OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 30.09.2019 - 2 S 262/19 - asyl.net: M29672
https://www.asyl.net/rsdb/m29672
Leitsatz:

Durchsuchung eines Einzelzimmers in Gemeinschaftsunterkunft zur Nachtzeit zum Zwecke der Abschiebung verhältnismäßig:

"(...) § 16 Abs. 2 Satz 3 BremVwVG (juris: VwVG BR) erlaubt die Durchsuchung der Wohnung eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers zur Nachtzeit, wenn anderenfalls die Durchsetzung der Abschiebung im Wege unmittelbaren Zwangs gefährdet wäre (Rn.9)."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Abschiebung, Wohnung, Unverletzlichkeit der Wohnung, Wohnungsdurchsuchung, Verhältnismäßigkeit, Nachtzeit,
Normen: BremVwVG § 16 Abs. 2 S. 3, GG Art. 13 Abs. 1, AufenthG § 58
Auszüge:

[...]

9 1. Rechtsgrundlage der beantragten Anordnung für die Durchsuchung der Wohnräume des Antragsgegners in der Gemeinschaftsunterkunft zur Nachtzeit ist § 16 Abs. 2 Sätze 1 und 2, Abs. 3 BremVwVG und nicht § 58 Abs. 6 bis 9 AufenthG.

10 Zwar hat der Bundesgesetzgeber durch Art. 1 des "Zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht" vom 15.08.2019 (BGBl. I S. 1294) in § 58 Abs. 4 bis 10 AufenthG erstmals bundesgesetzliche Regelungen u.a. für die Durchführung einer Durchsuchung der Wohnung des abzuschiebenden Ausländers zum Zweck seiner Ergreifung und Durchführung der Abschiebung geschaffen und § 58 Abs. 7 AufenthG enthält Regelungen über die Wohnungsdurchsuchung zur Nachtzeit. Allerdings sieht § 58 Abs. 10 AufenthG ausdrücklich vor, dass weitergehende Regelungen der Länder, die den Regelungsgehalt der Absätze 5 bis 9 betreffen, unberührt bleiben. Der Gesetzgeber wollte mit der Neuregelung des § 58 Abs. 5 bis 9 AufenthG bundeseinheitlich nur ein Mindestmaß an Betretensrechten bei Abschiebungen vorgeben, weil in einigen Ländern keine eindeutige Rechtsgrundlage für das Betreten und Durchsuchen zum Zwecke des Auffindens des Abzuschiebenden existiert (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Inneres und Heimat (4. Ausschuss), BT-Drucks. 19/10706, S. 14). Durch § 58 Abs. 10 AufenthG wird sichergestellt, dass bestehende Regelungen der Länder, die weitergehende Befugnisse enthalten, fortgelten, ohne dass die Länder nach Art. 84 Abs. 1 Satz 2 GG von ihrer Abweichungsbefugnis Gebrauch machen müssen (vgl. BT-Drucks. 19/10706, a.a.O.).

11 § 16 BremVwVG regelt landesrechtlich die Wohnungsdurchsuchung zur Durchsetzung einer aufenthaltsrechtlichen Ausreisepflicht. Zwar folgt die Ausreisepflicht des Antragsgegners nicht aus einem vollstreckbaren Verwaltungsakt, sondern unmittelbar aus dem Gesetz. Gleichwohl finden auch auf die Durchführung der Abschiebung die landesrechtlichen Verwaltungsvollstreckungsnormen Anwendung (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 05.08.2019 – 2 F 211/19 – BeckRS 2019, 19149, Rn. 8; BeckOK AuslR/Kluth, 22. Ed., Stand: 1.11.2018, AufenthG § 58 Rn. 42; Herrmann, ZAR 2017, 201, 202 f.).

12 Für Wohnungsdurchsuchungen zur Nachtzeit enthält § 16 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 AufenthG gegenüber § 58 Abs. 6 bis 9 AufenthG weitergehende Regelungen. Denn § 16 Abs. 2 Satz 3 AufenthG, wonach die Wohnung der pflichtigen Person zur Nachtzeit nur durchsucht werden darf, wenn andernfalls der Erfolg der Vollstreckungsmaßnahme gefährdet werde, enthält keine dem § 58 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entsprechende Einschränkung, wonach die Organisation der Abschiebung keine Tatsache darstellt, aus der zu schließen ist, dass die Ergreifung des Ausländers zum Zweck seiner Abschiebung vereitelt wird, wenn die Wohnungsdurchsuchung nicht zur Nachtzeit erfolgt.

13 2. Nach § 16 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 BremVwVG ist die Vollzugsbehörde befugt, auf Grund einer richterlichen Anordnung die Wohnung und sonstiges Besitztum der pflichtigen Person zu betreten und zu durchsuchen, soweit es der Zweck der Vollstreckung erfordert. [...]

15 a. Die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen liegen vor. [...]

16 b. Die besonderen Tatbestandsvoraussetzungen für eine Durchsuchung zur Nachtzeit nach § 16 Abs. 2 Satz 3 BremVwVG liegen ebenfalls vor. Die Durchführung der Ergreifung des Antragsgegners zum Zwecke seiner Abschiebung am 01.10.2019 im Wege des unmittelbaren Zwangs wäre gefährdet, wenn die Durchsuchung nicht zur Nachtzeit durchgeführt werden kann. [...]

17 3. Die Durchsuchung der Wohnräume des Antragsgegners zur Nachtzeit ist gemessen an der Gewährleistung des Art. 13 Abs. 1 GG im vorliegenden Einzelfall auch verhältnismäßig.

18 a. Der dem Antragsgegner in der Gemeinschaftsunterkunft zur alleinigen Nutzung zugewiesene Wohnraum erfüllt die Anforderungen einer Wohnung im Sinne des Art. 13 Abs. 1 GG. Der Begriff der Wohnung ist weit zu verstehen und umfasst die räumliche Sphäre, in der sich das Privatleben entfaltet (vgl. BVerfG, Urteil vom 27.02.2008 – 1 BvR 370/07, 1 BvR 595/07 – Rn. 195, juris; Beschluss vom 13.10.1971 – 1 BvR 280/66 – Rn. 45, juris und Urteil vom 15.12.1983 – 1 BvR 209/83 – Rn. 141, juris). Das ist bei dem Zimmer des Antragsgegners bei summarischer Prüfung nach Aktenlage der Fall. Es wird von ihm zu Wohnzwecken, insbesondere zum Schlafen und zum sonstigen Aufenthalt, genutzt und dient, anders als die Gemeinschaftsräume, nicht in erster Linie der Aufnahme sozialer Kontakte mit der Außenwelt. Darauf, dass der Antragsgegner mit seiner Abschiebung auch sein Zimmer räumen muss und darin deshalb anschließend nicht mehr sein Privatleben entfalten kann, kommt es vor der Durchführung der Abschiebung nicht an (so aber VG Neustadt a.d.W., Beschluss vom 28.06.2002 -7 N 1804/02.NW – InfAuslR 2002, 410; vgl. auch Zeitler, ZAR 2014, 365).

19 b. Art. 13 Abs. 1 GG schützt mit der Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung den räumlich gegenständlichen Bereich der Privatsphäre. Damit wird dem Einzelnen im Hinblick auf seine Menschen - würde und im Interesse der freien Entfaltung der Persönlichkeit ein elementarer Lebensraum gewährleistet. In diese grundrechtlich geschützte persönliche Lebenssphäre greift eine Durchsuchung schwerwiegend ein. Dem Gewicht dieses Eingriffs und der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Schutzes der räumlichen Privatsphäre entspricht es, dass Art. 13 Abs. 2, 1. Halbsatz GG die Anordnung einer Durchsuchung grundsätzlich dem Richter vorbehält (st. Rspr., vgl. nur BVerfG, Urteil vom 20.02.2001 – 2 BvR 1444/00 –, BVerfGE 103, 142-164, Rn. 32). Der Richtervorbehalt zielt auf eine vorbeugende Kontrolle der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz ab (BVerfG, Urteil vom 20.02.2001 – 2 BvR 1444/00 –, BVerfGE 103, 142-164, Rn. 33). Der Richter muss die beabsichtigte Maßnahme eigenverantwortlich prüfen; er muss dafür Sorge tragen, dass die sich aus der Verfassung und dem einfachen Recht ergebenden Voraussetzungen der Durchsuchung genau beachtet werden (BVerfG, Urteil vom 20.02.2001 – 2 BvR 1444/00 –, BVerfGE 103, 142-164, Rn. 35). Erfolgt die Wohnungsdurchsuchung zur Nachtzeit, sind zusätzlich erhöhte Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme zu stellen. Nächtliche Durchsuchungen sind von Verfassungs wegen nur ausnahmsweise zulässig, weil eine Wohnungsdurchsuchung während dieser Zeit ungleich stärker in die Rechtssphäre des Betroffenen eingreift als zur Tageszeit. Stellt bereits die Durchsuchung der Wohnung bei Tage einen schwerwiegenden Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Wohnungsinhabers dar, sind bei einer nächtlichen Wohnungsdurchsuchung zusätzlich die Nachtruhe und die damit verbundene besondere Privatsphäre betroffen (BVerfG, Beschluss vom 12. März 2019 – 2 BvR 675/14 –, Rn. 61, juris). Dem trägt § 16 Abs. 2 Satz 3 BremVwVG dadurch Rechnung, dass er die Durchsuchung zur Nachtzeit nur unter eingeschränkten Voraussetzungen zulässt. Die Verfassungsmäßigkeit der Regelung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass sie keine dem § 58 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entsprechende Regelung enthält. Es ist nicht per se davon auszugehen, dass die mit der Organisation der Abschiebung begründete Wohnungsdurchsuchung zur Nachtzeit nach Art. 13 Abs. 1 GG unverhältnismäßig ist. Die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme ist vielmehr unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu bestimmen.

20 c. Die Wohnungsdurchsuchung beim Antragsgegner zur Nachtzeit wahrt im konkreten Einzelfall die Grenzen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.

21 Die Maßnahme erweist sich unter Berücksichtigung der Interessen der Antragstellerin an einer zeitnahen Durchführung der Abschiebung als erforderlich. Insbesondere stellt die Durchsuchung und Ergreifung des Antragsgegners schon am Vorabend der geplanten Abschiebung kein gegenüber der nächtlichen Durchsuchung milderes Mittel dar. Denn die Wohnungsdurchsuchung am Vorabend hätte neben einem Eingriff in Art. 13 Abs. 1 GG zusätzlich die vorübergehende Ingewahrsamnahme des Antragsgegners zur Folge, die aufgrund ihrer Dauer sogar als Freiheitsentziehung zu werten wäre (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15.05.2002 – 2 BvR 2292/00 –, Rn. 28, juris). Das ist bei seiner Sofortabschiebung im Anschluss an die Wohnungsdurchsuchung nicht in vergleichbarer Weise der Fall. Nicht jede Zwangsmaßnahme, die die körperliche Bewegungsfreiheit vorübergehend einschränkt, ist zu den intensiven Freiheitsbeschränkungen zu rechnen, die als Freiheitsentziehung den besonderen Schutz des Art. 104 Abs. 2 GG auslösen. Eine Maßnahme des unmittelbaren Zwanges gegen eine Person zur Durchsetzung eines Verhaltens, zu dem der Betroffene (ohnehin) rechtlich verpflichtet ist, ist - wie bei einer Abschiebung - nicht schon wegen des mit ihr verbundenen Eingriffs in die körperliche Bewegungsfreiheit notwendig Freiheitsentziehung. Die Auswirkungen auf die Bewegungsfreiheit stellen sich als sekundäre kurzzeitige Folge der Durchsetzung der Ausreisepflicht dar. Die für die körperliche Bewegungsfreiheit relevanten äußeren Umstände wie Beförderung zum Flughafen und Durchführung des Fluges sind im Wesentlichen denen vergleichbar, die gegeben sind, wenn der Ausländer seiner Ausreisepflicht freiwillig nachkommt (vgl. zu BVerwG, Urteil vom 23.06.1981 - I C 78.77 -, Rn. 12, 14, juris ; OVG NW, Beschluss vom 28.11.2006 – 19 B 1789/06 –, Rn. 25 - 26, juris). Aus der Sicht des erkennenden Senats stellt sich die Wohnungsdurchsuchung am Vorabend der Abschiebung mit anschließender Ingewahrsamnahme über Nacht als gegenüber der einmaligen nächtlichen Wohnungsdurchsuchung bereits aufgrund ihrer Dauer daher als ungleich eingriffsintensiver für den Antragsgegner dar. Ob im Einzelfall etwas anderes gilt, wenn im Falle der nächtlichen Wohnungsdurchsuchung nicht nur die Einschränkung der Rechte des Ausländers, sondern auch die unbeteiligter Dritter droht, kann hier offen bleiben. Der Antragsgegner bewohnt nach Auskunft der Antragstellerin den ihm zugewiesenen Wohnraum in der Gemeinschaftsunterkunft allein.

22 Die Wohnungsdurchsuchung zur Nachtzeit erweist sich für die zwangsweise Durchsetzung der Ausreisepflicht des Antragsgegners als verhältnismäßig im engeren Sinne. Das Recht des Antragstellers auf Wahrung seiner räumlich-gegenständlichen Privatsphäre und auf ungestörte Nachtruhe vermag sich auch bei Berücksichtigung des gebotenen strengen Maßstabs nicht gegenüber dem Interesse der Antragstellerin an einer zeitnahen Abschiebung des Antragsgegners durchzusetzen. Im Rahmen der Abwägung der betroffenen Schutzgüter ist zu berücksichtigen, dass es der Ausreisepflichtige selbst in der Hand hat, die Anwendung von Zwangsmitteln abzuwenden, indem er seiner gesetzlichen Ausreisepflicht freiwillig nachkommt. Mit Blick auf das vom Ausreisepflichtigen ggf. verfolgte Ziel, die Abschiebung zu vereiteln, ist sein Interesse, von einer Wohnungsdurchsuchung verschont zu bleiben, grundsätzlich weniger schutzwürdig als das eines mitbetroffenen Dritten, der keinen Anlass zu der Anordnung einer Durchsuchung gegeben hat (vgl. hierzu BeckOK Grundgesetz/Kluckert/Fink, 41. Ed., Stand: 15.5.2019, GG Art. 13 Rn. 14a). Demgegenüber kann die Antragstellerin nicht ohne weiteres darauf verwiesen werden, die Durchsetzung der Ausreisepflicht vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer im Wege unmittelbaren Zwangs so zu planen, dass eine nächtliche Wohnungsdurchsuchung von vornherein ausscheidet. Denn sie ist bei der Planung und Durchführung der Abschiebung nicht frei. Vielmehr geben die erforderliche Abstimmung mit weiteren an der Abschiebung beteiligten Behörden, hier der Bundespolizei, und nicht zuletzt das Angewiesensein auf für eine Flugabschiebung zur Verfügung stehende Flüge und Flugzeiten die Parameter der Abschiebung weitestgehend vor. [...]