Subsidiärer Schutz für eine Frau aus Gambia,die sich einer Zwangsverheiratung durch ihren Vater entzogen hat:
1. Von Zwangsehe betroffene Frauen sind keine soziale Gruppe, da in Gambia viele Frauen davon betroffen sind und ihnen somit das Merkmal der Andersartigkeit fehlt.
2. Eine Verfolgung wegen ihrer vorgetragenen Homosexualität droht nicht. Zwar sind homosexuelle Handlungen nach gambischem Recht strafbar, jedoch werden diese Vorschriften in der Praxis selten angewandt. Die neue Regierung hat sich von der homophoben Einstellung von Politiker*innen der alten Regierung distanziert. Außerdem hat die Klägerin ihre sexuelle Orientierung in Deutschland (und eigentlich auch in Gambia) nicht ausgelebt und es ist zweifelhaft, ob sie deshalb nichtstaatlicher Verfolgung (durch die Familie) ausgesetzt wäre.
3. Eine erneute Genitalverstümmelung droht nicht, weil sie bei erwachsenen Frauen nicht gegen deren Willen nicht durchgeführt wird.
4. Aufgrund der Flucht vor der Zwangsheirat drohen der Klägerin jedoch schwere Repressalien durch die Familie. Staatlicher Schutz ist hiergegen nicht verfügbar. Daher ist subsidiärer Schutz zu gewähren.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
bb) Die erforderliche Merkmalbezogenheit der erlittenen verabscheuungswürdigen Zwangsverheiratung mit Misshandlungen, welche der Klägerin bei einer Rückkehr wieder drohen könnten, lässt sich aber nicht ausreichend erkennen.
§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, die Genfer Flüchtlingskonvention und die Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU zählen das Geschlecht als Verfolgungsmerkmal nicht unmittelbar auf. Die Klägerin müsste daher als Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG von der erlebten Verfolgung betroffen gewesen sein (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG). Daran fehlt es. [...]
Es spricht viel dafür, dass in Gambia überwiegend Frauen zwangsverheiratet werden. Es mag zwar sein, dass vereinzelt auch Mahner einer arrangierten Ehe zugeführt werden, doch in den weit überwiegenden Fällen sind Frauen betroffen. Die Ehe von Kindern unter 18 Jahren ist in Gambia zwar illegal. Trotzdem sind etwa 34 % der Mädchen unter 18 Jahren und 10 % unter dem Alter von 15 Jahren verheiratet. Die Verheiratung von Minderjährigen wird vor allem im dörflichen Umfeld unter Berufung auf islamische Gesetze praktiziert. Aus einem Bericht von OFPRA (Division de l'information, de la documentation et des recherches v. 23.01.2017, Kurzbericht zu Zwangsehen in Gambia, abrufbar über ecoi.net) geht hervor, dass zwischen 2008 und 2014 neun Prozent der Mädchen mit 15 Jahren und 30 Prozent mit 18 Jahren verheiratet waren. Zwischen 2010 und 2015 waren 24 % der gambischen Frauen (10-19) verheiratet, während für dieselbe Altersgruppe der Anteil der betroffenen Männer bei null liegt. Laut der NGO-Plattform GirlsNotBrides sind 38,8 Prozent der 15-bis 19-jährigen Mädchen in Gambia verheiratet: Jedes dritte Mädchen würde so verheiratet sein, bevor es 18 ist (vgl. www.girlsnotbrides.org/childmarriage/gambia/, zuletzt abgerufen am 03.11.2020) Nach dem Gesetz hat jeder Bürger das Recht zu heiraten, sofern beide Parteien frei und uneingeschränkt zustimmen. Im Gewohnheitsrecht und in der Scharia wird jedoch ein Ehevertrag zwischen dem Bräutigam und dem Vormund der Braut ("wali") geschlossen, nicht zwischen Bräutigam und Braut selbst (vgl. SIGI - Social Institutions & Gender Index 2019-Gambia, Länderprofil über die Diskriminierung von Frauen und Mädchen (Gesetze, gesellschaftliche Normen und Praktiken, Dez. 2018, abrufbar über ecoi.net) Eine frühe Heirat zwingt Teenager zu einem Erwachsenenleben, auf das viele nicht vorbereitet sind, sowohl moralisch als auch physisch. Frühehe führt häufig zu einer Frühschwangerschaft, die zu Komplikationen der reproduktiven Gesundheit führen und zu Isolation oder zum Tod führen kann. Die meisten verheirateten Mädchen werden zu "Kindern". Sie können nicht nur keine reguläre Schulausbildung absolvieren, sondern müssen auch eine hohe Belastung wegen der Haushaltsführung ertragen (OFPR, a.a.O.).
In jedem Fall sind die sich aus einer Zwangsehe ergebenden Konsequenzen für Frauen in der Regel deutlich gravierender als für Männer. Häusliche Gewalt gegen Frauen ist verbreitet, trotz des "National Plan of action on genderbased violence 2013-2017", mit dem die Regierung versucht, Gewalt gegen Frauen zu senken (vgl. Anfragebeantwortung zu Gambia: Häusliche Gewalt, Schutzfähigkeit und -willigkeit des Staates ACCORD v. 14.12.2018, abrufbar über ecoi.net), Auch Vergewaltigung in der Ehe kommt vor und ist nicht kriminalisiert. Die Polizei betrachtete sie im Allgemeinen als eine häusliche Angelegenheit außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs. Misshandlungen werden oft nicht gemeldet, weil die Opfer Angst vor Repressalien, ungleichen Machtverhältnissen, Stigmatisierung, Diskriminierung und Druck von Familie und Freunden hatten (USDOS - US Department of State Gambia, Jahresbericht zur Menschenrechtslage im Jahr 2019). Es gibt keine effektiven Beschwerdemechanismen für Gewalt gegen Frauen, was sich in einer niedrigen Verfolgungsrate und unzureichender Unterstützung von Opfern auswirkt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 05.08.2019, S. 6),
Allerdings fehlt es vorliegend bei der sozialen Gruppe an der "Andersartigkeit", die das Gesetz vorsieht. Es ist unmöglich, die Betroffenen als eine von ihrer Umgebung wahrnehmbare abgegrenzte Gruppe nach § 3b Abs. 1 Nr. 4b AsylG aufzufassen (so in einem vergleichbaren Fall aus einem anderen Herkunftsland auch VG Karlsruhe, Urt. v. 19.07.2019 - A 10 K 15283/17 - juris; a.A. - allerdings ohne das Erfordernis des § 3b Abs. 1 Nr. 4b AsylG zu subsumieren - VG Münster, Urt. v. 24.01.2020 - 4 K 534/18.A - juris). Es kann dabei nur auf die Sichtweise der übrigen Gesellschaft ankommen (BVerwG, Beschl. v. 17.09.2019 - 1 B 45.18 - juris; Marx, AsylG, 10. Auflage 2019, § 3b Rn. 21). Dieser ist die abgrenzbare Zuordnung solcher betroffenen Frauen nicht möglich. Dies gilt insbesondere, da die Zwangsverheiratung in Gambia verbreitet ist und gerade auch viele minderjährige - trotz eines entsprechenden Verbots (siehe dazu III.) Kinder verheiratet sind.
b) Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an die Klägerin wegen ihrer vorgetragenen Homosexualität führt ebenso nicht zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]
Dies entspricht auch den Erkenntnissen des Gerichts zur Lage Homosexueller in Gambia. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg ist auch vor dem Machtwechsel in Gambia davon ausgegangen, dass Homosexuellen durch die staatliche Verurteilung der. Homosexualität in Gambia in der Praxis nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden droht. Er hat - freilich aus heutiger Sicht aus älteren Quellen - den Schluss gezogen, dass es an hinreichenden Belegen dafür fehle, dass strafrechtliche Verurteilungen gambischer Staatsangehöriger im Zusammenhang mit dem Vorwurf homosexueller Handlungen erfolgen (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26.10.2016 - A 9 S 908/13 - juris; VG Freiburg, Urteil vom 29.03.2018 - A 1 K 4602/16 - juris).
Dass sich dies nach dem Machtwechsel in Gambia im Jahr 2017 derart geändert hat, dass nunmehr eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung aufgrund von Homosexualität in Gambia droht, ist auch nach neueren Erkenntnismitteln nicht ersichtlich. Es ist zwar festzustellen, dass Homosexualität in Gambia nach wie vor unter Strafe steht. Eine Reihe von Artikeln aus dem gambischen Strafgesetzbuch kriminalisieren homosexuelle Handlungen. So gelten "unnatürliche Verstöße" als Straftaten, die mit bis zu 14 Jahren Haft geahndet werden (Artikel 144 Strafgesetzbuch), allein der Versuch von homosexuellen Handlungen wird mit bis zu 7 Jahren Haft bestraft (Artikel 145 Strafgesetzbuch). Nicht zuletzt hat Gambia seit einer Gesetzesänderung von 2014 eine der schwerwiegendsten Kriminalisierung von Homosexualität weltweit eingeführt, "verschärfte Homosexualität" (Artikel 144 §A Strafgesetzbuch) kann mit einer lebenslangen Gefängnisstrafe geahndet werden. Zu den verschärften Delikten zählt u.a., wenn der Straftäter HIV-positiv ist oder bei wiederholten Verstößen gegen das Gesetz (vgl. Arnold-Bergsträsser-lnstitut, Auskunft an VG Freiburg vom 06.08.2019, S. 2).
Die neue Regierung hat sich zwar von der homophoben Rhetorik der Vorgängerregierung distanziert, aber ohne eine eindeutige Gegenposition aufzunehmen. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat die Regierung von Adama Barrow versprochen, keine Strafverfolgung gegen gleichgeschlechtliche Paare auszuüben. Dieses Versprechen wurde 2017 in einem privaten Gespräch zwischen Forscherinnen von Human Rights Watch und dem Justizminister gemacht, was aber nirgendwo öffentlich wiederholt wurde. Insgesamt ist Präsident Barrow eher zurückhaltend in seine Äußerungen zu Homophobie in Gambia. So hat er in Gesprächen mit internationalen Geldgebern wie z.B, bei einem Treffen mit einer EU-Delegation Anfang 2017 oder bei einem Treffen der Staatsoberhäupter des Commonwealth 2018 und 2019 gesagt, dass Homosexualität "kein Thema" in Gambia wäre, aber ohne anzukündigen, sich konkret für die Entkriminalisierung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften einzusetzen (vgl. Arnold-Bergsträsser-lnstitut, Auskunft an VG Freiburg vom 06.08.2019, S. 2).
Andererseits wird in den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln auch ausgeführt, dass es seit dem Machtwechsel zu keinen öffentlich bekannten Ermittlungen, Verhaftungen oder Verurteilungen nach Artikel 144, 145 oder 147 des gambischen Strafgesetzbuchs gekommen sei, woraus man einerseits ableiten könne, dass es ein de facto-Moratorium gibt oder dass jegliche Ermittlungsverfahren und Verurteilungen wegen homosexuellen Handlungen nicht öffentlich bekannt sind. Die letzten bekannt gewordenen Verhaftungen erfolgten nach Kenntnis des Auswärtigen Amtes Im Jahr 2015. Zu Verurteilungen kam es nicht.
(2) Die Klägerin beruft sich aber auch eine nichtstaatliche Verfolgung durch ihre Familie. Aus den verfügbaren Quellen läset sich entnehmen, dass Homosexualität in Gambia nach wie vor gesellschaftlich geächtet wird und Homosexuelle eine starke gesellschaftliche Diskriminierung erfahren (Lagebericht des Auswärtigen Amtes, S, 6). Es gibt auch kein Antidiskriminierungsgesetz, das sie schützt (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation v. 24.03.2020, S. 20).
Die Klägerin macht eine Vorverfolgung durch ihren Vater geltend, der sie geschlagen habe, nachdem sie begonnen habe, die Frauengruppe zu besuchen. Es gibt aber stichhaltige Gründe, die eine Wiederholung dieser Art der Verfolgung im Falle einer Rückkehr der Klägerin entkräften (Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU). Die Klägerin hat nämlich in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage erklärt, dass sie in Deutschland ihre Homosexualität nicht ausgelebt hat. Während ihres Aufenthaltes in Deutschland hat sie nach ihren Angaben keine homosexuelle Beziehung gehabt oder eine solche angestrebt, auch zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung hatte sie keine Partnerin. Vielmehr hat die Klägerin angegeben, dass sie sich auf ihre Gesundheit konzentrieren wolle. Daher ist auch nicht davon auszugehen, dass sie sich bei einer Rückkehr nach Gambia erneut mit der Frauengruppe treffen würde, mit der Folge, dass ihr seitens ihres Vaters keine Homosexualität unterstellt würde.
c) Es gibt auch stichhaltige Gründe dafür, dass sich die von ihr erlebte Zwangsbeschneidung nicht wiederholen wird.
Nach den verfügbaren Erkenntnismitteln wird in Gambia in vielen Landesteilen Zwangsbeschneidung praktiziert. Diese, von der nach Angaben von Unicef etwa 75 % der weiblichen Bevölkerung betroffen sein sollen, ist zwar seit Dezember 2015 verboten, aber dennoch weit verbreitet, da ein Beharren auf dieser "Tradition" bei mindestens sieben der neun größten ethnischen Gruppen eine wirkliche Verbesserung verhindert. Weibliche Genitalverstümmelung wird an meist sehr jungen Mädchen durchgeführt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 05.08.2019, S. 6; BFA, Länderinformationsblatt v. 24.03.2020, S. 19). Dem entspricht die Angabe der Klägerin, diese schlimme Verletzung erlitten zu haben.
Es gibt aber auch hier stichhaltige Gründe, die eine Wiederholung dieser Art der Verfolgung im Falle einer Rückkehr der Klägerin entkräften (Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU). Abgesehen davon, dass sie weder beim Bundesamt noch auf die offene Frage der Berichterstatterin in der mündlichen Verhandlung, was sie bei einer Rückkehr befürchte, auf die erneute Zwangsbeschneidung abgestellt hat, haben nach den Erkenntnissen des Gerichts erwachsene Frauen eine Genitalverstümmelung gegen ihren Willen nicht zu befürchten (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 05.08.2019, S. 6).
III. Die Klägerin hat aber einen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, da ihr bei einer Rückkehr ein ernsthafter Schaden in Form einer erniedrigenden Behandlung durch ihren Vater droht. [...]
Die Berichterstatterin ist überzeugt, dass Klägerin im Fall der Rückkehr mit schweren Repressalien rechnen müsste, weil sie sich der zwangsweisen Eheschließung entzogen hat. Der Vertrag der Klägerin ist insoweit glaubhaft, weil sie die Geschehnisse weitgehend übereinstimmend wie in der Anhörung beim Bundesamt geschildert hat, überzeugend beantworten konnte. Ihre Angaben stehen auch in Einklang mit den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln. Die Ehe von Kindern unter 18 Jahren ist in Gambia zwar illegal. Trotzdem sind etwa 34 % der Mädchen unter 18 Jahren und 10 % unter dem Alter von 15 Jahren verheiratet, Die Verheiratung von Minderjährigen wird vor allem im dörflichen Umfeld unter Berufung auf islamische Gesetze praktiziert. Häusliche Gewalt gegen Frauen ist verbreitet, trotz des "National Plan of action on genderbased violence 2013-2017", mit dem die Regierung versucht, Gewalt gegen Frauen zu senken. Auch Vergewaltigung in der Ehe kommt vor und ist nicht kriminalisiert. Es gibt keine effektiven Beschwerdemechanismen für Gewalt gegen Frauen, was sich in einer niedrigen Verfolgungsrate und unzureichender Unterstützung von Opfern auswirkt (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 05.08.2019, S. 6),
Die Verfolgung geht von der Familie, also nichtstaatlichen Akteuren im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG aus. Nach den vorliegenden Erkenntnissen (s.o.) ist davon auszugehen, dass die gambische Regierung nicht willens bzw. in der Lage ist, die Klägerin vor einer drohenden Zwangsverheiratung und deren Folgen zu schützen, weil dies als Privatangelegenheit angesehen wird. Die Klägerin kann auch in dem kleinen Staat Gambia in keinem anderen Landesteil Schutz vor Verfolgung finden (§ 3e AsylG). Sie hat glaubhaft geschildert, dass sie als alleinstehende junge Frau ohne Berufsausbildung und familiäre Unterstützung nicht in der Lage sei, sich zu ernähren, weil sie aufgrund ihrer Erkrankungen, insbesondere den sich aus ihrer Beschneidung ergebenden Folgen, keiner Beschäftigung nachgehen könnte. [...]