Strafrechtliche Sanktionierung eines Verstoßes gegen ein Einreise- und Aufenthaltsverbot mit Unionsrecht vereinbar:
Eine nationale Strafvorschrift, die an einen unerlaubten Aufenthalt unter Verstoß gegen ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anknüpft, ist grundsätzlich mit Unionsrecht und insbesondere der Rückführungsrichtlinie RL 2008/115/EG vereinbar.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
17 Mit Bescheid des Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, Niederlande) vom 19. März 2013 wurde die Unerwünschterklärung von JZ auf seinen Antrag hin aufgehoben, nachdem die Bestimmungen zur Umsetzung der Richtlinie 2008/115 in das niederländische Recht in Kraft getreten waren. Mit diesem Bescheid wurde der Betroffene jedoch verpflichtet, das Königreich der Niederlande unverzüglich zu verlassen, wobei darauf hingewiesen wurde, dass nach niederländischem Recht die Zustellung dieses Bescheids als "Rückkehrentscheidung" im Sinne von Art. 6 der Richtlinie 2008/115 gelte. Außerdem wurde mit dem Bescheid gegen JZ ein Einreiseverbot für die Dauer von fünf Jahren verhängt, da er mehrfach strafrechtlich verurteilt worden sei.
18 Am 21. Oktober 2015 wurde festgestellt, dass sich JZ unter Verstoß gegen den Bescheid vom 19. März 2013 in Amsterdam (Niederlande) aufhielt.
22 Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist ein nationaler Straftatbestand, nach dem sich strafbar macht, wer sich als Drittstaatsangehöriger im Hoheitsgebiet der Niederlande aufhält, nachdem gegen ihn nach Art. 66a Abs. 7 Vw ein Einreiseverbot verhängt worden ist, wenn nach dem nationalen Recht ebenso feststeht, dass dieser Ausländer sich nicht rechtmäßig in den Niederlanden aufhält und dass die Schritte des in der Richtlinie 2008/115 festgelegten Rückkehrverfahrens durchlaufen worden sind, die tatsächliche Rückkehr aber nicht stattgefunden hat, mit dem Unionsrecht, insbesondere mit dem Urteil des Gerichtshofs vom 26. Juli 2017, Ouhrami (C-225/16, EU:C:2017:590, Rn. 49), vereinbar, wonach das in Art. 11 der Richtlinie 2008/115 geregelte Einreiseverbot erst ab dem Zeitpunkt der Rückkehr des Ausländers in sein Herkunftsland oder ein anderes Drittland "wirksam" wird? [...]
27 So hat der Gerichtshof entschieden, dass die Richtlinie 2008/115 der Regelung eines Mitgliedstaats, die den illegalen Aufenthalt mit strafrechtlichen Sanktionen ahndet, entgegensteht, soweit diese Regelung die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, der sich zwar illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält und nicht bereit ist, dieses Hoheitsgebiet freiwillig zu verlassen, gegen den aber keine Zwangsmaßnahmen im Sinne von Art. 8 dieser Richtlinie verhängt wurden und dessen Haft im Fall einer Inhaftnahme zur Vorbereitung und Durchführung seiner Abschiebung die höchstzulässige Dauer noch nicht erreicht hat (Urteil vom 6. Dezember 2011, Achughbabian, C-329/11, EU:C:2011:807, Rn. 50).
28 Der Gerichtshof hat allerdings darauf hingewiesen, dass dies nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten ausschließt, Vorschriften – gegebenenfalls strafrechtlicher Art – zu erlassen oder beizubehalten, die unter Beachtung der Grundsätze und des Ziels der Richtlinie 2008/115 den Fall regeln, dass Zwangsmaßnahmen es nicht ermöglicht haben, einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen abzuschieben. Folglich steht diese Richtlinie einer nationalen Regelung nicht entgegen, die die Inhaftierung eines Drittstaatsangehörigen zur Strafvollstreckung zulässt, auf den das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren angewandt wurde und der sich ohne Rechtfertigungsgrund für seine Nichtrückkehr illegal im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhält (Urteil vom 6. Dezember 2011, Achughbabian, C-329/11, EU:C:2011:807, Rn. 46, 48 und 50).
29 Daher ist festzustellen, dass das Königreich der Niederlande nach dieser Rechtsprechung in seinen Rechtsvorschriften grundsätzlich vorsehen kann, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der nach den im Vorabentscheidungsersuchen enthaltenen Angaben das mit der Richtlinie 2008/115 geschaffene Rückkehrverfahren abgeschlossen wurde, sich der Betroffene aber weiterhin ohne Rechtfertigungsgrund für seine Nichtrückkehr illegal in seinem Hoheitsgebiet aufhält, eine Freiheitsstrafe verhängt werden kann.
30 Zweitens ist zu prüfen, ob es mit der Richtlinie 2008/115 vereinbar ist, dass das Verhalten, das zur Strafbarkeit eines solchen illegalen Aufenthalts eines Drittstaatsangehörigen nach erfolgloser Durchführung des Rückkehrverfahrens führt, durch Bezugnahme auf die Kenntnis dieses Drittstaatsangehörigen von einem gegen ihn insbesondere wegen seiner Vorstrafen oder der Gefahr, die er für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit darstellt, verhängten Einreiseverbot umschrieben wird.
31 Gemäß Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 gehen Rückkehrentscheidungen mit einem Einreiseverbot einher, falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde. In anderen Fällen kann eine Rückkehrentscheidung mit einem Einreiseverbot einhergehen.
32 In den Rn. 45 bis 51 des Urteils vom 26. Juli 2017, Ouhrami (C-225/16, EU:C:2017:590), nach dessen Tragweite sich das vorlegende Gericht fragt, hat der Gerichtshof im Wesentlichen festgestellt, dass sich aus der Verwendung des Begriffs "Einreiseverbot", dem Wortlaut von Art. 3 Nrn. 4 und 6 der Richtlinie 2008/115 und dem Wortlaut und dem Zweck ihres Art. 11 Abs. 1 sowie der Systematik dieser Richtlinie, die klar unterscheidet zwischen einer Rückkehrentscheidung und einer möglichen Abschiebungsverfügung auf der einen Seite und einem Einreiseverbot auf der anderen Seite, ergibt, dass ein solches Verbot eine Rückkehrentscheidung ergänzen soll, indem es dem Betroffenen für eine bestimmte Zeit nach seiner "Rückkehr" – und damit seiner Ausreise aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten – untersagt wird, erneut in dieses Gebiet einzureisen und sich anschließend dort aufzuhalten. Ein mögliches Einreiseverbot bildet somit ein Mittel, um die Effizienz der Rückkehrpolitik der Union zu erhöhen. Denn es gewährleistet, dass ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger nach seiner Abschiebung während eines bestimmten Zeitraums nicht legal in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zurückkehren kann. Das Wirksamwerden eines solchen Verbots setzt demzufolge voraus, dass der Betroffene dieses Gebiet zuvor verlassen hat.
33 Daraus folgt, dass der illegale Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen bis zum Zeitpunkt der freiwilligen oder zwangsweisen Durchführung der Rückkehrverpflichtung durch die Rückkehrentscheidung und nicht durch das Einreiseverbot geregelt wird, das seine Wirkungen erst ab dem Zeitpunkt entfaltet, zu dem der Drittstaatsangehörige das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten tatsächlich verlässt.
34 Somit ist festzustellen, dass sich der Betroffene in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der er die Niederlande nach dem Erlass der Rückkehrentscheidung nicht verlassen hat und die darin vorgesehene Rückkehrverpflichtung folglich nie durchgeführt worden ist, in einer Situation des ursprünglichen, aber nicht eines späteren illegalen Aufenthalts befindet, der die Folge einer Verletzung des Einreiseverbots im Sinne von Art. 11 der Richtlinie 2008/115 wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juli 2017, Ouhrami, C-225/16, EU:C:2017:590, Rn. 55).
35 In einer solchen Situation kann der Betroffene nicht wegen Verstoßes gegen ein Einreiseverbot bestraft werden, da es an einem solchen Verstoß gerade fehlt. [...]
38 Für den Fall, dass das vorlegende Gericht dieser letztgenannten Auslegung von Art. 197 des Strafgesetzbuchs folgen sollte, ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten, da es ihnen nach der in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung grundsätzlich freisteht, eine Freiheitsstrafe gegen jeden Drittstaatsangehörigen zu verhängen, auf den das Rückkehrverfahren angewandt wurde und der sich ohne Rechtfertigungsgrund für die Nichtrückkehr weiterhin illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhält, erst recht eine Freiheitsstrafe nur für diejenigen unter diesen Drittstaatsangehörigen vorsehen können, die beispielsweise vorbestraft sind oder eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit darstellen.
39 Außerdem ist es nicht grundsätzlich mit der Richtlinie 2008/115 und insbesondere mit ihrem Art. 11 unvereinbar, wenn das strafbare Verhalten eines Drittstaatsangehörigen im nationalen Recht unter Bezugnahme darauf umschrieben wird, dass er sich in Kenntnis dessen, dass gegen ihn wegen eines solchen Verhaltens oder einer solchen Gefahr ein Einreiseverbot verhängt wurde, illegal in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhält.
40 Wie jedoch in den Rn. 32 bis 36 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, entfaltet ein Einreiseverbot keine Wirkungen, wenn die Rückkehrverpflichtung nicht durchgeführt wurde, und kann daher in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der der Betroffene das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nie verlassen hat, nicht als verletzt angesehen werden. Daher darf der Straftatbestand, um in dieser Situation anwendbar sein zu können, nicht durch Bezugnahme auf eine solche Verletzung umschrieben werden. [...]