VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 28.01.2021 - 20 K 113.18 V - asyl.net: M29484
https://www.asyl.net/rsdb/m29484
Leitsatz:

Kindernachzug zu Asylberechtigten und anerkannten Flüchtlingen auch nach Eintritt der Volljährigkeit:

1. Beim Kindernachzug zu Asylberechtigten und anerkannten Flüchtlingen reicht es aus, wenn das Kind zum Zeitpunkt der Asylantragstellung der stammberechtigten Person minderjährig ist. Wird das Kind danach volljährig, ist das Visum dennoch zu erteilen.

2. Die fristwahrende Anzeige ist als wirksamer Visumsantrag zu bewerten.

(Leitsätze der Redaktion; unter Verweis auf VG Berlin, Urteil vom 12.03.2019 - 12 K 27.18 V - asyl.net: M27731 und BVerwG, Beschluss vom 23.04.2020 - 1 C 16.19 - asyl.net: M28541)

Schlagwörter: Kindernachzug, Asylberechtigung, Flüchtlingsanerkennung, minderjährig, Volljährigkeit, Beurteilungszeitpunkt, fristwahrende Anzeige, formloser Antrag. Visumsantrag,
Normen: AufenthG § 32,
Auszüge:

[...]

23 I. Dem Nachzugsanspruch der Klägerin steht ihre zum Zeitpunkt des Vorsprachetermins bei der Botschaft bereits eingetretene Volljährigkeit nicht entgegen. Denn für die Frage der Minderjährigkeit ist auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung ihres Vaters als Referenzperson abzustellen (1.). Zudem wurde der Visumantrag der Klägerin mit der "fristwahrenden Anzeige" am 22. Juli 2016 und damit zu einem Zeitpunkt gestellt, als die Klägerin noch minderjährig war (2.).

24 1. Bei der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung von § 32 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG ist die Klägerin minderjährig im Sinne dieser Bestimmung. Denn maßgeblich für die Frage der Minderjährigkeit der Klägerin ist nicht der Zeitpunkt der Stellung des Visumantrages, sondern der Zeitpunkt der Asylantragstellung ihres stammberechtigten Vaters im Januar 2016. Insoweit folgt die Kammer der Rechtsauffassung der 12. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin in einem parallel gelagerten Sachverhalt (VG Berlin, Urteil vom 12. März 2019 – VG 12 K 27.18 V –, juris Rn. 18 ff.; nicht rechtskräftig: nachgehend BVerwG, EuGH-Vorlage vom 23. April 2020 – BVerwG 1 C 16/19 – und Beschluss vom 8. September 2020 – BVerwG 1 C 16/19 –, jeweils zit. nach juris). Darin heißt es:

25 "Die danach allein zwischen den Beteiligten streitige Frage, ob die Klägerin minderjährig im Sinne des § 32 Abs. 1 AufenthG ist, ist bei der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung zu bejahen. Zwar war die am 1. Januar 1999 geborene Klägerin bereits volljährig, als sie am 10. August 2017 den Visumsantrag gestellt hat. Maßgeblich ist für die Beurteilung der Minderjährigkeit jedoch der Zeitpunkt, in dem ihr Vater im April 2016 seinen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gestellt hat. Insoweit folgt die Kammer nicht mehr der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 32 AufenthG (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. August 2008 – 1 C 32/07 –, BVerwGE 131, 370-383 und juris Rn. 17; BVerwG, Urteil vom 7. April 2009, - BVerwG 1 C 17.08 -, ZAR 2010, 67, 68 m.w.N.), wonach hinsichtlich des Erreichens der Volljährigkeit auf den Zeitpunkt des Nachzugsantrags abzustellen ist. Diese höchstrichterliche nationale Rechtsprechung ist nach Auffassung der Kammer nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 12. April 2018 (C-550/16, A. und S. ./. Niederlande –, juris) nicht mehr aufrechtzuerhalten. Sie steht nicht im Einklang mit der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (FZRL). In Anwendung des vorgenannten EuGH - Urteils ist bei Ausländern, die als Asylberechtigte oder Flüchtlinge eine Aufenthaltserlaubnis nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG haben, nicht der Zeitpunkt der Stellung des Visumsantrags für das Vorliegen der Minderjährigkeit des nachziehenden Kindes maßgeblich, sondern der Zeitpunkt der Asylantragstellung durch den Stammberechtigten. [...]" [...]

32 Der Visumantrag der Klägerin wurde auch innerhalb der vom Europäischen Gerichtshof im Wege der Rechtsfortbildung unter Rückgriff auf Art. 12 Abs. 1 Unterabs. 3 FZRL statuierten Frist gestellt. Danach ist der Antrag auf Familienzusammenführung der nachzugswilligen Eltern innerhalb von drei Monaten ab dem Tag zu stellen, an dem der minderjährige Stammberechtigte als Flüchtling anerkannt worden ist (EuGH, Urteil vom 12. April 2018, a.a.O. Rn. 61). Mit Blick auf die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs zu Sinn und Zweck der Frist, die Familienzusammenführung nicht ohne jede zeitliche Begrenzung zu ermöglichen, gilt sie nach Auffassung der Kammer für die vorliegende Konstellation des Kindernachzugs gleichermaßen. Dem Vater der Klägerin wurde mit Bescheid vom 24. Mai 2016, bestandskräftig mit Zustellung am 16. Juni 2016, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Die "fristwahrende Anzeige" für seine zu diesem Zeitpunkt noch minderjährige Tochter, die zugleich als Visumantrag zu werten ist (s. dazu unter 2.), stellte er am 22. Juli 2016 und damit vor Ablauf von drei Monaten.

33 2. Ungeachtet dessen war die Klägerin zum Zeitpunkt der Visumbeantragung noch minderjährig. Nach Auffassung der Kammer ist die Erteilung des Visums zum Zwecke der Familienzusammenführung für die Klägerin nicht erst bei ihrer Vorsprache in der Botschaft am 20. Dezember 2017 beantragt worden, sondern bereits mit der am 22. Juli 2016 durch ihren Vater als Stammberechtigten gestellten "fristwahrenden Anzeige".

34 Bei Verpflichtungsklagen auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels ist bei der Frage, ob eine Aufenthaltserlaubnis aus Rechtsgründen erteilt oder versagt werden muss, allgemein auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz abzustellen. Sind aufenthaltsrechtliche Ansprüche an eine Höchstaltersgrenze geknüpft – wie hier die Vollendung des 18. Lebensjahres –, ist nach gefestigter Rechtsprechung für die Einhaltung der Altersgrenze ausnahmsweise der Zeitpunkt der Antragstellung maßgeblich (BVerwG, Urteil vom 7. April 2009 – BVerwG 1 C 17/08 –, juris Rn. 10, und Urteil vom 29. November 2012 – BVerwG 10 C 11/12 –, juris Rn. 14). [...]

36 Entgegen der Auffassung der Beklagten ist jedoch mit der am 22. Juli 2016 durch den Beigeladenen zu 2) als Stammberechtigten gestellten "fristwahrenden Anzeige" nach § 29 Abs. 2 AufenthG das begehrte Visum für die Klägerin rechtswirksam beantragt worden. Zu diesem Zeitpunkt war die Klägerin noch minderjährig. Ungeachtet ihrer konkreten Bezeichnung als "fristwahrende Anzeige" unter Bezugnahme auf § 29 Abs. 2 Satz 1 AufenthG sichert diese Anzeige nicht ausschließlich die in dieser Vorschrift geregelte Privilegierung bezüglich der Lebensunterhaltssicherung und des Erfordernisses ausreichenden Wohnraums. [...]