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OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 17.02.2021 - 2 LC 311/20 - asyl.net: M29413
https://www.asyl.net/rsdb/m29413
Leitsatz:

Abweichen der ausweisungsrechtlichen Gefahrenprognose von einer Entscheidung der Strafvollstreckungskammer und Einstellen des Schutzbedarfs in die Abwägung im Rahmen der Ausweisung:

"1. Zur ausweisungsrechtlichen Gefahrenprognose bei einem Ausländer, der erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt hat,

2. Zum Abweichen der ausweisungsrechtlichen Gefahrenprognose von einer Entscheidung der Strafvollstreckungskammer nach § 57 StGB, weil das von der Strafvollstreckungskammer eingeholte Gutachten erhebliche Mängel aufweist.

3. Verhältnismäßigkeit der Ausweisung eines faktischen Inländers nach Verurteilung wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge.

4. Nachteile und Gefahren, die dem Ausländer im Herkunftsstaat drohen, können im Rahmen der Ausweisung nur unter der Prämisse berücksichtigt werden, dass sie nicht die Schwelle zu einem vom Bundesamt zu prüfenden zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernis überschreiten.

5. Hält der Betroffene die Frist des zusammen mit der Ausweisung festgesetzten Einreise- und Aufenthaltsverbotes für zu lang, ist nicht die Anfechtungsklage, sondern die Verpflichtungsklage auf Bestimmung einer kürzeren Frist durch die Ausländerbehörde der statthafte Rechtsbehelf."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, Drogendelikt, Wiederholungsgefahr, faktischer Inländer, Einreise- und Aufenthaltsverbot, Anfechtungsklage, Verpflichtungsklage, Verhältnismäßigkeit, Abschiebungsverbot, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 53, AufenthG § 54, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 8, GG Art. 6, AufenthG § 11,
Auszüge:

[...]

1. Das persönliche Verhalten des Klägers stellt gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. [...]

(1) Zwar hat der Kläger wegen der Anlasstaten erstmals eine Strafhaft verbüßt. Er war aber bereits vorher mehrfach zu Freiheitsstrafen (auf Bewährung) verurteilt worden und hatte auch schon mehrfach Hafterfahrungen in Form von Untersuchungshaft und Ersatzfreiheitsstrafe gemacht [...]. Zudem war ihm wegen seiner Straffälligkeit viermal eine Ausweisung angedroht bzw. angekündigt worden. Dass ihn all dies nicht von neuen, tendenziell immer schwerwiegenderen Straftaten abgehalten hat, deutet auf eine hohe Immunität gegen die Abschreckungswirkung staatlicher Maßnahmen hin. Die prognostische Aussagekraft des positiven Verhaltens des Klägers im Strafvollzug und unter der derzeitigen Reststrafenbewährung wird ferner dadurch gemindert, dass der Kläger sich bereits in der Vergangenheit in Zeiten, in denen er wegen laufender Bewährung unter besonderer Beobachtung stand, beanstandungsfrei geführt hat, nach deren Ablauf aber stets und mit tendenziell steigender Schwere rückfällig wurde. [...]

(2) Aus der Akte und den beigezogenen Unterlagen geht hervor, dass der Kläger seine Straftaten nach wie vor teilweise bagatellisiert. [...]

(4) Die Vaterstellung des Klägers verbessert die Prognose nicht. Der Kläger war bereits bei Begehung der Anlasstaten Vater von drei Kindern. [...]

dd) Der Annahme einer hohen Wiederholungsgefahr steht nicht entgegen, dass die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts mit Beschluss vom 29.10.2019 die Vollstreckung des Rests der Freiheitsstrafe nach § 57 Abs. 1 StGB zur Bewährung ausgesetzt hat. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 StGB sind zwar von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der ausländerrechtlichen Prognose ein wesentliches Indiz dar. Von ihnen geht aber keine Bindungswirkung aus (BVerwG, Urt. v. 15.1.2013 – 1 C 10/12, juris Rn. 18; Urt. v. 2.9.2009 – 1 C 2/09, juris Rn. 18; Urt. v. 16.11.2000, - 9 C 6/00, juris Rn. 17). Vorliegend hat die Strafvollstreckungskammer sich bei der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung maßgeblich auf das von ihr eingeholte Prognosegutachten gestützt. Dieses Gutachten ist für den Senat jedoch in wesentlichen Teilen nicht nachvollziehbar. [...]

(6) Mit dieser Würdigung des Prognosegutachtens bei der Feststellung, ob vom Kläger eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, setzt sich der Senat nicht in Widerspruch zu dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 -, juris Rn. 18 – 25. Die dortigen Ausführungen zu den Anforderungen an eine Abweichung der ausweisungsrechtlichen Gefahrenprognose von der strafvollstreckungsrechtlichen Prognose erfolgten nicht im Zusammenhang mit der Frage, wann eine "(schwerwiegende) Gefahr für die öffentliche Sicherheit" im Sinne des § 53 Abs. 1, 3 AufenthG vorliegt, sondern im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (vgl. auch OVG Bremen, Beschl. v. 15.11.2019 – 2 B 243/19, juris Rn. 18). Dort wird der Senat diese Maßstäbe anwenden (s.u. Ziff. 2. b) bb) (1)).

b) Die hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger erneut mit erheblichen Mengen Heroin und Kokain handeln und sich dabei ggfs. auch wieder bewaffnen wird, begründet eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. [...]

2. Die Ausweisung des Klägers ist für die Wahrung des Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich. "Unerlässlich" in diesem Sinne ist eine Ausweisung, wenn sie verhältnismäßig ist (BVerwG, Urt. v. 10.07.2012 – 1 C 19/11, juris Rn. 21), d.h. wenn das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Ausländers überwiegt. [...]

bb) Die Ausweisung des Klägers ist von der Schranke des Art. 8 Abs. 2 EMRK gedeckt. Sie ist in einer demokratischen Gesellschaft notwendig im Sinne von Art. 8 Abs. 2 EMRK, weil sie verhältnismäßig ist. [...]

Vor diesem Hintergrund kann sich das Ausweisungsinteresse in einem Fall wie dem Vorliegenden nur dann gegenüber dem Bleibeinteresse durchsetzen, wenn das Risiko der Begehung neuer Straftaten über das "ernsthafte Drohen" hinausgeht, das zum Überschreiten der Mindestschwelle einer Gefahr im Sinne des § 53 Abs. 1, 3 AufenthG erforderlich ist. Im Rahmen dieser Prüfung ist insbesondere eine Auseinandersetzung mit der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung unter Beachtung der vom Bundesverfassungsgericht im Beschluss vom 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 24 entwickelten Maßstäbe geboten (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 15.11.2019 – 2 B 243/19, juris Rn. 32). Wiegt das Bleibeinteresse des Ausländers besonderes schwer, lässt sich nach dieser Rechtsprechung eine ausweisungsrechtlich relevante (sprich: das Bleibeinteresse überwiegende) Wiederholungsgefahr nur dann bejahen, wenn die ausländerrechtliche Entscheidung auf einer breiteren Tatsachengrundlage als derjenigen der Strafvollstreckungskammer getroffen wird, etwa wenn Ausländerbehörde oder Gericht ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben haben, welches eine Abweichung zulässt, oder wenn die vom Ausländer in der Vergangenheit begangenen Straftaten fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen lassen.

(1) Vorliegend lassen die vom Kläger in der Vergangenheit begangenen Straftaten auch unter Berücksichtigung seines Nachtatverhaltens, seiner gegenwärtigen sozialen Situation und der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen. [...]

ε) Ob ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG besteht, weil dem Kläger in der Türkei Folter und/ oder Inhaftierung wegen einer ihm von den dortigen Behörden unterstellten Nähe zur PKK droht, kann im Ausweisungsverfahren nicht geprüft werden. Mit diesem Vortrag macht der Kläger materiell Gründe für eine Asylanerkennung, Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz geltend. Aber selbst für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG wäre inzwischen das Bundesamt zuständig, denn der Kläger hat im Oktober 2019 einen Asylantrag gestellt (§ 24 Abs. 2 AsylG). Ein Wahlrecht zwischen einer Prüfung seines Vorbringens durch die Ausländerbehörde und einer Prüfung durch das Bundesamt hat er nicht (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.02.2019 – 1 C 30.17, juris Rn. 22 f.; BVerwG, Urt. v. 09.06.2009 – 1 C 11/08 -, NVwZ 2009, 1432 [1436 Rn. 34]; BVerwG, Beschl. v. 03.03.2006 – 1 B 126/05 – NVwZ 2006, 830 [831 Rn. 3 und 7]; OVG Bremen, Beschl. v. 05.07.2019 – 2 B 98/18, juris Rn. 12). [...]

Allerdings ist in die Interessenabwägung bei einer Ausweisung die drohende Beeinträchtigung von Belangen des Ausländers im Herkunftsstaat einzustellen, die keinen strikten verfassungs- oder völkerrechtlichen Schutz in dem Sinne genießen, dass die deutschen Behörden unter allen Umständen verpflichtet sind, den Ausländer durch Absehen von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen vor ihrem Eintritt zu bewahren (vgl. BVerwG, Urt. v. 01.12.1987 – 1 C 29/85, juris Rn. 19). Die Möglichkeit und Zumutbarkeit der Reintegration im Heimatland ist – neben den kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und familiären Bindungen im Aufenthaltsstaat – von Bedeutung für die Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 8 EMRK (vgl. BVerfG, Beschl. v. 29.01.2020 - 2 BvR 690/19, juris Rn. 20; OVG Bremen, Urt. v. 05.07.2011 – 1 A 184/10, juris Rn. 36). Schwierigkeiten, auf die der Ausländer im Heimatland treffen würde, sind daher zu seinen Gunsten in die ausweisungsrechtliche Abwägung einzustellen, wenn sie unterhalb der Schwelle eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses nach § 60 AufenthG liegen (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 05.07.2019 – 2 B 98/18, juris Rn. 14; VG Oldenburg, Urt. v. 14.11.2012 – 11 A 3061/12, juris Rn. 27). Hat das Bundesamt (soweit es nach dem AsylG zuständig ist) noch keine Feststellungen dazu getroffen, ob die vom Ausländer befürchteten zielstaatsbezogenen Nachteile tatsächlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen und in rechtlicher Hinsicht ein Abschiebungshindernis nach § 60 AufenthG begründen, ist dieser Vortrag bei der ausweisungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung zugunsten des Ausländers zu berücksichtigen, wenn es zumindest denkbar erscheint, dass die Nachteile unterhalb der Schwelle des § 60 AufenthG bleiben und daher als bloße "Reintegrationsschwierigkeiten" einzuordnen sein könnten. Denn ansonsten könnte die Situation eintreten, dass die Ausländerbehörde und die Gerichte im Ausweisungsverfahren die dem Betroffenen im Zielstaat nach seinem Vortrag drohenden Nachteile als geeignet ansehen, ein Abschiebungsverbot nach § 60 AufenthG zu begründen, und sie daher bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung außer Acht lassen, während später das Bundesamt und die Gerichte im asylrechtlichen Verfahren diese Nachteile zwar als tatsächlich drohend, aber nicht gravierend genug für ein Abschiebungsverbot nach § 60 AufenthG einstufen. [...]

3. Das noch nicht bestandskräftig abgeschlossene Asylverfahren steht der Ausweisung nicht entgegen. Denn die vom Bundesamt nach Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet erlassene Abschiebungsandrohung ist infolge des negativen Beschlusses des Verwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen im asylrechtlichen Eilverfahren (2 V 2473/20) vom 19.01.2021 vollziehbar geworden (vgl. § 54 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AufenthG, § 75 Abs. 1, § 36 AsylG). [...]

1. Allerdings hat der Kläger sein Begehren zutreffend als Verpflichtungsantrag, gerichtet auf eine neue Entscheidung der Beklagten nach § 11 Abs. 2 Satz 3 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AufenthG, formuliert, und nicht als Anfechtungsantrag, gerichtet auf eine Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots durch das Gericht (so wohl auch Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Ufl. 2020, § 11 AufenthG Rn. 131; a.A. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 21.01.2020 – 11 S 3477/19, juris Rn. 19 f., 31). Zwar handelt es sich bei dem Einreise- und Aufenthaltsverbot seit der zum 21. August 2019 in Kraft getretenen Neufassung des § 11 AufenthG um einen gegenüber der Ausweisung selbständigen Verwaltungsakt (VGH Baden-Württemberg, aaO., juris Rn. 18), der somit grundsätzlich eigenständiger Gegenstand einer Anfechtungsklage sein kann. Jedoch ist es aus materiellrechtlichen Gründen ausgeschlossen, das Einreise- und Aufenthaltsverbot gerichtlich aufzuheben, wenn nicht auch die Ausweisung, die Anlass für das Verbot war, aufgehoben wird oder wurde. Die gerichtliche Aufhebung eines an eine Ausweisung anknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbots kommt daher im Wesentlichen nur in den Fällen in Betracht, in denen sich die Anfechtungsklage im Wege der objektiven Klagehäufung gegen beide Maßnahmen richtet und das Gericht zu dem Ergebnis kommt, dass die Ausweisung rechtswidrig ist. [...]

Vorliegend ist die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 3 Jahre nicht zu beanstanden. Die Beklagte hatte die Frist nach Ermessen (§ 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) aus einem Rahmen festzusetzen, der bis zu zehn Jahren reicht (§ 11 Abs. 5 AufenthG). Die festgesetzte Frist schöpft diesen Rahmen nur zu circa einem Drittel aus. Bei ihrer Bemessung hat die Beklagte im angefochtenen Bescheid die Schwere der Straftaten und die erhebliche Wiederholungsgefahr, den langen rechtmäßigen Aufenthalt des Klägers in Deutschland, seine Einreise als Baby, sein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht sowie seine familiären und sozialen Kontakte in Deutschland eingestellt. Nach der Geburt der jüngsten Tochter hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 21.08.2020 an das Verwaltungsgericht ihre Ermessenserwägungen ergänzt. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Abwesenheit des Klägers vom Bundesgebiet keine erheblichen nachteiligen Auswirkungen auf das Wohl seiner Kinder befürchten lässt, während bei seiner Anwesenheit mit hoher Wahrscheinlichkeit die erneute Begehung von Schwerverbrechen aus dem Bereich der Drogenkriminalität zu befürchten ist, erscheint die festgesetzte Frist nicht als unverhältnismäßig. [...]

Die Revision ist zuzulassen. Die Frage, ob und ggfs. in welchem Umfang vom Betroffenen geltend gemachte Nachteile im Heimatstaat, die ihrer Art nach objektiv geeignet sind, die Asylberechtigung, Flüchtlingsanerkennung, Gewährung subsidiären Schutzes oder Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zu begründen, bei der Abwägung im Rahmen des § 53 Abs. 2 AufenthG zu berücksichtigen sind, hat grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. [...]