VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 16.02.2021 - 3 B 1049/20; 3 D 1051/20 - asyl.net: M29648
https://www.asyl.net/rsdb/m29648
Leitsatz:

Einstweiliger Rechtsschutz zum Schutz der familiären Lebensgemeinschaft:

"1. Bei Auslegung und Anwendung von § 123 VwGO sind die Fachgerichte gemäß Art. 19 Abs.4 GG gehalten, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn sonst dem Antragsteller eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung seiner Rechte droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen.

2. Der Grundsatz, dass jeder Ausländer, dem kein vorläufiges Bleibe- oder Aufenthaltsrecht nach § 81 AufenthG zusteht, darauf verwiesen werden kann, das auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gerichtete Verfahren vom Ausland aus zu betreiben, wird durchbrochen, wenn ein Aufenthaltsrecht geltend gemacht wird, das nur vom Inland aus erstritten werden kann (§§ 25 Abs. 5, 60a Abs. 2 AufenthG).

3. Ist ein Verfahren nach § 85a AufenthG nicht eingeleitet worden, ist von einer wirksamen Vaterschaftsanerkennung auszugehen.

4. Maßgeblich für die Annahme einer gem. Art. 6 GG und Art. 8 EMRK schützenswerten Lebensgemeinschaft ist nicht die auf dem Papier erklärte Sorge für ein Kind, sondern die tatsächlich gelebte.

5. Bei der Frage, ob auf Grund der besonderen Umstände des Einzelfalls die Nachholung des Visumverfahrens zumutbar ist, sind die Anforderungen von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK zu berücksichtigen. Sind kleine Kinder von der Ausreise des Ausländers betroffen, kann auch eine kurzfristige Trennung unzumutbar sein.

6. Eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 AufenthG kann vorliegen, wenn der schutzbedürftige Familienangehörige ein eigenständiges Leben nicht führen kann, sondern auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe dringend angewiesen ist und diese Hilfe in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann. Ist hierbei ein Kind betroffen, ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Fall von Patchworkfamilien deren Besonderheiten sorgfältig zu ermitteln und zu berücksichtigen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: einstweilige Anordnung, Visumsverfahren, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, familiäre Lebensgemeinschaft, Kindeswohl, Eltern-Kind-Verhältnis, Sorgerecht, Patchworkfamilie, Vaterschaftsanerkennung, missbräuchliche Anerkennung der Vaterschaft,
Normen: GG Art. 6, EMRK Art. 8, VwGO § 123, GG Art. 19 Abs. 4, AufenthG § 81, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 60a Abs. 2, AufenthG § 5 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

13 Dem Antragsteller steht ein sicherungsfähiger Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels vom Bundesgebiet aus zu, was sich aus den Schutzwirkungen von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK in Verbindung mit den aufenthaltsrechtlichen Vorschriften der §§ 25 Abs. 5, 60a Abs. 2 AufenthG ergibt.

14 Das Verwaltungsgericht hat unberücksichtigt gelassen, dass von dem Grundsatz, wonach jeder Ausländer, dem kein vorläufiges Bleibe- oder Aufenthaltsrecht nach § 81 AufenthG zusteht, das auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gerichtete Verfahren vom Ausland aus zu betreiben hat, Ausnahmen bereits im Aufenthaltsgesetz vorgesehen und im Fall des Antragstellers einschlägig sind. [...]

16 [...] Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG gilt zunächst und zuvörderst der Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Die leibliche und seelische Entwicklung der Kinder findet in der Familie und der elterlichen Erziehung eine wesentliche Grundlage. Familie als verantwortliche Elternschaft wird von der prinzipiellen Schutzbedürftigkeit des heranwachsenden Kindes bestimmt (vgl. BVerfGE 80, 81 <90>). Besteht eine solche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen dem Ausländer und seinem Kind und kann diese Gemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht werden, etwa weil das Kind deutscher Staatsangehörigkeit und ihm wegen der Beziehungen zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.01.2002 - 2 BvR 231/00 -, juris Rdnr. 22; vgl. auch BVerfGE 80, 81 <95> zur Erwachsenenadoption). [...]