BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 15.08.2019 - 1 C 32.18 - asyl.net: M28217
https://www.asyl.net/rsdb/m28217
Leitsatz:

Vorlage an den EuGH zum Beurteilungszeitpunkt der Minderjährigkeit beim Familienschutz:

1. Ist bei Gewährung von Familienschutz für die Eltern (oder ein Elternteil oder eine sorgeberechtigte Person) eines subsidiär schutzberechtigten Kindes für die Beurteilung seiner Minderjährigkeit i.S.d. Art. 2 Bst. j Spiegelstrich 3 QualifikationsRL auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag der Eltern abzustellen oder auf einen früheren Zeitpunkt, etwa der Schutzzuerkennung an das Kind, der Asylantragsstellung oder Einreise der Eltern oder der Asylantragsstellung des Kindes?

2. Für den Fall, dass auf den Zeitpunkt einer Asylantragsstellung abzustellen ist: ist auf das der für den Asylantrag zuständigen Behörde bekanntgewordene Schutzersuchen abzustellen oder auf den förmlich gestellten Schutzantrag ?

3. Falls auf die Antragstellung oder Einreise der Eltern abzustellen ist, kommt es auch darauf an, ob zu diesem Zeitpunkt über das Schutzgesuch des Kindes noch nicht entschieden war?

4. Zum Begriff "Familienangehörige" i.S.d. Art. 2 Bst. j QualifikationsRL:

a. Setzt dieser voraus, dass das Familienleben zwischen dem Kind und den Eltern i.S.d. Art. 7 GR-Charta im Aufnahmemitgliedstaat wiederaufgenommen worden ist, oder genügt die bloße zeitgleiche Anwesenheit?

b. Muss die Einreise der Eltern darauf gerichtet sein, die Verantwortlichkeit i.S.d. Art. 2 Bst. j QualifikationsRL für ihr Kind tatsächlich wahrzunehmen?

c. Falls es auf eine Wiederaufnahme des Familienlebens i.S.d. Art. 7 GR-Charta im Aufnahmemitgliedstaat ankommt: Muss das Familienleben innerhalb einer bestimmten Frist nach Einreise der Eltern, zum Zeitpunkt ihrer Asylantragstellung oder zu einem Zeitpunkt wiederhergestellt worden ist, zu dem das Kind noch minderjährig war?

5. Endet die Eigenschaft der Eltern als „Familienangehörige“ i.S.d. Art. 2 Buchst. j QualifikationsRL mit dem Eintritt der Volljährigkeit des Kindes und dem damit verbundenen Wegfall der elterlichen Verantwortlichkeit? Falls nein, besteht die Eigenschaft und die damit verbundenen Rechte über diesen Zeitpunkt hinaus zeitlich unbegrenzt fort oder entfällt sie nach einer bestimmten Frist oder bei Eintritt bestimmter Ereignisse? Wenn ja, welche Fristen oder Ereignisse lassen sie entfallen?

(Leitsätze der Redaktion; Antwort des EuGH: Urteil vom 09.09.2021 - C-768/19 SE gg. Deutschland - asyl.net: M29994)

Schlagwörter: minderjährig, Volljährigkeit, Familienflüchtlingsschutz, subsidiärer Schutz, Beurteilungszeitpunkt, unbegleitete Minderjährige, Achtung des Familienlebens, Verantwortlichkeit, Familienleben, Vorlagebeschluss, Familienasyl, Familienschutz, Minderjährigkeit,
Normen: AsylG § 26, RL 2011/95/EU Art. 2 Bst. j, GR-Charta Art. 7,
Auszüge:

[...]

2.1 Die Vorlagefragen sind erheblich für die Entscheidung über das Begehren des Klägers, ihm auf der Grundlage des § 26 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 AsylG als Elternteil eines minderjährigen ledigen Schutzberechtigten den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen. [...]

Der Antrag des Klägers auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes als Elternteil hätte somit Erfolg, wenn im maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt A. minderjährig im Sinne des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG war und der Kläger im Sinne des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG die Personensorge für diesen innehatte. [...]

Der Begriff der Familie und damit auch der Begriff des Familienangehörigen im Sinne der nationalen Anspruchsgrundlage bestimmt sich gemäß der ausdrücklichen Verweisung in § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG nach Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU. Gemäß Art. 2 Buchst. j Spiegelstrich 3 RL 2011/95/EU zählt zu den "Familienangehörigen" der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, wenn diese Person minderjährig und nicht verheiratet ist, unter anderem deren Vater, sofern sich dieser im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhält und die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat. Dem Wortlaut der Norm ist nicht eindeutig zu entnehmen, welcher Zeitpunkt für die Beurteilung der Minderjährigkeit der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, maßgeblich ist und ob und gegebenenfalls innerhalb welcher Grenzen die Eigenschaft des Vaters als Familienangehöriger auch nach Eintritt der Volljährigkeit der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, fortdauert. [...]

a) Mit der Vorlagefrage zu 1. möchte das vorlegende Gericht wissen, auf welchen Zeitpunkt in einer Fallgestaltung wie der vorliegenden für die Beurteilung der Frage, ob der Schutzberechtigte "minderjährig" im Sinne des Art. 2 Buchst. j Spiegelstrich 3 RL 2011/95/EU ist, abzustellen ist.

Die nationale Rechtsprechung stellt bislang teilweise - entsprechend dem im nationalen Asylprozessrecht allgemein geltenden Grundsatz des § 77 AsylG - auch für die Minderjährigkeit des Schutzberechtigten auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag des Elternteils (der nach dem deutschen Umsetzungskonzept immer auch auf den in der Rechtsfolge identischen, abgeleiteten  Familienschutz gerichtet ist) ab. [...]

Dem Wortlaut des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU lassen sich insoweit im Kontext der Zuerkennung des subsidiären Schutzes als Elternteil eindeutige Erkenntnisse nicht entnehmen. [...]

Die Vorlagefrage zu 1. und auch die weiteren Fragen beziehen sich auf eine Fallkonstellation, in welcher der schutzberechtigte Familienangehörige, von dem ein Schutzstatus abgeleitet werden soll, nicht als Flüchtling anerkannt worden ist, sondern ihm allein ein subsidiärer Schutzstatus zuerkannt worden ist. [...]

b) Die Vorlagefrage 2.a) dient für den Fall, dass die Vorlagefrage 1. dahingehend beantwortet wird, dass maßgeblich für die Beurteilung der Minderjährigkeit der Zeitpunkt der Stellung des auf die Gewährung internationalen Schutzes gerichteten Antrages, sei es des Schutzberechtigten, sei es des Familienangehörigen, ist, der Klärung der Anschlussfrage, ob als Zeitpunkt der Antragstellung der Zeitpunkt der Anbringung des materiellen Asylgesuchs oder der Zeitpunkt der förmlichen Stellung des Asylantrages in den Blick zu nehmen ist.

Art. 6 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180 S. 60; nachfolgend: RL 2013/32/EU) differenziert zwischen der Stellung und der förmlichen Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz. [...]

Für eine Beurteilung der Minderjährigkeit im Zeitpunkt der förmlichen Stellung des Antrages könnte streiten, dass Art. 6 RL 2013/32/EU die Mitgliedstaaten ermächtigt, eine förmliche Antragstellung vorzusehen, und ihnen allein aufgibt, diese so bald wie möglich zu ermöglichen, ohne insoweit konkrete Zeitvorgaben zu machen. [...]

c) Die Vorlagefrage 2.b) zielt, sofern für die Beurteilung der Minderjährigkeit des Schutzberechtigten maßgeblich auf den Zeitpunkt der Einreise des Familienangehörigen im Sinne des Art. 2 Buchst. j Spiegelstrich 3 RL 2011/95/EU oder auf den Zeitpunkt der Stellung des Asylantrages durch diesen abzustellen ist, auf die Klärung, ob dies auch für den Fall gilt, dass zu diesem Zeitpunkt über den Schutzantrag des später als subsidiär schutzberechtigt anerkannten Schutzberechtigten noch nicht entschieden war.

d) Mit der Vorlagefrage 3.a) wird eine weitere Klärung der übergreifenden Voraussetzungen des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU angestrebt, wonach sich der Familienangehörige im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten und die Familie bereits im Herkunftsstaat bestanden haben muss.

Klärungsbedürftig ist insoweit, welche materiellen Anforderungen Art. 2 Buchst. j Spiegelstrich 3 RL 2011/95/EU in einer Situation wie der vorliegenden an den "Zusammenhang" mit dem Antrag auf internationalen Schutz, an den "Aufenthalt" in demselben Mitgliedstaat und an den "Bestand" der Familie "bereits" im Herkunftsstaat stellt. Insbesondere bedarf insoweit einer Klärung, ob das Familienleben im Sinne des Art. 7 GRC zwischen dem Schutzberechtigten und dem Familienangehörigen, hier dem Elternteil, im Aufnahmemitgliedstaat wiederaufgenommen worden sein muss oder ob für die Bejahung der Eigenschaft als Familienangehöriger der bloße zeitgleiche Aufenthalt des Schutzberechtigten und des Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat ausreicht.

Nach dem Wortlaut des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU liegt es nahe, den Merkmalen "Aufenthalt im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz" und "Bestand der Familie bereits im Herkunftsland" die Bedeutung beizumessen, dass allein ein zeitgleicher Aufenthalt des Schutzberechtigten und seines Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat nicht genügt. [...]

Teleologisch spricht einiges dafür, dass Art. 2 Buchst. j Spiegelstrich 3 RL 2011/95/EU durch die Begrenzung des Begriffs der Familienangehörigen auf die Mitglieder der Kleinfamilie (Eltern und ihre minderjährigen Kinder), durch die Herstellung eines "Zusammenhangs mit dem Antrag auf internationalen Schutz" und durch die Anknüpfung an den "Bestand der Familie im Herkunftsland" die Wiederaufnahme eines Familienlebens zwischen den Familienmitgliedern im Sinne des Art. 7 GRC voraussetzt. [...]

e) Die Vorlagefrage 3.b) knüpft an die Vorlagefrage 3.a) an und zielt auf die Klärung des maßgeblichen Zeitpunkts für die Beurteilung einer Wiederaufnahme des Familienlebens im Sinne des Art. 7 GRC zwischen dem Schutzberechtigten und dem Elternteil im Aufnahmemitgliedstaat.

Den unter d) dargelegten Zielen des Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU dürfte es aus Sicht des vorlegenden Gerichts kaum entsprechen, falls sich ein Asylantragsteller zur Begründung seiner Eigenschaft als Familienangehöriger ohne jede zeitliche Begrenzung auf die Wiederaufnahme des Familienlebens berufen dürfte. [...]

f) Mit der Vorlagefrage 4. soll geklärt werden, ob die Eigenschaft eines Asylantragstellers als Familienangehöriger im Sinne des Art. 2 Buchst. j Spiegelstrich 3 RL 2011/95/EU mit dem Eintritt der Volljährigkeit des Schutzberechtigten und einem damit verbundenen Wegfall der Verantwortlichkeit für eine Person, die minderjährig und nicht verheiratet ist, endet.

Art. 2 Buchst. j Spiegelstrich 3 RL 2011/95/EU bestimmt, dass der Vater der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, Familienangehöriger ist, wenn die Person minderjährig ist, er sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhält und die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat. Das Anknüpfen der Eigenschaft als Familienangehöriger an den in Art. 2 Buchst. k RL 2011/95/EU begrenzten Zeitraum der Minderjährigkeit des Schutzberechtigten wie auch der mit Art. 2 Buchst. j Spiegelstrich 3 RL 2011/95/EU verfolgte Schutz des Wohles des Kindes könnten dafür streiten, dass die Eigenschaft des Vaters als Familienangehöriger im Sinne des Art. 2 Buchst. j Spiegelstrich 3 RL 2011/95/EU mit dem Eintritt der Volljährigkeit des Schutzberechtigten entfällt. [...]