OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 22.02.2021 - 13 ME 572/20 - asyl.net: M29673
https://www.asyl.net/rsdb/m29673
Leitsatz:

Bleiberecht von Kindern eines Wanderarbeitnehmers auf Grundlage des Art 10 Abs 1 EUV 492/2011; tatsächliche Ausbildungsteilnahme

Die Berufung auf ein Bleiberecht auf der Grundlage des Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 setzt voraus, dass die Kinder eines (ehemaligen) Wanderarbeitnehmers am allgemeinen Unterricht bzw. der Lehrlings- oder Berufsausbildung regelmäßig teilnehmen. Allein das Bestehen der gesetzlichen Schulpflicht reicht dafür nicht aus.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: freizügigkeitsberechtigt, Wanderarbeitnehmer, Freizügigkeitsverordnung, Bleiberecht, tatsächlicher Schulbesuch, EU-Staatsangehörige, Unionsrecht,
Normen: FreizügG/EU § 5 Abs. 4, FreizügG/EU § 2 Abs. 1, VO (EU) Nr. 492/2011 Art. 10 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

6 bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011. Zum Charakter dieser Vorschrift hat das Bundesverwaltungsgericht die dazu ergangene Rechtsprechung des EuGH referiert und ausgeführt (Urt. v. 11.9.2019 - 1 C 48.18 -, juris Rn. 19):

7 "Gemäß Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 können die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen. Die Norm begründet zuvörderst ein Recht auf Gleichbehandlung (stRspr, vgl. EuGH, Urteil vom 27. September 1988 - C-42/87 [ECLI:EU:C:1988:454], Kommission/Königreich Belgien - Rn. 10). Aus dem Recht zur Teilnahme am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung folgt zugleich ein eigenständiges (EuGH, Urteil vom 13. Juni 2013 - C-45/12 [ECLI:EU:C:2013:390], Hadj Ahmed - Rn. 46), originäres (Franzen, in: Streinz, EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 45 AEUV Rn. 143) und autonomes (EuGH, Urteil vom 23. Februar 2010 - C-310/08 [ECLI:EU:C:2010:80], Ibrahim - Rn. 41 f.) Recht der Kinder des (vormaligen) Wanderarbeitnehmers auf Einreise, Aufenthalt und Wohnsitznahme. Ein entsprechendes Recht vermittelt Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 zudem dem Elternteil, der die elterliche Sorge für die betreffenden Kinder tatsächlich wahrnimmt, ohne dass dieser die in der Richtlinie 2004/38/EG festgelegten Voraussetzungen erfüllen muss (EuGH, Urteil vom 23. Februar 2010 - C-480/08 [ECLI:EU:C:2010:83], Teixeira - Rn. 61). Dieser Elternteil kann auch der vormalige Wanderarbeitnehmer selbst sein. Das Aufenthaltsrecht ist der Förderung der Inanspruchnahme des Rechts der Kinder auf Teilnahme am allgemeinen Unterricht zu dienen bestimmt und besteht auch nach dem Ende der Erwerbstätigkeit des Wanderarbeitnehmers fort (stRspr, vgl. EuGH, Urteil vom 17. September 2002 - C-413/99 [ECLI:EU:C:2002:493], Baumbast und R - Rn. 73 ff.). Es endet regelmäßig mit Eintritt der Volljährigkeit des Kindes, sofern dieses nicht ausnahmsweise weiterhin der Anwesenheit und Fürsorge dieses Elternteils bedarf, um seine Ausbildung fortsetzen und abschließen zu können (EuGH, Urteil vom 23. Februar 2010 - C-480/08 - Rn. 86 f.). Adressat des den Kindern eines Wanderarbeitnehmers und deren die tatsächliche Sorge ausübenden Elternteile aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 erwachsenen Aufenthaltsrechts ist allein der Aufnahmestaat des (vormaligen) Wanderarbeitnehmers, nicht hingegen auch jeder andere Mitgliedstaat der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 27. September 1988 - C-263/86 [ECLI:EU:C:1988:451], Humbel und Edel - Rn. 24 f.)"

8 Das Verwaltungsgericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass es nach der Rechtsprechung des EuGH zur wortgleichen Vorgängervorschrift des Art. 12 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1612/68 genügt, dass das Kind mit einem oder beiden Elternteilen im Bundesgebiet wohnte, während ein Elternteil als Unionsbürger eine Arbeitnehmerstellung innehatte. Das Kind muss also zum Zeitpunkt der Beschäftigung noch keine Ausbildung begonnen haben. Der EuGH spricht diesbezüglich von einem Recht des Kindes auf "Zugang zur Ausbildung", das, einmal erworben, erhalten bleibe, auch wenn das betreffende Elternteil seine Eigenschaft als "Wanderarbeitnehmer" wieder verloren habe. Es ist demnach nicht erforderlich, dass Beschäftigung und Schulausbildung in der Vergangenheit gleichzeitig stattgefunden haben. Auch ist es unschädlich, wenn der den Zugang zur Ausbildung vermittelnde Elternteil den Aufnahmemitgliedstaat bereits wieder verlassen hat, bevor sein Kind dort eingeschult wird (vgl. EuGH, Urt. v. 23.02.2010 - C-480/08 -, juris Ls 4 und Rn. 52, 71 - 75; Urt. v. 23.02.2010 - C-310/08 -, Rn. 33 f., Urt. v. 14.06.2012 - C-542/09 -, juris Ls 2 sowie Rn. 49 und 50; Urt. v. 30.06.2016 - C-115/15 -, juris Ls 2 und Rn. 54 f.). An diesem Aufenthaltsrecht nehmen auch die die elterliche Sorge für das Kind tatsächlich wahrnehmenden Eltern teil. Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 vermittelt den Kindern eines (vormaligen)Wanderarbeitnehmers und deren die elterliche Sorge tatsächlich ausübenden Elternteilen nicht nur ein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Wohnsitznahme, sondern auch auf Freizügigkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 FreizügG/EU (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.9.2019, a.a.O. Rn. 26).

9 Folge dieser Rechtsprechung ist ein Wechsel von Voraussetzungen und Rechtsfolgen des Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/201. Während diese Bestimmung dem Kind eines Wanderarbeitnehmers aus Gründen der Gleichbehandlung die Aufnahme und den Abschluss der Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat garantiert, dient die Vorschrift nach der Rechtsprechung des EuGH im Hinblick auf dieses Recht des Kindes nunmehr der Begründung eines Aufenthaltsrechts der Eltern, unabhängig von deren Arbeitnehmereigenschaft oder Arbeitssuche. Soll mithin nach Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 das Kind seine Ausbildung im Aufnahmemitgliedstaat aufnehmen und beenden dürfen, weil ein Elternteil dort als Unionsbürger einer Beschäftigung nachgeht oder nachgegangen ist, so dürfen nach der Rechtsprechung des EuGH die Eltern unabhängig von einer Beschäftigung im Bundesgebiet verbleiben, weil ihr Kind hier eine Ausbildung absolviert. Ein derartiges Bleiberecht ist im Übrigen nach § 3 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 FeizügG/EU nur für Verwandte in gerade aufsteigender Linie vorgesehen, denen von den Freizügigkeitsberechtigten, ihren Ehegatten oder Lebenspartnern Unterhalt gewährt wird. Selbst ein minderjähriger freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger, der sich nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU als Arbeitnehmer oder zur Berufsausbildung und damit in Ausübung seiner Grundfreiheit nach Art. 45 AEUV in Deutschland aufhält, kann seine Eltern nur unter diesen Voraussetzungen nachholen. Aus welchem Grunde das Kind eines ehemaligen Wanderarbeitnehmers gegenüber diesem Personenkreis privilegiert werden sollte, ist nicht recht einsichtig.

10 Selbst wenn man dieser nahezu uferlosen Auslegung des Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 durch den EuGH im Hinblick auf § 267 AEUV folgt, hätten sich die Antragsteller sich im vorliegenden Fall nicht mit Erfolg auf diese Bestimmung berufen können.

11 Die Berufung auf ein Bleiberecht auf der Grundlage des Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 setzt voraus, dass die Kinder eines (ehemaligen) Wanderarbeiters am allgemeinen Unterricht bzw. der Lehrlings- oder Berufsausbildung regelmäßig teilnehmen. Nur zu diesem Zweck ist den Kindern und ihren die elterliche Sorge tatsächlich ausübenden Elternteilen der Aufenthalt weiter gestattet. Ein Recht auf Aufenthalt zum Zweck der allgemeinen Schulbildung rechtfertigt sich nur bei regelmäßigem Schulbesuch. [...]