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VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 30.03.2021 - 11 S 3421/20 - asyl.net: M29537
https://www.asyl.net/rsdb/m29537
Leitsatz:

Zum Vorliegen einer ehelichen Lebensgemeinschaft in Patchwork-Familie:

"§ 33 Satz 1 AufenthG dient der Ermöglichung der familiären Lebensgemeinschaft zwischen dem im Bundesgebiet geborenen Kind und dem hier aufenthaltsberechtigten Elternteil, indem dem Kind eine Aufenthaltserlaubnis allein aufgrund des Aufenthaltsrechts des Elternteils erteilt werden kann.

Zu den Umständen des Einzelfalls, die bei der Ausübung des der Ausländerbehörde insofern zukommenden Ermessens zu berücksichtigen sind, gehört daher auch, ob die familiäre Lebensgemeinschaft voraussichtlich deshalb nicht im Bundesgebiet gelebt werden können wird, weil mit dem künftigen Wegfall des Aufenthaltsrechts des Elternteils zu rechnen ist.

Beruft sich die eine Aufenthaltserlaubnis beantragende Antragstellerin auf ein Aufenthaltsrecht ihres neugeborenen Kindes, das vom aufenthaltsrechtlichen Status des Vaters des Kindes abgeleitet wird, dessen eigene Aufenthaltserlaubnis aber vom Bestand einer ehelichen Lebensgemeinschaft zu einer anderen Frau abhängt, kann ohne nähere Ausführungen zu den Umständen der Vaterschaft und zur Beziehung zwischen dem Vater und seiner Ehefrau nicht davon ausgegangen, dass zwischen beiden eine eheliche Lebensgemeinschaft tatsächlich besteht."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Eltern-Kind-Verhältnis, eheliche Lebensgemeinschaft, Patchwork, abgeleitetes Aufenthaltsrecht, nichteheliches Kind,
Normen: AufenthG § 33 S. 1
Auszüge:

[...]

Die Antragstellerinnen gehen davon aus, dass dem Sohn der Antragstellerin zu 1 eine Aufenthaltserlaubnis "aus § 33 AufenthG" zustehe, weil dessen Vater eine Aufenthaltserlaubnis innehabe.

(a) Bei der vorliegenden Sachlage kommt allein ein Anspruch des Sohnes aus § 33 Satz 1 AufenthG in Betracht. Nach dieser Bestimmung kann einem Kind, das im Bundesgebiet geboren wird, abweichend von den § 5 und § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG von Amts wegen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ein Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis, eine Niederlassungserlaubnis oder eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt – EU besitzt (nach OVG NRW, Urteil vom 07.04.2016 - 17 A 2389/15 -, juris Rn. 24 ff., ist zudem der tatsächliche Bestand einer familiären Lebensgemeinschaft zwischen dem Kind und dem Elternteil Tatbestandsvoraussetzung).

Vorliegend besitzt der Vater des im Bundesgebiet geborenen Sohns der Antragstellerin zu 1 zwar eine Aufenthaltserlaubnis. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für den Sohn steht jedoch im Ermessen der Ausländerbehörde. Angesichts der Umstände des vorliegenden Falles steht nicht zu erwarten, dass die Ausländerbehörde ihr Ermessen zugunsten des Sohnes der Antragstellerin zu 1 ausüben wird, weil sie davon auszugehen haben dürfte, dass dem Vater des Sohnes ein Aufenthaltstitel künftig nicht mehr erteilt werden können wird.

Indem die Ausländerbehörde über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 33 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entscheidet, wird ihr die Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls ermöglicht (BVerwG, Urteil vom 06.11.2014 - 1 C 4.14 -, juris Rn. 25). Der Gesetzgeber beabsichtigt durch diese Ausgestaltung der Anspruchsgrundlage, die Ausländerbehörden mit Steuerungsmöglichkeiten auszustatten. Bei deren Anwendung ist insbesondere die durch Art. 6 GG geschützte Beziehung zwischen Kleinkindern und ihren Eltern im Interesse der Gewährung der Familieneinheit und der Aufrechterhaltung der Eltern-Kind-Beziehung zu berücksichtigten (BT-Drs. 16/5065, S. 176). Diese aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen entfaltet Art. 6 Abs. 1 GG jedoch nicht schon bei formal-rechtlichen familiären Bindungen. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 23.11.2020 - 11 S 3717/20 -, juris Rn. 30, mit Nachweisen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).

Vor diesem Hintergrund dient § 33 Satz 1 AufenthG der Ermöglichung der familiären Lebensgemeinschaft zwischen dem im Bundesgebiet geborenen Kind und dem hier aufenthaltsberechtigten Elternteil, indem dem Kind eine Aufenthaltserlaubnis allein aufgrund des Aufenthaltsrechts des Elternteils erteilt werden kann. Zu den Umständen des Einzelfalls, die bei der Ausübung des der Ausländerbehörde insofern zukommenden Ermessens zu berücksichtigen sind, gehört daher auch, ob die familiäre Lebensgemeinschaft voraussichtlich deshalb nicht im Bundesgebiet gelebt werden können wird, weil mit dem künftigen Wegfall des Aufenthaltsrechts des Elternteils zu rechnen ist (vgl. Schl.-Holst. OVG, Beschluss vom 04.02.2021 - 8 ME 2/21 -, juris Rn. 15 ff.; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, § 33 AufenthG Rn. 11).

(b) Im vorliegenden Fall spricht viel dafür, dass der Vater des Sohnes der Antragstellerin zu 1 künftig nicht mehr über einen Aufenthaltstitel verfügen wird, da erhebliche Zweifel daran bestehen, dass zwischen dem Vater und seiner deutschen Ehefrau die nach § 27 Abs. 1 Satz 1 und § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erforderliche eheliche Lebensgemeinschaft (fort-)besteht. Diesen Umstand werden Ausländerbehörde und Widerspruchsbehörde zu berücksichtigen haben, wenn sie das ihnen nach § 33 Satz 1 AufenthG zukommende Ermessen im Laufe des Verwaltungs- bzw. des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens wie geboten aktualisieren. [...]

Beruft sich die eine Aufenthaltserlaubnis beantragende Antragstellerin auf ein Aufenthaltsrecht ihres neugeborenen Kindes, das vom aufenthaltsrechtlichen Status des Vaters des Kindes abgeleitet wird, dessen eigene Aufenthaltserlaubnis aber vom Bestand einer ehelichen Lebensgemeinschaft zu einer anderen Frau abhängt, kann ohne nähere Ausführungen zu den Umständen der Vaterschaft und zur Beziehung zwischen dem Vater und seiner Ehefrau nicht davon ausgegangen, dass zwischen beiden eine eheliche Lebensgemeinschaft tatsächlich besteht. Solche Ausführungen fehlen hier.

Bei dieser Ausgangslage ist nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Vater des Sohnes der Antragstellerin zu 1 den beantragten Aufenthaltstitel erhalten oder mit der Verlängerung bzw. dem Fortbestand des gegenwärtigen Aufenthaltstitels rechnen können wird. [...]