OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 04.11.2020 - 3 B 25/20 - asyl.net: M29086
https://www.asyl.net/rsdb/m29086
Leitsatz:

Zeitliche Geltung einer Verpflichtungserklärung bei mangelnder Aufklärung durch Behörde:

1. Eine Verpflichtungserklärung ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung. Sie ist anhand der Umstände des Einzelfalls auszulegen. Wird ein Formular verwendet, ist erheblich, wie die erklärende Person das Formular verstehen durfte. Zweifel oder Unklarheiten gehen zu Lasten der Behörde.

2. Die sich verpflichtende Person ist im Regelfall in vollem Umfang zur Erstattung heranzuziehen. Hiervon kann abgesehen, werden, wenn die Erstattungspflicht zu einer unzumutbaren Belastung führen könnte.

3. Die Haftung kann ausgeschlossen sein, wenn die Tragweite der Haftung für die sich verpflichtende Person nicht erkennbar war, z.B. weil die Behörde es unterlassen hat, die Person ausreichend hierüber aufzuklären. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Verpflichtungserklärung, Aufenthaltszweck, Wechsel des Aufenthaltszwecks, Belehrung, Kostenerstattung, Haftung,
Normen: AufenthG § 68 Abs. 1, AufenthG § 23 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Haftung aus der Verpflichtungserklärung endete jedoch bereits vorzeitig vor dem Beginn des Leistungsbezugs im November 2015 dadurch, dass dem Schwager des Klägers nach erfolgreichem Durchlaufen des Asylverfahrens im Februar 2015 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 AufenthG erteilt wurde.

Das Fortbestehen der Haftung über den Wechsel des Aufenthaltsrechts von § 23 Abs. 1 AufenthG zu § 25 Abs. 1 AufenthG ("Rechtskreiswechsel") hinaus ergibt sich hier nicht schon aus § 68 Abs. 1 Satz 4 AufenthG. Denn diese Regelung ist auf die vor dem 6. August 2016 vom Kläger abgegebene Verpflichtungserklärung nicht anwendbar (vgl. § 68a Abs. 1 Satz 1 AufenthG und BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 - 1C 10.16 - juris Rn. 22). Anders als das Verwaltungsgericht angenommen hat, folgt eine Kostentragungspflicht, die den Zeitraum nach Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 1 AufenthG an den Schwager des Klägers umfasst, auch nicht unmittelbar aus der Verpflichtungserklärung vom 9. September 2014 selbst.

Die von dem Kläger abgegebene Verpflichtungserklärung regelt die Dauer der Verpflichtung dahingehend, dass die Haftung "bis zur Beendigung des Aufenthalts (...) oder bis zur Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Aufenthaltszweck“ fortbesteht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 26. Januar 2017 - 1C 10.16 - juris Rn. 27 ff.) ist hinsichtlich des Begriffs des "Aufenthaltszwecks“ in dem bundeseinheitlich verwendeten Vordruck für die Abgabe von Verpflichtungserklärungen grundsätzlich von den übergreifenden Aufenthaltszwecken des Aufenthaltsgesetzes auszugehen; den Verpflichtungserklärungen liegt in der Regel also kein enger, auf die einzelnen Aufenthaltstitel ausgerichteter Zweckbegriff zugrunde. Ist eine Verpflichtungserklärung - wie hier - abgegeben worden, um eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG zu ermöglichen, so hat dies zur Folge, dass sich die Haftung grundsätzlich - sofern keine besonderen Umstände vorliegen - auf jeden nachfolgenden Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen im Sinne des Kapitels 2, Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes erstreckt. Das gilt auch für Verpflichtungserklärungen, die vor dem Inkrafttreten der Regelung in § 68 Abs. 1 Satz 4 AufenthG am 6. August 2016 abgegeben wurden (vgl. für die konkrete Situation im jeweiligen Bundesland, in dem die Verpflichtungserklärung abgegeben wurde, z.B. auch OVG Magdeburg, Beschluss vom 24. Juni 2019 – 2 L 17/18 - juris Rn. 10 f.; OVG Saarlouis, Beschluss vom 17. April 2019 – 2 D 286/18 - juris Rn. 20; OVG Münster, Urteil vom 8. Dezember 2017 – 18 A 1197/16 - juris Rn. 32 ff., nachgehend BVerwG, Beschluss vom 20. März 2018 - 1 B 5.18 - juris, und Urteil vom 8. Dezember 2017 - 18 A 1040/16 - juris Rn. 33 ff., nachgehend BVerwG, Beschluss vom 14. März 2018 - 1 B 9.18 - juris, sowie Urteil vom 8. Dezember 2017 – 18 A 1125/16 - juris Rn. 30 ff., nachgehend BVerwG, Beschluss vom 18. April 2018 - 1 B 6.18 - juris; ferner unlängst auch VGH München, Beschluss vom 26. August 2020 - 10 ZB 20.1516 - juris Rn. 8 f.; a.A. VGH Mannheim, Urteil vom 12. Juli 2017 - 11 S 2338/16 - juris Rn. 27 ff.; offen gelassen OVG Koblenz, Urteil vom 7. November 2019 - 7 A 11069/18.OVG - juris Rn. 25, 31 ff.).

Hier liegen indes besondere Umstände vor, die eine abweichende Auslegung der in Rede stehenden Verpflichtungserklärung vom 9. September 2014 gebieten (vgl. vor dem Hintergrund der besonderen Weisungslage in Niedersachsen auch OVG Lüneburg, Urteil vom 11. Februar 2019 - 13 LB 441/18 - juris Rn. 28 ff. und Urteil vom 11. Februar 2019 - 13 LB 435/18 - juris Rn. 27 ff.).

Als einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung ist die Verpflichtungserklärung vom 9. September 2014 in entsprechender Anwendung der §§ 133, 157 BGB unter Würdigung der ihrer Unterzeichnung zugrundeliegenden Umstände des Einzelfalls auszulegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 1998 - 1 C 33.97 - juris Rn. 29, 34). Dabei kommt es für die Auslegung derartiger Willenserklärungen grundsätzlich auf den objektiven Empfängerhorizont an, also darauf, wie der Empfänger den erklärten Willen bei objektiver Würdigung verstehen musste. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn die fragliche Erklärung - wie hier - auf einem von einer Behörde als Erklärungsempfänger verwendeten vorformulierten Vordruck abgegeben wird oder sogar abgegeben werden muss (vgl. für die Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG Ziff. 68.2.1.1.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz <VV-AufenthG> vom 26. Oktober 2009). In diesem Fall ist weniger auf den Empfänger abzustellen als vielmehr darauf, wie der Erklärende das Formular bei objektiver Würdigung hat verstehen dürfen. Verbleiben insoweit Zweifel oder Unklarheiten, gehen diese zu Lasten der Behörde (vgl. nur VGH München, Beschluss vom 26. August 2020 - 10 ZB 20.1516 - juris Rn. 9; OVG Lüneburg, Urteil vom 11. Februar 2019 - 13 LB 441/18 - juris Rn. 29 und Urteil vom 11. Februar 2019 - 13 LB 435/18 - juris Rn. 28; jeweils m. w. Nachw.).

Dies zugrunde gelegt muss sich der Beklagte entgegenhalten lassen, dass für den Kläger eine derart weitreichende Verpflichtung, wie sie der Beklagte angenommen hat, bei der gebotenen objektiven Würdigung nicht hinreichend erkennbar sein konnte. Vielmehr verblieben im Zeitpunkt der Abgabe der Verpflichtungserklärung erhebliche Unklarheiten und Unsicherheiten über die zeitliche Dauer der Haftung, die einer Inanspruchnahme des Klägers entgegenstehen.

Ausgangspunkt ist für den Senat dabei zunächst, dass - wie auch andernorts in der obergerichtlichen Rechtsprechung bereits vielfach hervorgehoben wurde -, bis zum Inkrafttreten des Integrationsgesetzes am 6. August 2016 und dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Januar 2017 - 1 C 10.16 - (juris) hinsichtlich der Dauer der Haftung aus Verpflichtungserklärungen, die im Zusammenhang mit Landesaufnahmeprogrammen abgegeben wurden, keine eindeutige Rechtslage herrschte (vgl. nur OVG Koblenz, Urteil vom 7. November 2019 - 7A 11069/18.0VG - juris Rn. 31). Zwar vertrat etwa das Bundesinnenministerium von Anfang an die später vom Bundesverwaltungsgericht mit dem genannten Urteil vom 26. Januar 2017 bestätigte Ansicht, die Haftung ende mangels Änderung des Aufenthaltszwecks regelmäßig nicht mit dem "Rechtskreiswechsel". Schon das vom Bundesinnenministerium selbst in Ziff. 68.1.1.3 VV-AufenthG allgemein im Zusammenhang mit der Abgabe von Verpflichtungserklärungen genannte Beispiel für einen Aufenthaltszweckwechsel (Wechsel des Arbeitgebers, der die Verpflichtungserklärung für den Ausländer abgegeben hat) steht damit jedoch - zumal aus Laiensicht - zumindest in einem gewissen Spannungsverhältnis, legt es doch generell ein eher enges Verständnis des Begriffs des "Aufenthaltszwecks" nahe. So traten in einigen Bundesländern die zuständigen Landesbehörden der Rechtsauffassung des Bundesinnenministeriums denn auch entgegen und stellten in entsprechenden Erlassen oder anderweitigen Verlautbarungen ausdrücklich klar, dass aus ihrer Sicht die Verpflichtungsgeber mit der Erteilung eines Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder 2 AufenthG aus der Haftung entlassen würden (vgl. z.B. für die damalige niedersächsische Erlasslage OVG Lüneburg, Urteil vom 11. Februar 2019 – 13 LB 441/18 - juris Rn. 32 ff. und Urteil vom 11. Februar 2019 - 13 LB 435/18 - juris Rn. 31 ff.; ferner für die Situation in Hessen OVG Koblenz, Urteil vom 7. November 2019 – 7 A 11069/18.OVG - juris Rn. 31, unter Verweis auf die Presseerklärung des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport vom 30. Mai 2017 "Innenministerium prüft Verpflichtungserklärungen"; zur Situation in Rheinland-Pfalz OVG Münster, Urteil vom 8. Dezember 2017- 18 A 1125/16 - juris Rn. 52 ff.. nachgehend BVerwG, Beschluss vom 18. April 2018 - 1 B 6/18 - juris).

Die besondere Lage im Land Berlin war dadurch gekennzeichnet, dass es an öffentlich bekanntgemachten oder bekannt gewordenen Erlassen, Weisungen, Anwendungshinweisen, Merkblättern oder ähnlichen Verlautbarungen der zuständigen Landesbehörden, aus denen die Betroffenen den Umfang der Haftung hätten entnehmen können, gefehlt hat: Weder konnten sich die Betroffenen vergewissern, dass die Landesbehörden ein Fortbestehen der Haftung verneinten, noch mussten sie vom Gegenteil ausgehen. In der einschlägigen Aufnahmeanordnung vom 25. September 2013 heißt es in Pkt. II. 3. unter der Überschrift "Verpflichtungserklärung" lediglich: "Die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis setzt voraus, dass eine Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG abgegeben wurde." Und weiter: "Die Verpflichtungserklärung ist für jede einreisewillige Person getrennt abzugeben.“

In dieser Situation kam der individuellen Aufklärung und Beratung der Betroffenen bei Abgabe der Verpflichtungserklärung eine gesteigerte Bedeutung zu (vgl. allgemein auch § 25 VwVfG; für die besondere Bedeutung der Belehrungspflicht speziell im Zusammenhang mit der Abgabe von Verpflichtungserklärungen im Rahmen der Landesaufnahmeprogramme ferner etwa OVG Koblenz, Urteil vom 7. November 2019 - 7 A 11069/18.OVG - juris Rn. 37). Tatsächlich hat eine solche individuelle Aufklärung und Beratung im Land Berlin in vielen Fällen offenbar jedoch nicht stattgefunden, wie sich auch aus der von der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales erlassenen "Weisung des Landes Berlin als kommunaler Träger zum Umgang mit Erstattungsforderungen aus Verpflichtungserklärungen nach §§ 68, 68a AufenthG, die im Rahmen der Landesaufnahmeanordnungen vor dem 6. August 2016 abgegeben wurden (sog. Altfälle)" vom 18. Dezember 2019 (im Folgenden: Weisung des Landes Berlin vom 18. Dezember 2019) ergibt. Darin ist nunmehr ein Absehen der Geltendmachung von Ersatzforderungen in Bezug auf die kommunalen Leistungen nach dem SGB II unter anderem für die Fälle vorgesehen, in denen es die Ausländerbehörde "nachweislich verabsäumt <hat>, die Verpflichtungsgeberin bzw. den Verpflichtungsgeber über die Dauer der Haftung zu belehren" (Ziff. 3). [...]