VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Beschluss vom 28.04.2021 - 1 L 741/20.A - asyl.net: M29676
https://www.asyl.net/rsdb/m29676
Leitsatz:

1. Der vorläufige Rechtsschutz gegen einen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, mit dem ein Folgeantrag ohne Erlass einer (weiteren) Abschiebungsandrohung als unzulässig abgelehnt wird, richtet sich nicht nach § 80 Abs. 5 VwGO, sondern nach § 123 Abs. 1 VwGO.

2. Die von Art. 40 Abs. 2 und 3 RL 2013/32/EU ("neue Elemente oder Erkenntnisse") abweichende Formulierung in § 51 Abs. 1 Nr. 1 ("Sach- oder Rechtslage nachträglich … geändert hat") und Nr. 2 ("neue Beweismittel") steht mit Unionsrecht in Einklang. Diese Begriffe stimmen hinreichend überein; etwaigen Friktionen ist durch eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 51 Abs. 1 Nr. 1 und 2 VwVfG Rechnung zu tragen.

3. Eine Änderung der Sachlage i.S.d. §§ 71 Abs. 1 AsylG, 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG liegt bei unionsrechtskonformer Auslegung auch dann vor, wenn im Folgeverfahren erstmals Umstände vorgetragen werden, die zeitlich bereits vor der Ausreise aus dem Herkunftsstaat liegen.

4. Neue Beweismittel i.S.d. §§ 71 Abs. 1 AsylG, 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG sind sowohl Beweismittel, die bis zum Abschluss des vorhergehenden Asylverfahrens noch nicht existierten, als auch solche, die zwar damals bereits vorhanden waren, im vorhergehenden Asylverfahren aber nicht berücksichtigt wurden. Erforderlich ist aber stets, dass sich das Beweismittel auf den im vorhergehenden Verfahren entschiedenen Sachverhalt bezieht.

5. Es steht mit Unionsrecht, namentlich der Richtlinie 2008/115/EG in Einklang, im Falle der Ablehnung eines Folgeantrags als unzulässig vom erneuten Erlass einer Abschiebungsandrohung sowie der erneuten Setzung einer Ausreisefrist abzusehen.

6. Das aus dem Unionsrecht folgende Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bezieht sich in Verfahren, in denen ein Folgeantrag als unzulässig abgelehnt wird, ebenso wie bei der Ablehnung eines Asylerstantrags als offensichtlich unbegründet nicht auf die Klage, sondern allein auf den Eilantrag. Dies gilt unabhängig davon, ob das Bundesamt erneut eine Abschiebungsandrohung erlässt oder ob es davon absieht.

7. Art. 18, 19 Abs. 2 und 47 GrCh, auf die der Gerichtshof der Europäischen Union seine Rechtsprechung zum Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf maßgeblich stützt, gelten unabhängig vom Erlass einer (weiteren) Rückkehrentscheidung und deren Verbindung mit der Entscheidung über die Ablehnung des Asylantrags für sämtliche Entscheidungen, die eine Aufenthaltsbeendigung eines Asylsuchenden (erneut) erlauben.

8. Lehnt das Bundesamt einen Folgeantrag als unzulässig ab und sieht es vom erneuten Erlass einer Abschiebungsandrohung ab, steht dem betroffenen Antragsteller entgegen unionsrechtlicher Vorgaben kein ausreichend wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung. Der statthafte Eilantrag schützt den Antragsteller nicht hinreichend davor, dass er vor einer Entscheidung über diesen Antrag auf Grundlage des Art. 15 RL 2008/115/EG inhaftiert wird.

9. Die Auswirkungen des Verstoßes gegen Unionsrecht gehen zeitlich nicht über die Zustellung der Entscheidung des Gerichts über den Eilantrag hinaus, so dass der Erlass der beantragten einstweiligen Anordnung, die Abschiebung des Antragstellers bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren auszusetzen, abzulehnen ist.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Asylfolgeantrag, Änderung der Sach- und Rechtslage, Änderung der Sachlage, Änderung der Rechtslage, neue Beweismittel, Abschiebungsandrohung, Rechtsmittel, einstweilige Anordnung, Unionsrecht, Asylverfahrensrichtlinie, wirksamer Rechtsbehelf,
Normen: GR-Charta Art. 18, GR-Charta Art. 19 Abs. 2, GR-Charta Art. 47, RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Bst. d, RL 2013/32/EU Art. 40 Abs. 2, RL 2013/32/EU Art. 40 Abs. 3, RL 2013/32/EU Art. 46 Abs. 6 Bst. b, RL 2013/32/EU Art. 46 Abs. 8, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 1, AsylG § 71 Abs. 1, AsylG § 71 Abs. 5, VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1, VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 2, VwGO § 123 Abs. 1,
Auszüge:

Aufgrund des Umfangs der Entscheidung, die detaillierte Begründungen zu den aufgeworfenen Fragestellungen enthält, verzichten wir auf das Bereitstellen von Textauszügen und verweisen auf das PDF, welches die vollständigen Entscheidungsgründe enthält.