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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 16.02.2021 - 1 C 29.20 - asyl.net: M29563
https://www.asyl.net/rsdb/m29563
Leitsatz:

Erkennungsdienstliche Behandlung nach Rücknahme eines Asylantrags:

"1. Die Befugnis des Bundesamts zur Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen zum Zwecke der Identitätssicherung gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 AsylG endet nicht generell mit der Rücknahme des Asylantrags, sondern erstreckt sich dem Grunde nach auch auf die dem Asylverfahren zuzurechnende Phase bis zur Beendigung des Aufenthalts oder Entstehung eines asylverfahrensunabhängigen Aufenthaltsrechts.

2. Die Befugnis des Bundesamts zur nachträglichen Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen greift nicht bei Unionsbürgern, deren Identität geklärt ist und denen nach Rücknahme ihres Asylantrags ein unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht zusteht oder deren Freizügigkeitsberechtigung vermutet wird.

3. Die Befugnis des Bundesamts zur Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen endet vorbehaltlich weitergehender Einschränkungen aus dem Unionsrecht jedenfalls mit der Erteilung eines Aufenthaltstitels."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: erkennungsdienstliche Maßnahmen, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Asylverfahren, Zuständigkeit, Befugnis, EU-Staatsangehörige, Aufenthaltserlaubnis, Ausreise, Aufenthaltsbeendigung, Identitätsfeststellung, Identitätsklärung, erkennungsdienstliche Behandlung, EURODAC, Mitwirkungspflicht,
Normen: AsylG § 1 Abs. 1, AsylG § 12, AsylG § 15 Abs. 2, AsylG § 16, AsylG § 34, AsylG § 55 Abs. 2, AsylG § 73 Abs. 2a S. 2, AufenthG § 49, FreizügG/EU § 2 Abs. 1, FreizügG/EU § 5 Abs. 4 S. 1, FreizügG/EU § 8, FreizügG/EU § 11 Abs. 1 S. 1, AEUV Art. 18, VO 603/2013 Art. 1, VO 603/2013 Art.9, VO 603/2013 Art. 13, VO 603/2013 Art. 16, VO 2016/679 Art. 9 Abs. 2g, RL 2013/32/EU Art. 13, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

7 [...] Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass der Kläger als Unionsbürger nicht verpflichtet ist, die vom Bundesamt nachträglich angeordneten erkennungsdienstlichen Maßnahmen nach § 16 Abs. 1 Satz 1 und 2 i.V.m. § 15 Abs. 2 Nr. 7 AsylG zu dulden (1.). Zwar endet die Befugnis des Bundesamts zur Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung nicht generell mit der Rücknahme des Asylantrags (1.1). Sie greift aber jedenfalls nicht bei Unionsbürgern, deren Identität geklärt ist und denen nach Rücknahme ihres Asylantrags ein unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht zusteht oder deren Freizügigkeitsberechtigung vermutet wird (1.2). Ob und inwieweit eine (nachträgliche) erkennungsdienstliche Behandlung durch das Bundesamt im Lichte des Unionsrechts - insbesondere der Richtlinie 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) und der Verordnung (EU) Nr. 2016/679 (Datenschutzgrundverordnung) - weitergehenden Beschränkungen unterliegt, bedarf aus Anlass des vorliegenden Falles keiner abschließenden Entscheidung (1.3); in jedem Fall endet die Anordnungsbefugnis des Bundesamts mit der Erteilung eines Aufenthaltstitels (1.4). Besteht damit vorliegend schon wegen der Unionsbürgerschaft des Klägers keine Befugnis zur nachträglichen Anordnung einer erkennungsdienstlichen Behandlung durch das Bundesamt (1.5), gilt dies gleichermaßen für die an diese Grundverfügung anknüpfende Androhung der Vorführung zur Abnahme von Fingerabdrücken und Aufnahme eines Lichtbildes (2.). [...]

10 Nach § 16 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist die Identität eines Ausländers, der um Asyl nachsucht, durch erkennungsdienstliche Maßnahmen zu sichern. Hierzu dürfen nach § 16 Abs. 1 Satz 2 AsylG bei Ausländern, die das vierzehnte Lebensjahr vollendet haben, Lichtbilder und Abdrücke aller zehn Finger genommen werden. Die danach vorgeschriebenen erkennungsdienstlichen Maßnahmen hat ein Ausländer nach § 15 Abs. 2 Nr. 7 AsylG zu dulden (BVerwG, Urteil vom 5. September 2013 - 10 C 1.13 - BVerwGE 147, 329 Rn. 20). Zuständig für Maßnahmen nach § 16 Abs. 1 Satz 1 AsylG und damit auch für deren Anordnung und Vollstreckung ist nach § 16 Abs. 2 AsylG - neben möglichen weiteren Behörden - das Bundesamt als Asylbehörde.

11 1.1 Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass die Befugnis des Bundesamts zur Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen zum Zwecke der Identitätssicherung nicht generell mit der Rücknahme des Asylantrags endet (s.a. VG Leipzig, Beschluss vom 19. Juni 2018 - 7 L 647/18.A - juris Rn. 15; a.A. VG Lüneburg, Urteil vom 14. Mai 2019 - 4 A 189/19 - juris Rn. 17 ff.). Zwar müssen erkennungsdienstliche Maßnahmen des Bundesamts im Zusammenhang mit einem Asylverfahren stehen. Allein der Umstand, dass ein Ausländer in der Vergangenheit irgendwann einmal einen Asylantrag gestellt hat, rechtfertigt unter Berücksichtigung der allgemeinen Aufgaben- und Zuständigkeitsverteilung zwischen Bundesamt und Ausländerbehörde keine unbeschränkte Befugnis zur nachträglichen Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen durch das Bundesamt. Die dem Grunde nach noch einem konkreten Asylverfahren zuzurechnende Phase erfasst nach Ablehnung oder Rücknahme eines Asylantrags aber den Zeitraum bis zur Beendigung des Aufenthalts oder der Entstehung eines asylverfahrensunabhängigen Aufenthaltsrechts.

12 Keine Beschränkung auf die Phase bis zur Bescheidung oder Rücknahme des Asylantrags folgt daraus, dass § 16 Abs. 1 Satz 1 AsylG in der Zeitform des Präsens ("nachsucht") formuliert ist. Auch der Wortlaut des § 1 Abs. 1 AsylG zum Geltungsbereich des Asylgesetzes ("Ausländer, die Folgendes beantragen") ist in dieser Zeitform formuliert, obwohl das Asylgesetz auch Regelungen für den Fall der Ablehnung oder Rücknahme eines Asylantrags enthält. Dafür, dass jedenfalls allein die Rücknahme eines Asylantrags die Anordnungsbefugnis nicht entfallen lässt, spricht vor allem, dass mit der Anordnungsbefugnis nach § 16 Abs. 1 Satz 1 AsylG eine entsprechende Mitwirkungspflicht des Ausländers nach § 15 Abs. 2 Nr. 7 AsylG korrespondiert und § 15 Abs. 5 AsylG klarstellt, dass die Mitwirkungspflichten nicht durch Rücknahme des Asylantrags beendet werden. Ob dies auch für Mitwirkungspflichten gilt, die ausschließlich dem eigentlichen Ziel des Anerkennungsverfahrens (Verifizierung des materiellen Asylvorbringens) dienen, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Jedenfalls, soweit es - wie hier - um identitätssichernde Maßnahmen geht, ist zu berücksichtigen, dass das "Asylverfahren" im Abschnitt 4 des Asylgesetzes den Unterabschnitt "Aufenthaltsbeendigung" mitumfasst, sodass zum Asylverfahren systematisch auch aufenthaltsbeendende Maßnahmen zählen, die an die Ablehnung oder Rücknahme eines Asylantrags anknüpfen. [...]

15 1.2. Die Befugnis des Bundesamts zur nachträglichen Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen gilt aber jedenfalls nicht bei Unionsbürgern, deren Identität geklärt ist und denen nach Rücknahme eines Asylantrags ein unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht zusteht oder deren Freizügigkeitsberechtigung vermutet wird.

16 In diesen Fällen scheidet eine Verpflichtung zur Erhebung und Übermittlung von Daten nach der Eurodac-Verordnung schon deshalb aus, weil deren Anwendungsbereich auf die Erfassung, Übermittlung und Speicherung der Daten von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen beschränkt ist. Erwirbt eine Person nachträglich die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats, sind alle über sie im Zentralsystem gespeicherten Daten vorzeitig zu löschen (Art. 13 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 2 Buchst. c VO <EU> Nr. 603/2013).

17 Allerdings verbietet die Eurodac-Verordnung den Mitgliedstaaten nicht, weitere biometrische Daten zu erheben und von ihnen erhobene Daten in ihren nationalen Datenbanken - auch zu anderen Zwecken - zu speichern (vgl. Art. 1 Abs. 3 VO <EU> Nr. 603/2013). Dabei ist bei Unionsbürgern aber zu berücksichtigen, dass sich nach Rücknahme des Asylantrags ihr (weiterer) Aufenthalt im Bundesgebiet nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU richtet. Danach besteht für Unionsbürger die Vermutung eines Freizügigkeitsrechts, die durch eine Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU beseitigt werden muss (BVerwG, Urteil vom 11. September 2019 - 1 C 48.18 - BVerwGE 166, 251 Rn. 13 m.w.N.). Diese unmittelbar unionsrechtlich begründete Rechtsposition erlischt nicht nach § 55 Abs. 2 AsylG mit der Asylantragstellung und steht dem Besitz eines Aufenthaltstitels i.S.v. § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG gleich. Folglich scheiden bei freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern aufenthaltsbeendende Maßnahmen auf asylrechtlicher Grundlage von vornherein aus. Ihr Asylverfahren endet bei Rücknahme des Antrags mit der Einstellung des Asylverfahrens.

18 Damit sind erkennungsdienstliche Maßnahmen bei freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern - jedenfalls nach Abschluss ihres Asylverfahrens - nur nach Maßgabe des Freizügigkeitsgesetzes/EU und unter Beachtung des Diskriminierungsverbots für Unionsbürger nach Art. 18 AEUV zulässig. Die in § 49 AufenthG normierte Befugnis der Ausländerbehörden zur Feststellung und Sicherung der Identität findet auf sie keine entsprechende Anwendung (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU). Nichts Anderes gilt für die Befugnis zur nachträglichen Anordnung erkennungsdienstlicher Maßnahmen durch das Bundesamt auf asylrechtlicher Grundlage. [...]