Aufenthaltsrecht für drittstaatsangehörige Familienangehörige von EU-Staatsangehörigen aus Art. 20 AEUV:
"1. Ein unmittelbar aus Art. 20 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht des Drittstaatsangehörigen eines deutschen Kindes führt auf einen rechtmäßigen Aufenthalt.
2. Aus einem familiären Zusammenleben folgt in der Regel ein affektives Abhängigkeitsverhältnis.
3. Kein Visumverfahrenerfordernis für europarechtlich Aufenthaltsberechtigte nach § 39 Nr. 2 AufenthV."
(Amtliche Leitsätze; ähnlich: VG Düsseldorf Entscheidung vom gleichen Tag, 7 L 402/20; siehe auch VG Aachen, Beschluss vom 16. April 2020 – 4 L 1081/19 –, juris; anders aber Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 04. Mai 2020 – 10 ZB 20.666 –, juris)
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Dem Antragsteller kommt als Vater der deutschen Staatsangehörigen ... (geb. ... 2018 in ...) ein sich unmittelbar aus Art. 20 AEUV ergebendes Bleiberecht zu. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union kann einem Drittstaatsangehörigen ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zustehen, das aus Art. 20 AEUV abgeleitet wird. Dieses setzt voraus, dass ein vom Drittstaatsangehörigen abhängiger Unionsbürger ohne den gesicherten Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen faktisch gezwungen wäre, das Unionsgebiet zu verlassen und ihm dadurch der tatsächliche Genuss des Kernbestands seiner Rechte als Unionsbürger verwehrt wird (grundlegend: EuGH, Urteile vom 19. Oktober 2004 - C-200/02 [ECLI:EU:C:2004:639], Zhu und Chen - Rn. 25 ff.; vom 8. März 2011 - C-34/09 [ECLI:EU:C:2011:124], Zambrano - Rn. 41 ff.; in jüngerer Zeit: Urteile vom 13. September 2016 - C-165/14 [ECLI:EU:C:2016:675], Rendón Martin - NVwZ 2017, 218 Rn. 51 ff.; vom 10. Mai 2017 - C-133/15 [ECLI:EU:C:2017:354], Chavez-Vilchez - NVwZ 2017, 1445 Rn. 70 ff.; vom 8. Mai 2018 - C-82/16 [ECLI:EU:C:2018:308], K.A - Rn. 64 ff; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 9.12 - BVerwGE 147, 261 Rn. 33 ff.).
Die Gewährung eines solchen Aufenthaltsrechts kann nach der Rechtsprechung des EuGH jedoch nur "ausnahmsweise" oder bei "Vorliegen ganz besondere(r) Sachverhalte" erfolgen (EuGH, Urteile vom 15. November 2011 - C-256/11 [ECLI:EU:C:2011:734], Dereci - NVwZ 2012, 97 Rn. 67; vom 8. November 2012 - C-40/11 [ECLI:EU:C:2012:691], Iida - NVwZ 2013, 357 Rn. 71 und vom 8. Mai 2018 - C-82/16 - Rn. 51).
Verhindert werden soll nämlich nur eine Situation, in der der Unionsbürger für sich keine andere Wahl sieht, als einem Drittstaatsangehörigen, von dem er rechtlich, wirtschaftlich oder affektiv abhängig ist, bei der Ausreise zu folgen oder sich zu ihm ins Ausland zu begeben und deshalb das Unionsgebiet zu verlassen (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 9.12 - BVerwGE 147, 261 Rn. 34).
Gegen eine rechtliche und wirtschaftliche Abhängigkeit spricht etwa die Tatsache, dass ein minderjähriger Unionsbürger mit einem sorgeberechtigten Elternteil zusammenlebt, der über ein Daueraufenthaltsrecht verfügt und berechtigt ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Allerdings ist es möglich, dass dessen ungeachtet eine so große affektive Abhängigkeit des Kindes von dem nicht aufenthaltsberechtigten Elternteil besteht, dass sich das Kind zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sähe, wenn dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht verweigert würde. Einer solchen Feststellung muss die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Kindeswohls zugrunde liegen, insbesondere des Alters des Kindes, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung sowohl zu dem Elternteil, der Unionsbürger ist, als auch zu dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit und des Risikos, das mit der Trennung von Letzterem für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Mai 2017 - C-133/15 - Rn. 71; BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 15.12 - BVerwGE 147, 278 Rn. 32 ff.).
Im Rahmen dieser Beurteilung haben die zuständigen Behörden dem Recht auf Achtung des Familienlebens Rechnung zu tragen, das in Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegt ist, wobei dieser Artikel in Zusammenschau mit der Verpflichtung auszulegen ist, das in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannte Kindeswohl zu berücksichtigen (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Mai 2017 - C-133/15 - Rn. 70). [...]
Einem Bleiberecht unmittelbar aus Art. 20 AEUV steht auch nicht entgegen, dass der Antragsteller mit seiner illegalen Einreise Anfang Juni 2018 den Straftatbestand des § 95 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG und damit ein schwer wiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG verwirklicht hat. Allerdings können auch nach der Rechtsprechung des EuGH Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit dem Bestand von Bleiberechten aus Art. 20 AEUV für Drittstaatsangehörige entgegenstehen. So hat der Gerichtshof ausgeführt:
"Art. 20 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, nach der einem Drittstaatsangehörigen, der Vater von minderjährigen Kindern ist, die Unionsbürger sind und für die er allein sorgt, allein wegen des Vorliegens von Vorstrafen eine Aufenthaltserlaubnis automatisch zu verweigern ist, entgegensteht, sofern die Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis zur Folge hat, dass die Kinder das Unionsgebiet verlassen müssen. Denn Art. 20 AEUV lässt zwar die Möglichkeit der Mitgliedstaaten unberührt, sich u.a. auf eine Ausnahme wegen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit zu berufen. Da die Situation des Drittstaatsangehörigen, der Vater von minderjährigen Kindern ist, die Unionsbürger sind und für die er allein sorgt, aber in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, ist bei ihrer Beurteilung das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu berücksichtigen, wobei dieser Artikel im Zusammenhang mit der Verpflichtung zu sehen ist, das Wohl des Kindes, wie es in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannt ist, zu berücksichtigen. Im Übrigen sind die Begriffe "öffentliche Ordnung" und "öffentliche Sicherheit" als Rechtfertigung für eine Abweichung vom Aufenthaltsrecht der Unionsbürger oder ihrer Familienangehörigen eng auszulegen, so dass ihre Tragweite nicht ohne Kontrolle durch die Organe der Union einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden darf. Der Begriff "öffentliche Ordnung" setzt jedenfalls voraus, dass außer der Störung der sozialen Ordnung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Der Begriff "öffentliche Sicherheit" umfasst sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats, so dass die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können. In diesem Kontext ist die Verweigerung des Aufenthaltsrechts wegen des Vorliegens einer tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit aufgrund der Straftaten, die ein für Kinder, die Unionsbürger sind, allein sorgeberechtigter Drittstaatsangehöriger begangen hat, mit dem Unionsrecht vereinbar. Ein solcher Schluss kann jedoch nicht automatisch allein auf der Grundlage der Vorstrafen des Betroffenen gezogen werden. Vorausgehen muss stets eine konkrete Beurteilung sämtlicher aktuellen, relevanten Umstände des Einzelfalls durch das nationale Gericht unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, des Wohls des Kindes und der Grundrechte, deren Beachtung der Gerichtshof sichert. Bei dieser Beurteilung sind daher u.a. das persönliche Verhalten des Betroffenen, die Dauer und Rechtmäßigkeit seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats, die Art und Schwere der begangenen Straftat, der Grad der gegenwärtigen Gefährlichkeit des Betroffenen für die Gesellschaft, das Alter der Kinder und ihr Gesundheitszustand sowie ihre familiäre und wirtschaftliche Situation zu berücksichtigen." (vgl. Urteil vom 13. September 2019, - C-165/14 -, Rendon Marin, juris Ls Nr. 5, Rn 81 ff.).
Gemessen an diesen Maßstäben steht dem Bleiberecht des Antragstellers das aus seiner illegalen Einreise resultierende Ausweisungsinteresse, nicht entgegen. Dabei kann schon offenbleiben, ob generalpräventive Erwägungen insoweit überhaupt von Belang sein können (ausdrücklich verneinend bei Rechten aus Art. 21 AEUV: EuGH Urteil vom 13. September 2019, - C-165/14 -, Rendon Marin, juris Ls Nr. 4, Rn 61).
Jedenfalls verlangt eine Störung der "öffentlichen Ordnung", dass "eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt". Aus der einmaligen illegalen Einreise des Antragstellers im Juni 2018 - mithin vor zwei Jahren -, die zu keiner strafrechtlichen Verfolgung geführt hat, lässt sich weder eine Wiederholungsgefahr für die Begehung eines gleichen Delikts durch den Antragsteller noch eines anderen Delikts ähnlichen Gewichts begründen, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Anderes hat auch die Antragsgegnerin nicht aufgezeigt.
Steht dem Antragsteller mithin ein Bleiberecht ab Geburt seiner Tochter ... am ... 2018 wegen deren Abhängigkeitsverhältnisses zu ihm aus dem ihr als deutscher Staatsangehöriger zustehenden Recht aus Art. 20 AEUV zu, ist sein Aufenthalt nach der Rechtsprechung des EuGH nicht mehr illegal im Sinne der Rückführungsrichtlinie. (EuGH, Urteil vom 8. Mai 2018 – C-82/16 -, K.A. u.a., juris Rz.89). [...]