OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 19.04.2021 - 10 LB 244/20 (Asylmagazin 6/2021, S. 228 ff.); Parallelentscheidung: 10 LB 245/20 - asyl.net: M29568
https://www.asyl.net/rsdb/m29568
Leitsatz:

Asylanträge von in Griechenland schutzberechtigten Personen dürfen nicht als unzulässig abgelehnt werden:

"[...] Vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalls besteht generell die ernsthafte Gefahr, dass diese Personen im Falle ihrer Rückkehr nach Griechenland ihre elementarsten Bedürfnisse für einen längeren Zeitraum nicht werden befriedigen können und damit ihre Rechte aus Art. 4 GRCH und Art. 3 EMRK verletzt werden."

(Amtlicher Leitsatz; Parallelentscheidung: 10 LB 245/20; siehe Beitrag des MIGAZIN vom 20. April 2021 sowie OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21.01.2021 - 11 A 1564/20.A - asyl.net: M29253)

Schlagwörter: Griechenland, internationaler Schutz in EU-Staat, Unzulässigkeit, Zulässigkeit, ausländische Anerkennung, Lebensbedingungen, Sekundärmigration, Anerkannte, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Aufnahmebedingungen, Versorgungslage, Hamed, Omar, Hamed und Omar,
Normen: EMRK Art. 3, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 77 Abs. 1, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

23 1. Die Beklagte hat den Asylantrag der Klägerin zu Unrecht als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1). Sie kann ihren Bescheid nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG stützen. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedsstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Der Klägerin wurde durch die Republik Griechenland bereits internationaler Schutz gewährt. Dennoch rechtfertigt dies im Falle der Klägerin nicht die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig, da der Klägerin bei Rücküberstellung nach Griechenland eine Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 4 GRC droht. Dieses Grundrecht garantiert, dass niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf. [...]

27 Gemessen daran besteht für die Klägerin, der in Griechenland bereits internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die Gefahr einer gegen Art. 4 GRC verstoßenden Behandlung. Denn der Senat ist nach Auswertung aller herangezogenen Erkenntnismittel zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in Griechenland in eine Situation extremer materieller Not geraten und ihre elementarsten Bedürfnisse ("Bett, Brot, Seife") für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen können wird (ebenso OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21.1.2021 – 11 A 1564/20.A –, juris Rn. 30 ff.; a. A. OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 6.9.2019 – 4 LB 17/18 –, juris).

28 a) Es besteht die ernsthafte Gefahr, dass die Klägerin bei einer Rücküberstellung nach Griechenland dort keine menschenwürdige Unterkunft finden und über einen längeren Zeitraum obdachlos sein wird, weil ihr von der Republik Griechenland keine Unterkunft gestellt (dazu unter aa)), sie keine wohnungsbezogenen Sozialleistungen erhalten (dazu unter bb)), sie auch bei nichtstaatlichen Stellen keine nennenswerte Chance auf den Erhalt bzw. die Vermittlung von Wohnraum haben (dazu unter cc)), sie auch auf dem freien Wohnungsmarkt keinen Wohnraum anmieten können (dazu unter dd)), sie aber auch nicht die Möglichkeit haben wird, sich auf dem Rechtsweg eine Unterkunft zu verschaffen und damit Obdachlosigkeit zu vermeiden (dazu unter ee)), und sie aus diesen Gründen konkret von Obdachlosigkeit bedroht sein wird (dazu unter ff)).

29 aa) Staatliche Unterkunftsgewährung

30 Anerkannt Schutzberechtigte, die aus dem Ausland nach Griechenland rücküberstellt werden, haben keinen Anspruch auf Unterbringung in einer staatlichen Unterkunft. [...]

35 bb) Wohnungsbezogene Sozialleistungen

36 Rücküberstellte anerkannt Schutzberechtigte erhalten auch keine wohnungsbezogenen Sozialleistungen (Raphaelswerk, Griechenland: Informationen für Geflüchtete, die nach Griechenland rücküberstellt werden, Stand: 12/2019, Seite 9, bit.ly/3iRZYZa, Abruf: 28.1.2021, im Folgenden: Raphaelswerk). Das zum 1. Januar 2019 neu eingeführte Wohngeld greift nur bei einem legalen Voraufenthalt von mindestens 5 Jahren in Griechenland (ProAsyl/RSA, Stellungnahme April 2021, Seite 19, und Stellungnahme vom 4.6.2020, Rn. 41; AA an das VG Berlin vom 4.12.2019, Seite 5, und an das VG Stade vom 6.12.2018, Seite 2). Die Höhe beträgt maximal 70 € für eine Einzelperson und maximal 210 € für einen Mehrpersonenhaushalt (AA an das VG Leipzig vom 28.1.2020, Seite 2). [...]

39 dd) Anmietung von Wohnraum auf dem freien Wohnungsmarkt

40 Eine Anmietung von Wohnraum kommt zumindest dann nicht Betracht, wenn die rücküberstellten Personen nicht über ausreichende Finanzmittel verfügen, die sie mit eigener Erwerbstätigkeit – wie im Folgenden unter b) ausgeführt – nicht erlangen können. Dabei ist auch in Betracht zu ziehen, dass anerkannt Schutzberechtigte nicht nur die Mittel für die laufenden Mietzahlungen benötigen, sondern auch für die Hinterlegung einer Mietkaution (ProAsyl/RSA, Stellungnahme April 2021, Seite 9; ProAsyl/RSA, Stellungnahme vom 4.6.2020, Rn. 38). [...]

42 ee) Rechtsschutz zur Vermeidung von Obdachlosigkeit

43 Es besteht für anerkannte Schutzberechtigte auch keine realistische Möglichkeit, sich auf dem Rechtsweg eine Unterkunft zu verschaffen. Laut einer Auskunft des Auswärtigen Amts an das VG Schleswig besteht kein gesetzlicher Anspruch auf Vermeidung von Obdachlosigkeit nach griechischem Recht (AA an das VG Schleswig vom 15.10.2020, n.v.). Zwar ist gemäß Art. 21 Abs. 4 der griechischen Verfassung "Die Verschaffung von Wohnungen für Obdachlose oder ungenügend Untergebrachte Gegenstand der besonderen Sorge des Staates". Daraus lasse sich aber – so das Auswärtige Amt – kein Rechtsanspruch herleiten. Es handele sich vielmehr um eine Staatszielbestimmung. Auch einfachrechtlich sei kein Rechtsanspruch auf Zuweisung von Wohnraum statuiert. Ein Eilrechtsschutz mit dem Ziel der Unterbringung bestehe nicht. [...]

47 ff) Als Folge der geschilderten fehlenden bzw. unzureichenden Unterstützung durch staatliche und nichtstaatliche Stellen sind in Griechenland zahlreiche international Schutzberechtigte obdachlos.

48 In Presseberichten wird die Zahl von 11.000 Flüchtlingen genannt, die allein infolge der bereits oben geschilderten verschärften Praxis der griechischen Behörden, Flüchtlinge spätestens binnen 30 Tagen nach Anerkennung eine Unterkunft in einem Flüchtlingslager zu verweigern, obdachlos geworden sind (ProAsyl/RSA, Griechenland: Selbst anerkannten Flüchtlingen droht Verelendung, 14.9.2020, bit.ly/3cUtA6Y, Abruf: 6.4.2021; Ärzte ohne Grenzen, Regierung treibt Tausende Flüchtlinge gezielt in Obdachlosigkeit, 14.7.2020, bit.ly/3dwgNX6, Abruf: 6.4.2021; Der Spiegel, Plötzlich vor dem Nichts, 6.6.2020, bit.ly/3wwkvZH, Abruf: 6.4.2021). Rücküberstellte anerkannt Schutzberechtigte vergrößern diese Gruppe der Obdachlosen noch, zumal sie – wie ausgeführt – selbst nicht (mehr) berechtigt sind, in eine Flüchtlingsunterkunft aufgenommen zu werden. Aufgrund des Mangels an Unterbringungskapazitäten greifen anerkannt Schutzberechtigte, einschließlich Vulnerable, auf Notunterkünfte zurück oder bleiben in den städtischen Gebieten von Athen, Thessaloniki und Petra obdachlos. Andere leben unter prekären Bedingungen in besetzten oder verlassenen Gebäuden ohne Zugang zu Strom oder Wasser (vgl. BFA (österr.), Länderinformationsblatt der Staaten Dokumentation: Griechenland, Stand: 19.3.2020, n. v., Seite 21).

49 Die Klägerin kann nicht auf solche "informelle Möglichkeiten" der Unterkunft in verlassenen bzw. besetzten Gebäuden verwiesen werden. Denn abgesehen von der Illegalität dieser Unterkunftsform sind diese Gebäude wegen der dort zumeist herrschenden menschenunwürdigen Zustände unzumutbar (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21.1.2021 – 11 A 1564/20.A –, juris Rn. 62f. m.w.N.). Diese Situation hat sich durch die Auflösung von Flüchtlings-Camps auf den ägäischen Inseln und die Erschwernisse infolge der Corona-Krise noch verschärft (siehe hierzu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21.1.2021 – 11 A 1564/20.A –, juris Rn. 49-62 m.w.N.).

50 Zusammengefasst besteht für die Klägerin eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, nach einer Rücküberstellung nach Griechenland obdachlos zu werden. Dass es vereinzelt nicht zur Obdachlosigkeit kommt, weil es mithilfe von Nichtregierungsorganisationen oder Unterstützung anderer Flüchtlinge gelingt, eine Wohnung und eine Arbeit zu finden, steht diesem Ergebnis nicht entgegen. Gefordert ist nur, dass der Klägerin mit "beachtlicher Wahrscheinlichkeit" eine Verletzung des Mindestinhalts ihres Grundrechts gemäß Art. 4 GRC ("Brot, Bett und Seife") droht. Eine solche Wahrscheinlichkeit lässt sich aufgrund der vorbeschriebenen Lage in Griechenland nicht verneinen (so auch OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21.1.2021 – 11 A 1564/20.A –, juris Rn. 41 ff.). [...]

52 b) Die Klägerin wird ferner mit hoher Wahrscheinlichkeit im Falle ihrer Rücküberstellung nach Griechenland nicht in der Lage sein, mit Erwerbstätigkeit die finanziellen Mittel zu erlangen, die sie für die Versorgung mit den für ein Überleben notwendigen Gütern benötigt.

53 Die Ausstellung zahlreicher, für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit benötigter Dokumente ist an hohe Voraussetzungen geknüpft und teils wechselseitig vom Vorhandensein weiterer Dokumente abhängig (ProAsyl/RSA, Stellungnahme zur Situation international Schutzberechtigter in Griechenland, 9.12.2020, Seite 3, bit.ly/39q6FhM, Abruf: 28.1.2021, im Folgenden: Stellungnahme vom 9.12.2020).

54 Anerkannt Schutzberechtigte können zwar eine Beschäftigung oder eine selbstständige Tätigkeit unter denselben Bedingungen aufnehmen, die für griechische Bürger gelten (AA vom 21.8.2020 an das VG Bayreuth, Seite 2, n.v.; AA vom 6.12.2018 an das VG Stade, Seite 8, n.v.), sofern sie eine gültige Aufenthaltserlaubnis besitzen (Respond, Seiten 17, 25).

55 Schon die Erlangung dieser Aufenthaltserlaubnis gestaltet sich indes schwierig. Anders als in Deutschland reicht ein bestandskräftiger Anerkennungsbescheid der Asylbehörde, mit dem einer Person internationaler Schutz zuerkannt wurde, in Griechenland nicht aus, um die entsprechende Aufenthaltserlaubnis zu beantragen. Zusätzlich wird ein sogenannter ADET- Bescheid benötigt, bei dem es sich um eine Anweisung des zuständigen Regionalbüros der Asylbehörde handelt, eine Aufenthaltserlaubnis auszustellen. Erst mit einem solchen Bescheid kann bei der Passbehörde der griechischen Polizei ein Termin vereinbart werden, um die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zu beantragen. In der Praxis gibt es zwischen Beantragung und Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis Wartezeiten von bis zu einem Jahr (ProAsyl/RSA, Stellungnahme April 2021, Seiten 12, 14). International Schutzberechtigte, die keine gültige Aufenthaltserlaubnis besitzen, haben keinen Zugang zum Arbeitsmarkt (ProAsyl/RSA, Stellungnahme April 2021, Seite 12). [...]

63 c) Die Klägerin wird im Falle ihrer Rückkehr nach Griechenland auch keinen Zugang zu staatlichen Sozialleistungen haben, mit deren Hilfe sie dort ihr Existenzminimum sichern kann.

64 Anerkannt Schutzberechtigte haben in Griechenland grundsätzlich Zugang zu der seit Februar 2017 schrittweise eingeführten sozialen Grundsicherung. Das System der Sozialhilfe basiert auf drei Säulen. Die erste Säule sieht ein Sozialgeld, das sogenannte "Garantierte Mindesteinkommen", in Höhe von 200 Euro für einen Einpersonenhaushalt vor, das sich pro zusätzlicher erwachsener Person um 100 EUR und pro zusätzlichem Kind um 50 EUR erhöht (ProAsyl/RSA, Stellungnahme April 2021, Seite 18). Diese Säule ist etabliert und bedarf einer elektronischen griechisch-sprachigen Antragstellung. Die zweite Säule besteht aus Sach- und Beratungsleistungen und die dritte aus der Arbeitsmarktintegration; sie befindet sich aber noch im Aufbau (AA, Auskunft an das VG Leipzig vom 28.1.2020, Seite 2 f.). [...]

71 d) Schließlich wird die Klägerin auch durch die Unterstützung durch nichtstaatliche Stellen nicht in die Lage versetzt, ihre elementarsten Bedürfnisse in Griechenland zu befriedigen.

72 Verschiedene Nichtregierungsorganisationen unterhalten Suppenküchen, in denen Bedürftige – d.h. sowohl Einheimische als auch Ausländer – warme Mahlzeiten erhalten können (vgl. ProAsyl/RSA,  Stellungnahme vom 30.8.2018, Seite 8). Punktuell bieten sie auch Unterstützung bei der Arbeitssuche bzw. der Beantragung von Sozialleistungen an (AA, Auskunft an das VG Stade vom 6.12.2018, Seiten 10 f.). In geringem Umfang gelingt es Flüchtlingen auch, Nahrungsmittel für sich selbst und andere Flüchtlinge durch Spendenmittel zu erlangen (The World, In Greece, refugees and migrants turn to each other to get through coronavirus pandemic, 23.4.2020, bit.ly/2Q1g4p4, Abruf: 7.4.2021). Diese Hilfsmaßnahmen, die ergänzt werden durch Hilfen der orthodoxen Kirche und der Zivilgesellschaft, können aber lediglich als "elementares Auffangnetz gegen Hunger und Entbehrungen" bezeichnet werden (vgl. AA, Auskunft an das VG Schwerin vom 26.9.2018, Seite 4).

73 Nach allem geraten anerkannte Schutzberechtigte, wie die Klägerin, nach einer Rücküberstellung nach Griechenland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Obdachlosigkeit, erhalten in der Praxis keinen Zugang zu elementaren Leistungen und können auch sonst auf keine ausreichende Unterstützung von staatlicher oder nichtstaatlicher Seite hoffen mit der Folge, dass ihnen innerhalb kürzester Zeit Verelendung und ein Leben unter menschenrechtswidrigen Bedingungen droht (so auch ProAsyl/RSA, Stellungnahme vom 9.12.2020, Seite 1). [...]