VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 26.10.2020 - 4 V 1980/20 - asyl.net: M29240
https://www.asyl.net/rsdb/m29240
Leitsatz:

Einstweiliger Rechtsschutz gegen Weiterleitungsverfügung nach Asylgesuch:

1. Bei der Bestimmung der zuständigen Aufnahmeeinrichtung sind in analoger Anwendung von § 15a Abs. 1 S. 6 AufenthG die persönlichen Belange des Asylsuchenden zu berücksichtigen.

2. Ein zwingender Grund im Sinne von § 15a AufenthG, der einer Umverteilung entgegensteht, kann in einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung liegen (vorliegend bejaht).

3. Zu berücksichtigen sind insbesondere die Art der erforderlichen Behandlung, wie viele Behandlungstermine bereits stattgefunden haben, ob die Verteilung in eine schützenswerte Beziehung zu Ärzt:innen/Therapeut:innen eingreifen würde und wie schwer die bei einer Verteilung drohenden gesundheitlichen Folgen sind.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: länderübergreifende Umverteilung, psychische Erkrankung, Arztwechsel, Therapeutenwechsel, Ärztin, Therapeutin, Arzt, Therapeut, vorläufiger Rechtsschutz, Aufnahmeeinrichtung, Asylgesuch, Asylverfahren, Verteilungsverfahren, Umverteilung, Krankheit,
Normen: AsylG § 22 Abs. 1 S. 2, AsylG § 46 Abs. 2, AufenthG § 15a,
Auszüge:

[...]

b. Der Antrag ist begründet. Das Interesse der Antragstellerin an einem Verbleib in Bremen bis zur Entscheidung in der Hauptsache überwiegt vorliegend das öffentliche Interesse, sie an die nach § 46 AsylG ermittelte Erstaufnahmeeinrichtung weiterzuleiten.

Die Weiterleitungsentscheidung stellt sich bei summarischer Prüfung als rechtswidrig dar. Bei der Bestimmung der zuständigen Aufnahmeeinrichtung nach § 46 Abs. 2 AsylG sind Belange des Asylsuchenden zu berücksichtigen (aa.). Die Antragsgegnerin hat derartige Belange der Antragstellerin, die hinreichend schwer wiegen, um ihrer Weiterleitung entgegenzustehen, nicht berücksichtigt (bb.).

aa. Mit den Regelungen über die Verteilung von Asylbewerbern trägt das Gesetz dem regelmäßig besonders gewichtigen öffentlichen Interesse Rechnung, die Lasten, die mit der Aufnahme von Asylbewerbern etwa hinsichtlich Unterbringung, Verpflegung und Überwachung verbunden sind, gleichmäßig auf die Bundesländer und deren Landkreise und Kommunen zu verteilen (vgl. § 45 AsylG). Entsprechend haben Ausländer, die um Asyl nachsuchen, gemäß § 55 Abs. 1 Satz 2 AsylG im Grundsatz keinen Anspruch darauf, sich an einem bestimmten Ort aufhalten zu dürfen, solange sie ein Asylverfahren in Deutschland durchführen. Eine einfachgesetzliche Bindung des Entscheidungsspielraums der Behörde enthält lediglich § 50 Abs. 4 Satz 5 AsylG, wonach die Behörde bei der Zuweisung im Rahmen der landesinternen Verteilung die Haushaltsgemeinschaft von Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern berücksichtigen muss (vgl. VG Münster, Beschluss vom 22.09.2017 - 3 L 1563/17 -, Rn. 11, juris).

In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist jedoch anerkannt, dass es den zuständigen Behörden aus verfassungsrechtlichen Gründen auch in weiteren, über die gesetzliche Regelung des § 50 Abs. 4 Satz 5 AsylG hinausgehenden Fällen möglich sein muss, die persönlichen Belange des Asylsuchenden zu berücksichtigen (Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Beschluss vom 18.10.2013 - 115/13 -, Rn. 16, juris; BeckOK AuslR/Heusch, 25. Ed. 1.3.2020, AsylG § 46 Rn. 8 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung der Kammer ist daher in Fällen wie dem vorliegenden § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG analog anzuwenden (VG Bremen, Beschluss vom 02.06.2020, a.a.O.; so auch VG Ansbach, Beschluss vom 25.06.2015 - AN 3 S 15.30853 -, Rn. 18 f., jeweils juris; vgl.ferner Sieweke, ZAR 2015, 12, 15). § 15a AufenthG verfolgt dasselbe Ziel wie § 46 Abs. 1 und 2 AsylG. Es sollen die durch Migration entstehenden Kosten gleichmäßig auf die Bundesländer verteilt werden. Die Vorschriften unterscheiden sich lediglich hinsichtlich des durch sie betroffenen Personenkreises. § 46 Abs. 1 und 2 AsylG regelt die Umverteilung von Asylbewerbern, während § 15a AufenthG die Verteilung von illegal eingereisten Ausländern, die keinen Asylantrag gestellt haben, betrifft.

bb. Im Fall der Antragstellerin liegen zwingenden Gründe i.S.v. § 15a Abs. 1 Satz.6 AufenthG vor.

Nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Bremen ist bei der Prüfung, ob eine psychische Erkrankung und deren Behandlungsbedürftigkeit einen zwingenden Grund i.S.v. § 15a Abs. 1 Satz 6 AufenthG darstellt, zu berücksichtigen, dass in allen Ländern der Bundesrepublik ein funktionierendes System der medizinischen Versorgung vorhanden ist. Auch bei psychischen Erkrankungen kann grundsätzlich angenommen werden, dass diese überall im Bundesgebiet behandelbar sind (vgl. Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen, Beschluss vom 08.05.2014 - 1 B 84/14 -, Rn. 4, juris). Deshalb können solche Erkrankungen nur in besonders gelagerten Einzelfällen zu einem Absehen von der gesetzlich vorgesehen Verteilung führen (vgl. Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen, Beschluss vom 29.01.2014 - 1 B 302/13 -, Rn. 24, juris). In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass es im Rahmen der Verteilung nach § 15a Abs. 1 AufenthG - wie auch vorliegend - allein um einen Aufenthaltswechsel innerhalb des Bundesgebiets geht, von dessen Zumutbarkeit der Gesetzgeber grundsätzlich ausgeht (vgl. Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen, Beschluss vom 31.07.2014 - 1 B 177/14 -, Rn. 9, juris).

Bei der Prüfung, ob eine Erkrankung ausnahmsweise einer länderübergreifenden Verteilung entgegensteht, zu berücksichtigende Faktoren sind insbesondere die Art der erforderlichen Behandlung, wann die Behandlung am derzeitigen Aufenthaltsort begonnen wurde, wie viele Behandlungstermine bereits stattgefunden haben, ob die Verteilung in eine seit längerem bestehende schützenswerte Arzt-Patienten- bzw. Therapeuten-Patienten- Beziehung eingreifen würde und wie schwer die bei einer Verteilung drohenden gesundheitlichen Folgen sind (Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen, Beschluss vom 09.03.2020 - 2 B 318/19 -, Rn. 17, juris). Allein der Verlust eines günstigen familiären oder sonstigen sozialen Umfeldes stellt keinen zwingenden Grund dar (Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen, Beschluss vom 31.07.2014 - 1 B 177/14 -, Rn 10, juris und Beschluss vom 10.07.2019 - 2 B 316/18 -, Rn. 9, juris).

Gemessen hieran liegt im Fall der Antragstellerin ein zwingender, ihrer Weiterleitung entgegenstehender Grund vor, da ihr im Falle der Weiterleitung gravierende gesundheitliche Folgen drohen. Ausweislich der fachärztlichen Atteste des Zentrums für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des ... vom ... 2020 und ... 2020 befindet sich die Antragstellerin seit dem 04.09.2020  durchgehend in stationärer Behandlung aufgrund einer schwergradigen Depression sowie einer Posttraumatischen Belastungsstörung durch fortgesetzte Gewalterfahrung und nachfolgend schwerer Schmerzstörung. Weiter heißt es in dem Attest vom ... 2020, die Antragstellerin sei im Fall eines Transfers aus Bremen weg unmittelbar vital gefährdet durch eine mögliche impulsive Selbsttötung aus einer rational nicht begründbaren Verzweiflung und eines Nihilismus heraus auf der Basis der schweren depressiven Störung und Belastung durch die Traumafolgestörung. [...]