Aufenthaltsrecht und Sozialleistungen für arbeitslos gewordene Unionsbürger*innen bei Schulbesuch der Kinder:
1. Ein Kind von arbeitslos gewordenen Arbeitnehmer*innen hat aus Art. 10 der Freizügigkeitsverordnung 492/11/EU ein eigenständiges Aufenthaltsrecht, wenn es (weiter) am Schulunterricht im Aufnahmemitgliedstaat teilnehmen möchte. Dann besitzt auch ein die elterliche Sorge wahrnehmender Elternteil ein entsprechendes Aufenthaltsrecht.
2. Personen, denen ein solches Aufenthaltsrecht zusteht, genießen ein Recht auf Gleichbehandlung im Bereich der Gewährung sozialer Vergünstigungen aus Art. 7 Abs. 2 Freizügigkeitsverordnung 2011. Der Ausschluss von Sozialleistungen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. c SGB II ist eine unzulässige Ungleichbehandlung und verstößt gegen Unionsrecht.
3. Auch der Ausschluss von Sozialleistungen nach Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG für Personen, denen ein Aufenthaltsrecht als Arbeitssuchende zusteht, ist nicht anwendbar, wenn (zusätzlich) ein solches Aufenthaltsrecht besteht.
(Leitsätze der Redaktion)
Anmerkung:
[...]
35 Aus dieser Rechtsprechung geht hervor, dass zum einen das Kind eines Wanderarbeitnehmers oder früheren Wanderarbeitnehmers aufgrund des Rechts auf Gleichbehandlung hinsichtlich des Zugangs zum Unterricht ein eigenes Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat hat, wenn es weiter am allgemeinen Unterricht in diesem Mitgliedstaat teilnehmen möchte. Zum anderen erfordert die Anerkennung eines eigenen Aufenthaltsrechts dieses Kindes, dass ein entsprechendes Aufenthaltsrecht des Elternteils, der die elterliche Sorge für dieses Kind tatsächlich wahrnimmt, anerkannt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. September 2002, Baumbast und R, C-413/99, EU:C:2002:493, Rn. 63 und 75, sowie vom 23. Februar 2010, Teixeira, C-480/08, EU:C:2010:83, Rn. 36). [...]
45 Somit fallen Arbeitnehmer im Sinne von Art. 45 AEUV in den Anwendungsbereich von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011. Während allerdings für Angehörige der Mitgliedstaaten, die zuwandern, um eine Beschäftigung zu suchen, der Grundsatz der Gleichbehandlung nur für den Zugang zum Arbeitsmarkt gilt, genießen diejenigen, die bereits Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden haben, aufgrund von Art. 7 Abs. 2 dieser Verordnung die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. März 2004, Collins, C-138/02, EU:C:2004:172, Rn. 31). [...]
48 Im Übrigen können, wie sich aus der insbesondere in Rn. 37 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, die Rechte eines Arbeitnehmers aus der Union und seiner Familienangehörigen aus der Verordnung Nr. 492/2011 unter bestimmten Umständen auch nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses fortgelten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. September 2002, Baumbast und R, C-413/99, EU:C:2002:493, Rn. 70).
49 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 54 und 55 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, erwachsen somit das den Kindern eines solchen Arbeitnehmers aufgrund von Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011 zustehende Aufenthaltsrecht und folglich das Aufenthaltsrecht des Elternteils, der die elterliche Sorge für diese Kinder wahrnimmt, wenn die Rechte einmal erworben sind, zu gegenüber dem ursprünglichen, durch die Arbeitnehmereigenschaft des betreffenden Elternteils begründeten Aufenthaltsrecht eigenständigen Rechten und können über den Verlust dieser Eigenschaft hinaus fortbestehen; dadurch wird diesen Kindern ein verstärkter rechtlicher Schutz geboten und verhindert, dass ihrem Recht auf Gleichbehandlung hinsichtlich des Zugangs zum Unterricht die praktische Wirksamkeit genommen wird.
50 Das Gleiche muss in einem Sachverhalt, in dem die Kinder und der Elternteil, der die elterliche Sorge für sie tatsächlich wahrnimmt, ein Aufenthaltsrecht aufgrund von Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011 haben, für das in Art. 7 Abs. 2 dieser Verordnung vorgesehene Recht auf Gleichbehandlung im Bereich der Gewährung sozialer Vergünstigungen gelten. Bei einem solchen Sachverhalt geht nämlich das letztgenannte Recht ebenso wie die genannten "abgeleiteten" Aufenthaltsrechte ursprünglich auf die Arbeitnehmereigenschaft des betreffenden Elternteils zurück und muss nach dem Verlust dieser Eigenschaft aus den gleichen Gründen, die die Aufrechterhaltung dieser Aufenthaltsrechte rechtfertigen, fortbestehen.
51 Eine solche Auslegung von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 in Verbindung mit deren Art. 10 trägt zu dem mit dieser Verordnung verfolgten Ziel bei, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu fördern, da sie es erlaubt, bestmögliche Bedingungen für die Integration der Familienangehörigen von Unionsbürgern zu schaffen, die von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht und im Aufnahmemitgliedstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt haben.
52 Diese Auslegung verhindert nämlich, dass eine Person wie JD, die beabsichtigt, gemeinsam mit ihrer Familie ihren Herkunftsmitgliedstaat zu verlassen, um in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten, und die ihre Kinder dort zur Schule schicken möchte, dem Risiko ausgesetzt ist, bei Verlust ihrer Arbeitnehmereigenschaft den Schulbesuch ihrer Kinder unterbrechen und in ihr Herkunftsland zurückkehren zu müssen, weil sie nicht die Sozialleistungen in Anspruch nehmen kann, die der Aufnahmemitgliedstaat seinen eigenen Staatsangehörigen gewährleisten würde und die den Lebensunterhalt der Familie in diesem Mitgliedstaat sicherstellen würden. [...]
54 Somit genießt ein Kind, wenn es im Aufnahmemitgliedstaat ein Aufenthaltsrecht aufgrund von Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011 hat, ebenso wie sein Elternteil, der die elterliche Sorge tatsächlich wahrnimmt, das Recht auf Gleichbehandlung nach Art. 7 Abs. 2 dieser Verordnung selbst dann, wenn dieser Elternteil seine Arbeitnehmereigenschaft verloren hat.
55 Daraus folgt, dass Personen, denen ein Aufenthaltsrecht aufgrund von Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011 zusteht, auch das Recht auf Gleichbehandlung im Bereich der Gewährung sozialer Vergünstigungen aus Art. 7 Abs. 2 dieser Verordnung genießen, selbst wenn sie sich nicht mehr auf die Arbeitnehmereigenschaft berufen können, aus der sie ihr Aufenthaltsrecht ursprünglich herleiteten. [...]
65 Somit wird durch die Berücksichtigung des Zusammenhangs, in den sich Art. 24 der Richtlinie 2004/38 einfügt, die Auslegung bestätigt, wonach die in dessen Abs. 2 niedergelegte Ausnahme vom Gleichbehandlungsgrundsatz nur auf Sachverhalte Anwendung findet, die unter Art. 24 Abs. 1 fallen, d. h. auf Sachverhalte, in denen das Aufenthaltsrecht auf dieser Richtlinie beruht, und nicht auf solche, in denen dieses Recht seine eigenständige Grundlage in Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011 findet. [...]
69 Im Übrigen fallen Personen wie JD und seine Töchter zwar auch in den Anwendungsbereich von Art. 24 der Richtlinie 2004/38 einschließlich der Ausnahme in dessen Abs. 2, da sie ein Aufenthaltsrecht aufgrund von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie genießen. Doch kann ihnen diese Ausnahme nicht entgegengehalten werden, da sie sich auch auf ein eigenständiges Aufenthaltsrecht aufgrund von Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011 berufen können. [...]
73 Es stellt eine Ungleichbehandlung gegenüber Inländern im Bereich der sozialen Vergünstigungen dar, wenn Personen, die wie JD und seine Töchter Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind und ihr Aufenthaltsrecht aus Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011 herleiten, gemäß einer innerstaatlichen Bestimmung wie § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Buchst. c SGB II von jeglichem Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen werden. [...]
77 Somit verstößt der Ausschluss nicht erwerbstätiger Staatsangehöriger anderer Mitgliedstaaten, die ein eigenständiges Aufenthaltsrecht nach Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011 genießen, von jeglichem Anspruch auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gegen Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 492/2011 in Verbindung mit deren Art. 10. [...]
79 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 2 und Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats und seine minderjährigen Kinder, die alle im erstgenannten Mitgliedstaat ein Aufenthaltsrecht aufgrund von Art. 10 dieser Verordnung genießen, weil die Kinder dort die Schule besuchen, unter allen Umständen automatisch vom Anspruch auf Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts ausgeschlossen sind. Diese Auslegung wird durch Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 nicht in Frage gestellt. [...]
89 Nach diesen Erwägungen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 in Verbindung mit deren Art. 3 Abs. 3 und Art. 70 Abs. 2 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats und seine minderjährigen Kinder, die alle im erstgenannten Mitgliedstaat ein Aufenthaltsrecht aufgrund von Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011 genießen, weil die Kinder dort die Schule besuchen, und die dort in einem Sozialversicherungssystem im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 eingebunden sind, unter allen Umständen automatisch vom Anspruch auf besondere beitragsunabhängige Geldleistungen ausgeschlossen sind. [...]