OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 24.02.2021 - 13 LA 24/21 - asyl.net: M29421
https://www.asyl.net/rsdb/m29421
Leitsatz:

Mindestarbeitszeit für Arbeitnehmende zum Entstehen eines Freizügigkeitsrechts:

"Eine Beschäftigung in Höhe von 5,5 Wochenstunden kennzeichnet die Untergrenze, unterhalb derer eine Beschäftigung als völlig untergeordnet und unwesentlich anzusehen ist und damit kein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU mehr vermittelt.

Zu den Voraussetzungen einer missbräuchlichen Berufung auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit.

Die Berufung auf das aus Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 492/2011 hergeleitete Aufenthaltsrecht der Kinder eines (Wander-)arbeitnehmers setzt voraus, dass der Stammberechtigte selbst Freizügigkeit als (Wander-) arbeitnehmer genießt bzw. genossen hat und die Berufung auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht rechtsmiss­bräuchlich erfolgt."

(Amtlicher Leitsätze)

Schlagwörter: EU-Staatsangehörige, Verlust des Freizügigkeitsrechts, Arbeitnehmerbegriff, Wanderarbeitnehmer, Arbeitszeit, Kind, Kinder, Schulbesuch, Rechtsmissbrauch,
Normen: FreizügG/EU § 2 Abs. 1, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1, VO 492/2011 Art. 10 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

6 Wie der Senat bereits entschieden hat, ist der Begriff des "Arbeitnehmers" im Sinne dieser Vorschrift unionsrechtlich auszulegen (vgl. Senatsbeschl. v. 21.6.2017 - 13 LA 27/17 -, juris Rn. 13). Er ist weit zu verstehen und nach objektiven Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis in Ansehung der Rechte und Pflichten der betreffenden Personen charakterisieren. Das wesentliche Merkmal eines Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. zu Vorstehendem: EuGH, Urt. v. 19.6.2014 - C 507/12 -, Saint Prix, juris Rn. 33 ff.; Urt. v. 6.11.2003 - C-413/01 -, Ninni-Orasche, juris Rn. 23 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Der bloße Umstand, dass eine unselbständige Tätigkeit nur von kurzer Dauer ist, steht der Annahme der Arbeitnehmereigenschaft nicht entgegen (vgl. EuGH, Urt. v. 6.11.2003, a.a.O., Rn. 30 und 32 (Arbeitnehmereigenschaft bejaht bei einer Aufenthaltsdauer von zweieinhalb Jahren und einer Beschäftigungszeit von zweieinhalb Monaten)). Als Arbeitnehmer kann jedoch nur angesehen werden, wer eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (vgl. EuGH, Urt. v. 4.2.2010 - C-14/09 -, Genc, Rn. 9 und 23 ff. (Arbeitnehmereigenschaft bejaht bei einer Wochenarbeitszeit von 5,5 Stunden und einem monatlichen Durchschnittslohn von etwa 175 EUR); Urt. v. 3.6.1986 - 139/85 -, Kempf, Rn. 11 ff. (Arbeitnehmereigenschaft bejaht bei einer Wochenarbeitszeit von 12 Stunden und einem Bruttomonatsgehalt von 984 HFL bzw. 447 EUR). Geboten ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände, die die Art der in Rede stehenden Tätigkeiten und die des fraglichen Arbeitsverhältnisses betreffen. Umstände, die sich auf das Verhalten des Betreffenden vor und nach der Beschäftigungszeit beziehen, sind für die Begründung der Arbeitnehmereigenschaft hingegen ohne Bedeutung, da sie in keiner Beziehung zu den objektiven Kriterien stehen, die das konkrete Arbeitsverhältnis charakterisieren (vgl. EuGH, Urt. v. 6.11.2003, a.a.O., Rn. 29 und 32). [...]