C 19.14, BVerwGE 151, 377, juris Rn. 20 unter Hinweis auf die Entscheidung des EuGH, Urt. v. 8.12.2011, C-371/08, Ziebell, Rn. 75 ff.) in anderem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass die Rechte türkischer Arbeitnehmer aus dem Assoziationsratsbeschluss primär auf die wirtschaftliche Integration türkischer Arbeitnehmer in den Mitgliedstaat der Europäischen Union angelegt sind; dieser Rechtsprechung folgt der Senat. [...]

32 (3) Aus dem Vorstehenden ergibt sich zugleich, dass für eine entsprechende Anwendung von Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 auf die vorliegende Fallkonstellation keine rechtliche Grundlage ersichtlich ist. Denn zum einen fehlt es an einem übergeordneten, Art. 21 Abs. 1 AEUV entsprechenden Rechtsrahmen, aus dem sich die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer und das Gebot der praktischen Wirksamkeit eines solchen Freizügigkeitsrechts türkischer Arbeitnehmer ableiten ließe. Zum anderen fehlt es an der Notwendigkeit eines Aufenthaltsrechts von Familienangehörigen, damit das nationale Aufenthaltsrecht, das infolge der Inanspruchnahme von Freizügigkeit entstanden ist, wirksam ausgeübt werden kann. [...]