Flüchtlingsanerkennung für syrischen Wehrdienstentzieher:
1. Syrischen Männern, die sich durch Ausreise und/oder unerlaubten Verbleib im Ausland dem Wehrdienst entzogen haben, drohen bei einer Rückkehr Verfolgungshandlungen durch den syrischen Staat in Form schwerer Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Folter oder Hinrichtung.
2. Die Verfolgungshandlungen knüpfen auch an einen Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG an, da davon auszugehen ist, dass den betroffenen Personen durch das Regime eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
2. Es kann hier dahinstehen, ob der Kläger bereits vorverfolgt aus Syrien ausgereist ist. Jedenfalls droht ihm bei seiner Rückkehr politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Das Gericht ist nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln auch weiterhin davon überzeugt, dass der syrische Staat mit Verfolgungshandlungen i.S.v. § 3a AsylG auf den Militärdienstentzug des Klägers reagiert und damit zumindest auch an eine ihm unterstellte oppositionelle politische Überzeugung anknüpft, ohne dass es – anders als die Beklagte meint – auf das Vorliegen der spezielleren Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG ankommt. Dem Kläger drohen bei seiner Ergreifung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit schwerste Menschenrechtsverletzungen bis hin zur Folter oder gar die Hinrichtung. [...]
Auf der Grundlage dieser Erkenntnislage geht das Gericht davon aus, dass sich der im Zeitpunkt seiner Ausreise 19-jährige Kläger durch seine Ausreise und insbesondere seinen Verbleib im westlichen Ausland einer jederzeit möglichen Einberufung zur Ableistung des Wehrdienstes entzogen und damit seine Militärdienstpflicht verletzt hat. Der Annahme einer Wehrdienstpflicht des Klägers steht nicht entgegen, dass er zunächst aufgrund seiner Ausbildung von der Wehrdienstpflicht befreit war. Das Gericht ist davon überzeugt, dass eine weitere Verlängerung der Befreiung für den Kläger nicht möglich war. Soweit der Kläger vorgetragen hat, dass eine Befreiung nur bis zum 15.01.2020 galt, ist davon auszugehen, dass der Kläger nach Ablauf dieser Pflicht der Wehrdienstpflicht unterlag. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass es sich bei der gemäß Art. 10 des Dekrets Nr. 30/2007 möglichen Zurückstellung vom Militärdienst lediglich um eine vorübergehende Möglichkeit der Befreiung handelt, deren Umsetzung angesichts der aktuellen Erkenntnislage lediglich willkürlich erfolgt, wobei auch bei einem bewilligtem Aufschub eine Zwangsrekrutierung drohen kann (SFH, Aufschub für Studenten, 11.06.2019), ist es beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr wie ein Wehrdienstentzieher behandelt wird. Deswegen droht ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr von Verfolgungshandlungen, die jedenfalls auch Ausdruck einer ihm unterstellten illoyalen, politisch oppositionellen Haltung sind. [...]
aa) Das erkennende Gericht geht mithin weiterhin davon aus, dass sich den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln keine konkreten Tatsachen zum Umgang des syrischen Staates mit Rückkehrern, die sich dem Militärdienst entzogen haben, entnehmen lassen.
Soweit berichtet wird (vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Syrien, Stand: 13.05.2019, S. 41), verschiedenen Quellen zufolge würden Wehrdienstentzieher regelmäßig nur an die Front geschickt werden, gibt dies keine Veranlassung zu einer abweichenden Beurteilung. Denn wie bereits oben dargestellt, kann dies nur solche Personen betreffen, die das Land zuvor nicht verlassen und sich nicht über längere Zeit im westlichen Ausland aufgehalten haben. Das diesbezügliche Verhalten der Sicherheitsbehörden ist insoweit nicht aussagekräftig, da Rückkehrer aus dem westlichen Ausland innerhalb der Gruppe der Wehrdienstverweigerer/ Deserteure unzweifelhaft ein gefahrenerhöhendes Risiko in sich tragen, was ein verschärftes Vorgehen der Sicherheitskräfte eher nahelegt, als ausschließt. Dies erklärt sich, ungeachtet dessen, dass das syrische Regime seit jeher für die ab 2011 andauernden "Unruhen" westliche Kreise verantwortlich macht (vgl. OVG LSA, U. v. 18.07.2012 - 3 L 61/12 -, juris), aus heutiger Sicht daraus, dass sich Syrien in einer Koalition mit Russland (und dem Iran) befindet, die dem "westlichen Ausland" - derzeit noch immer - eher feindlich gegenübersteht. [...]
bb) Aber auch ohne das Vorliegen von konkreten Erkenntnissen zum Umgang mit zurückkehrenden Wehrdienstentziehern gelangt das Gericht im Ergebnis einer Gesamtschau der Erkenntnismittel weiterhin zu der Überzeugung, dass die bei einer Rückkehr in ihr Heimatland drohenden Maßnahmen nicht nur - subsidiären Schutz nach § 4 AsylG auslösende - Sanktionen für die Nichterfüllung einer alle wehrfähigen Männer gleichermaßen treffende Wehrdienstpflicht sind, sondern die Maßnahmen auch Ausdruck einer diesen Personen seitens des syrischen Regimes und seiner Sicherheitskräfte unterstellten illoyalen, politisch oppositionellen Haltung sind. Die für Letzteres sprechenden Umstände besitzen ein größeres Gewicht und überwiegen deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen (BVerwG, U. v. 04.07.2019, a.a.O.). [...]
Die den Rückkehrern so zur Überzeugung des Gerichts drohenden Verfolgungshandlungen knüpfen noch immer - jedenfalls auch - an die vom syrischen Staat diesen Personen unterstellte illoyale Haltung an, die nach dessen Sichtweise ihren Ausdruck in der Nichterfüllung der Wehrpflicht gefunden hat.
Das Gericht teilt zwar die in der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. VGH Baden-Württemberg, U. v. 23.10.2018 - A 3 S 791/18 -, juris) vertretene Ansicht, dass sich allein aus der Brutalität des syrischen Regimes keine zwingenden Rückschlüsse für die Anknüpfung des Handelns an die mit dem Wehrdienstentzug zum Ausdruck gekommene politische Überzeugung ableiten lassen. Auch mag mit der Beklagten davon auszugehen sein, dass allein der ausnahmslos alle Wehrdienstpflichtigen treffende Zwang zur Ableistung des Dienstes und das Fehlen einer zielgerichteten Auswahl von Personen mit bestimmten Überzeugungen nicht die Annahme einer politischen Verfolgung rechtfertigen. Das gleichwohl in einer - unüberschaubaren - Vielzahl von Fällen gerade gegen Oppositionelle dokumentierte Vorgehen von Sicherheitskräften verliert damit jedoch nicht gänzlich seine Bedeutung für die Beurteilung eines Verfolgungsgrundes, welche auch in solchen Fällen anhand des inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme vorzunehmen ist (BVerwG, U. v. 04.07.2019, a.a.O.). Der Umfang sowie die Art und Weise des diesbezüglichen Vorgehens sind zur Überzeugung des Gerichts jedenfalls Ausdruck für die "Unduldsamkeit" eines Staates und lassen (noch immer) hinreichende Rückschlüsse darauf zu, dass dann eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für die Zuschreibung eines politischen Merkmals spricht, wenn die betroffenen Personen ein Verhalten offenbart haben, welches im eklatanten Widerspruch zu den um seine Existenz ringenden syrischen Staat stand/steht (vgl. ablehnend zum Freund-Feind-Schema OVG Lüneburg, U. v. 05.12.2018 - 2 LB 570/18 -, juris). Dass diese Personen darüber hinaus auch Merkmale (hier: Entzug vom Wehrdienst) aufweisen, die zwar auch für sich genommen, Grund für Verfolgungshandlungen nach § 3a AsylG sein könnten, steht unter diesen politischen Verhältnissen der Bewertung einer solchen Verfolgungshandlung als - zumindest auch - an das Merkmal der politischen Überzeugung i.S.v. § 3b Abs. 1 Ziffer 5 AsylG anknüpfend nicht entgegen. [...]
Bei der Beurteilung, ob die Verfolgungshandlungen auch auf der Zuschreibung von politischen Merkmalen beruhen, darf zwar nicht aus dem Blick gelassen werden, dass sich der syrische Staat anders als noch in den vergangenen Jahren nicht mehr in der Intensität wie zuvor in kämpferischen Auseinandersetzungen verwickelt ist, da er mit der Unterstützung Russlands weite Gebiete wieder unter seine Kontrolle gebracht hat. Daraus folgt nicht gleichsam ein "versöhnlicher Umgang" mit den in das westliche Ausland geflohenen Wehrdienstentziehern (anders nun BayVGH, a.a.O., sowie dem uneingeschränkt folgend OVG Bautzen, a.a.O.). Die von diesen Gerichten für die Änderung ihrer Rechtsprechung herangezogenen Argumente überzeugen jedoch nicht. Dies trifft sowohl auf die bereits in der Vergangenheit einer rechtlichen Beurteilung unterzogene Umsetzung von Amnestien als auch auf die Rückkehraufforderung des syrischen Staates zu; der darüber hinaus von den vorstehend genannten Gerichten für die Änderung ihrer Rechtsprechung herangezogene Demobilisierungserlass ist ohnehin nur geeignet, den mangelnden Bedarf der syrischen Armee zu dokumentieren. Gegen die von den Gerichten getroffene Einschätzung, die Balance zwischen "nur Sanktion für die Nichterfüllung einer alle wehrfähigen Männer gleichermaßen treffenden Pflicht" und "Sanktion - auch - für illoyales Verhalten" habe sich zu Gunsten von ersterem verschoben, sprechen zudem Berichte, wonach die Reorganisation des syrischen Staates nur mit den Personen erfolgen solle, die sich in der Vergangenheit zum Regime bekannt haben, alle anderen Personen dagegen u.a. mit aller Härte zu bekämpfen seien (vgl. SFH, Syrien: Fahndungslisten etc., v. 11.06.2019, S. 5 f.). [...]