EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 12.12.2019 - C-381/18; C-382/18 G.S., V.G. gg. Niederlande - asyl.net: M28235
https://www.asyl.net/rsdb/m28235
Leitsatz:

Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts für drittstaatsangehörige Familienangehörige von EU-Staatsangehörigen:

Die Behörden eines Mitgliedstaates können die Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Familienzusammenführung einer drittstaatsangehörigen Person mit einer Person mit EU Saatsanegehörigkeit ablehnen, wenn diese zu einer im Verhältnis zur Aufenthaltsdauer langen Haftstrafe verurteilt wurde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, Unionsrecht, Unionsbürger, Drittstaatsangehörige, drittstaatsangehöriger Ehegatte, Straftat, Freiheitsstrafe, Gefährdung der öffentlichen Ordnung, G.S., V.G., Niederlande
Normen: RL 2003/86 Art. 6, RL 2003/86 Art. 17,
Auszüge:

[...]

50 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten einen auf diese Richtlinie gestützten Antrag auf Einreise und Aufenthalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der öffentlichen Sicherheit oder der öffentlichen Gesundheit ablehnen können.

51 Nach Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Richtlinie können die Mitgliedstaaten aus denselben Gründen einen auf die Richtlinie gestützten Aufenthaltstitel entziehen oder dessen Verlängerung ablehnen.

52 Folglich können die Mitgliedstaaten die in Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2003/86 vorgesehenen Entscheidungen u. a. dann erlassen, wenn davon auszugehen ist, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt.

53 In diesem Zusammenhang ist zur Ermittlung der Tragweite des Begriffs "Gründe der öffentlichen Ordnung" im Sinne dieser Bestimmungen darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Unionsbürger, der von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, und bestimmte Mitglieder seiner Familie nur dann als Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen werden können, wenn ihr individuelles Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats berührt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. April 2004, Orfanopoulos und Oliveri, C-482/01 und C-493/01, EU:C:2004:262, Rn. 66 und 67, sowie vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C-673/16, EU:C:2018:385, Rn. 44). [...]

65 Daraus folgt, dass die zuständigen Behörden nicht automatisch davon ausgehen dürfen, dass ein Drittstaatsangehöriger nur deshalb eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2003/86 darstellt, weil gegen ihn irgendeine strafrechtliche Verurteilung ergangen ist.

66 Somit können diese Behörden nur dann feststellen, dass ein Drittstaatsangehöriger allein aufgrund des Umstands, dass er wegen der Begehung einer Straftat verurteilt wurde, eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstelle, wenn diese Straftat eine derartige Schwere bzw. Art aufweist, dass sie den Ausschluss dieses Drittstaatsangehörigen vom Aufenthalt im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verlangt.

67 Dieses Ergebnis wird im Übrigen sowohl durch die Bezugnahme auf den Begriff "Verurteilung wegen der Begehung einer schwerwiegenden Straftat" im 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86 als auch speziell für den Entzug bzw. die Verweigerung der Ablehnung eines Aufenthaltstitels durch das von Art. 6 Abs. 2 Unterabs. 2 dieser Richtlinie aufgestellte Erfordernis der Berücksichtigung der Schwere oder der Art der begangenen Straftat bestätigt.

68 Darüber hinaus müssen die zuständigen Behörden vor dem Erlass eines ablehnenden Bescheids auf der Grundlage von Art. 6 der genannten Richtlinie 2003/86 gemäß deren Art. 17 eine individuelle Prüfung der Situation der betroffenen Person vornehmen, bei der sie in gebührender Weise die Art und die Stärke der familiären Bindungen dieser Person, die Dauer ihres Aufenthalts in dem Mitgliedstaat sowie das Vorliegen familiärer, kultureller oder sozialer Bindungen zu ihrem Herkunftsland zu berücksichtigen haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. März 2019, E., C-635/17, EU:C:2019:192, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung). [...]

70 Angesichts der vorstehenden Erwägungen ist auf die beiden Fragen in der Rechtssache C-381/18 sowie auf die zweite und dritte Frage in der Rechtssache C-382/18 zu antworten, dass Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass er einer innerstaatlichen Praxis nicht entgegensteht, nach der die zuständigen Behörden aus Gründen der öffentlichen Ordnung zum einen auf diese Richtlinie gegründete Einreise- und Aufenthaltsanträge aufgrund von im Zuge eines vorhergehenden Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats ergangenen strafrechtlichen Verurteilungen ablehnen und zum anderen auf dieser Richtlinie beruhende Aufenthaltstitel entziehen bzw. deren Verlängerung ablehnen können, wenn gegen den Antragsteller eine im Verhältnis zur Aufenthaltsdauer hinreichend schwere Strafe verhängt wurde, sofern diese Praxis nur dann Anwendung findet, wenn die der in Rede stehenden strafrechtlichen Verurteilung zugrunde liegende Straftat hinreichend schwerwiegend ist, um die Notwendigkeit des Ausschlusses dieses Antragstellers vom Aufenthalt zu begründen, und sofern die zuständigen Behörden die in Art. 17 dieser Richtlinie vorgesehene individuelle Prüfung vornehmen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. [...]