Kein Rügeausschluss wegen falscher Annahme der örtlichen Zuständigkeit bei Anordnung von Abschiebungshaft bei krasser Missdeutung der Norm:
Grundsätzlich kann nach § 65 Abs. 4 FamFG die Beschwerde nicht darauf gestützt werden, dass das Gericht des ersten Rechtszugs seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen hat. Etwas anderes gilt jedoch, wenn die Annahme der Zuständigkeit im Verfahrensrecht keine Stütze mehr findet. Dies ist der Fall, wenn Art. 101 Abs. 1 GG, das Recht auf den gesetzlichen Richter, verletzt ist. Davon ist auszugehen, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt der Norm in krasser Weise missgedeutet wird.
(Leitsätze der Redaktion)
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Die Beschwerde hat mit dem Feststellungsantrag Erfolg, weil die Haftanordnung rechtswidrig war. Das Amtsgericht war für die Entscheidung über die Haft nicht zuständig.
1. Grundsätzlich kann zwar gemäß § 65 Abs. 4 FamFG die Beschwerde nicht darauf gestützt werden, dass das Gericht des ersten Rechtszugs seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen hat. Eine einschränkende Auslegung der § 65 Abs. 4 FamFG ist verfassungsrechtlich allerdings dann geboten und die Rüge der fehlenden Zuständigkeit daher im Rechtsmittelverfahren zu berücksichtigen, wenn die Annahme der Zuständigkeit im Verfahrensrecht keine Stütze mehr findet. Denn in einem solchen Fall ist der Betroffene in seinen Verfahrensgrundrechten aus Art. 1 04 Abs. 2 und Art. 101 Abs. 1 GG verletzt (BGH, Beschluss vom 24. Juni 2020, XIII ZB 44/19).
Eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 GG ist dabei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht bei jeder fehlerhaften Rechtsanwendung begründet. Sie liegt aber vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird. Das ist anhand objektiver Kriterien festzustellen, wobei Schuldhaftes Handeln nicht erforderlich ist (BVerfG, Beschluss vom 14. Februar 2018, 1 BvR 2120/16).
2. Hieran gemessen kann die Haftanordnung keinen Bestand haben. Denn die Annahme einer Zuständigkeit des Amtsgerichts Hannover findet im Gesetz keine Stütze und berücksichtigt nicht erkennbar die Zuständigkeitsnorm des § 416 FamFG.
Gemäß § 416 Satz 1 FamFG ist in Freiheitsentziehungssachen das das Gericht örtlich zuständig, in dessen Bezirk die Person, der die Freiheit entzogen werden soll, ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, sonst das Gericht, in dessen Bezirk das Bedürfnis für die Freiheitsentziehung entsteht. Befindet sich die Person bereits in Verwahrung einer abgeschlossenen Einrichtung, ist gemäß § 416 Satz 2 FamFG das Gericht zuständig, in dessen Bezirk die Einrichtung liegt.
Das Verhältnis der dadurch begründeten Zuständigkeiten ist zwar nicht eindeutig. So ist zum einen das Verhältnis zwischen der Zuständigkeit aufgrund des gewöhnlichen Aufenthaltsortes und der Zuständigkeit aufgrund des Ortes des Festnahmebedürfnisses durch den Wortlaut nur unpräzise beschrieben (Keidel, FamFG § 416 Rn. 5). Zum anderen ist unklar, ob der die Zuständigkeit aufgrund des Verwahrungsortes den übrigen Zuständigkeiten zwingend vorgeht oder nicht (Keidel, FamFG § 416 Rn. 10).
Auf das Verhältnis der Zuständigkeitsvarianten kommt es jedoch im vorliegenden Fall nicht an. Denn eine Zuständigkeit des Amtsgerichts Hannover ist unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt begründbar. Eine Zuständigkeit des Amtsgerichts Hannover für den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Betroffenen gemäß § 416 Satz 1 FamFG, § 8c Nr. 4 ZustVO-Justiz bestand nicht mehr, nachdem der Betroffene bereits im November 2018 seine Unterkunft in ... aufgegeben hatte und im Mai 2019 von der ... in die ... verlegt worden war, wohin er auch meldebehördlich umgemeldet wurde.
Der Ort des Festnahmebedürfnisses lag ebenfalls nicht im Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts Hannover. Denn dieses Bedürfnis entsteht nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht am Sitz der Ausländerbehörde, sondern dort, wo sich der Betroffene befindet und die Gefahrensituation auftritt, der mit der Freiheitsentziehung begegnet werden soll (BGH, Beschluss vom 15. Dezember 2020, XIII ZB 143/19}. Dieser Ort lag in ... da sich der Betroffene dort bis zu seiner Vorführung aufhielt. Seine Vorführung vor das Amtsgericht Hannover änderte hieran nichts, weil die gesetzlichen Zuständigkeitsregelungen nicht durch die von einem unzuständigen Gericht angeordnete Vorführung umgangen werden können.
Da sich der Betroffene in Strafhaft in der JVA ... befand, lag in ... außerdem der zuständigkeitsbegründende Verwahrungsort gemäß § 416 Satz 2 FamFG. Auch unter diesem Gesichtspunkt bestand deshalb keine Zuständigkeit des Amtsgerichts Hannover, sondern des Amtsgerichts Oldenburg, das gemäß § 8c Nr. 7 ZustVO-Justiz in Abschiebungshaftsachen für ... zuständig ist.
3. Eine Heilung des Zuständigkeitsmangels im Beschwerdeverfahren ist nicht möglich. Da die Kammer für eine Beschwerde gegen eine Haftanordnung des Amtsgerichts Oldenburg nicht zuständig gewesen wäre, ist auch sie nicht zu einer Sachentscheidung über die Haft berufen. [...]