VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 08.11.2019 - A 2 K 2769/17 - asyl.net: M28071
https://www.asyl.net/rsdb/m28071
Leitsatz:

Abschiebungsverbot hinsichtlich Afghanistan wegen "westlicher Prägung" und Apostasie:

1. Für eine Person, die durch den langen Aufenthalt in Europa sichtbar "westlich geprägt" ist (Kleidung, Sprache, Habitus, etc.) und offen erklärt, nicht mehr dem islamischen Glauben anzugehören, kann durch die Kumulation dieser Gründe die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG gerechtfertigt sein. 

2. Innerstaatlicher Schutz in anderen Teilen Afghanistans ist in einem solchen Fall nicht möglich.

3. Die Prüfung von Abschiebungsverboten im Folgeverfahren hat nach der aktuellen Gesetzeslage sehr wahrscheinlich auch ohne Wiederaufgreifensgründe zu erfolgen, da diese nach § 31 Abs. 3 S. 1 AsylG bei Unzulässigkeitsablehnung (hier nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG) immer zu erfolgen hat (hier offen gelassen, da Wiederaufgreifensgründe vorlagen).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Wiederaufnahme des Verfahrens, Asylfolgeantrag, Verwestlichung, westlicher Lebensstil, Junge, Integration, Apostasie,
Normen: VwVfG § 51, AsylG § 71, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vor, hat der Antragsteller Anspruch auf eine erneute Sachprüfung, die im Hinblick auf den Prüfungsumfang im wiederaufgegriffenen Verfahren nicht auf die geltend gemachten Wiederaufnahmegründe beschränkt ist. Liegen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vor, ist daher ein erneutes Asylverfahren nach den allgemeinen Regeln durchzuführen, ohne dass der Prüfungsumfang auf die für das Wiederaufgreifen des Verfahrens geltend gemachten Gründe beschränkt wäre (so jüngst auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.10.2019, a.a.O. juris).

Vor diesem Hintergrund bedarf es vorliegend keiner Entscheidung, ob seit dem Inkrafttreten von Art. 6 des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 am 6. August 2016 auch ohne das Vorliegen der Wiederaufgreifensgründe eine - im Prüfungsumfang nicht auf neue Umstände beschränkte - erneute Entscheidung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG ergehen muss, vgl. § 31 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG, was de facto eine voraussetzungslose Überwindung der Bestandskraft der vorangegangenen Entscheidung zur Folge hätte (so Göbel-Zimmermann/Eichhorn/Beichel-Benedetti, Asyl- und Flüchtlingsrecht, Teil 3 Asylverfahrensrecht, 1. Auflage 2017, Rn. 606 - beck-online; BeckOK AuslR/Heusch, AsylG, 23. Ed. 1.8.2019, § 31 Rn. 21 und § 71 Rn. 28 m.w.N.; OVG Sachsen, Urteil vom 21.06.2017 - 5 A 109/15.A - BeckRS 2017, 123499, Rn. 36; andeutungsweise VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.05.2017 - 11 S 2493/16 -, Rn. 18, juris, wonach "[ ... ] das Bundesamt nach § 31 Abs. 3 AsylG in der aktuellen Gesetzesfassung [...] stets zu prüfen hat, ob nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen [...]" und BVerwG, Beschluss vom 27.04.2017 - 1 8 6.17 -. BeckRS 2017, 110068; kritisch: BeckOK AuslR/Heusch, AsylG, 23. Ed. 1.8.2019, § 71 Rn. 28 m.w.N.; ablehnend: Funke-Kaiser GK-AsylVfG 113, Oktober 2017, § 31, Rn. 49 f., offen lassend: OVG Münster, Urteil vom 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A - BeckRS 2019, 15605). [...]

Die humanitäre Situation in Afghanistan hat sich in tatsächlicher Hinsicht seit Jahren signifikant verschlechtert. Dies gilt insbesondere seit dem überwiegenden Abzug der internationalen Truppen in den Jahren 2014/2015 (dies ausführlich nachvollziehend VGH Hessen, Urteil vom 23.08.2019 - 7 A 2750/15.A - Rn. 55 ff., juris). Für die relevanten Lebensverhältnisse und die Situation von Rückkehrern in ganz Afghanistan sowie in Kabul als Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung verweist das Gericht außerdem auf die umfassenden Feststellungen zur Situation in Afghanistan im Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 -, juris Rn. 205 ff. (allgemein) und Rn. 361 ff. (Kabul). Eine Verbesserung der Lebensverhältnisse ist auch bei Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel nicht erkennbar. Erst kürzlich berichtete beispielsweise die Frankfurter Allgemeine Zeitung von einer Serie landesweiter Anschläge durch die Taliban, bei denen mindestens 49 Menschen getötet worden seien und ein Kontrollposten der Regierung überfallen worden sei (Frankfurter Allgemeine, "Gewalt in Afghanistan - Dutzende Tote bei Anschlägen und Gefechten" vom 25.07.2019). Der Repräsentant des UNHCR in Deutschland hatte sich zuvor dahingehend geäußert, dass sich die Situation in Afghanistan in den letzten Monaten weiter verschlechtert habe und auch Kabul inzwischen hochgefährlich sei (Veröffentlichung des UNHCR "UNHCR warnt vor umfassenden Abschiebungen nach Afghanistan" vom 11.06.2019).

Dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 02. September 2019 zufolge sei Afghanistan weiterhin eines der ärmsten Länder der Welt (Human Development Index 2018: Platz 168 von 189 Staaten). Das Wirtschaftswachstum sei gegenüber dem Jahr 2017 (2,6 %) auf 1 % im Jahr 2018 zurückgegangen. Die Grundversorgung sei für große Teile der afghanischen Bevölkerung - insbesondere Rückkehrer - weiterhin eine tägliche "Herausforderung". Laut UNOCHA benötigen 6,3 Mio. Menschen - ein Drittel der afghanischen Bevölkerung - humanitäre Hilfe (z.B. Unterkunft, Nahrung, sauberes Trinkwasser und medizinische Versorgung). Gerade der Norden des Landes, welcher als "Kornkammer" des Landes gelte, sei extremen Natureinflüssen wie Trockenheit, Überschwemmungen und Erdrutschen ausgesetzt. 2018 habe es eine extreme Dürre ("Dürrekatastrophe") gegeben, gefolgt von schweren Überschwemmungen in der ersten Jahreshälfte 2019 im Süden, Westen und Norden des Landes. Die aus den Konflikten und chronischer Unterentwicklung resultierenden Folgeerscheinungen, verschärft durch die Dürre 2018, hätten dazu geführt. dass ca. zwei Millionen Kinder unter 5 Jahren als akut unterernährt gälten. Jedoch habe die afghanische Regierung 2017 mit der Umsetzung eines Aktionsplans für Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge begonnen. Von 2002 bis 2018 habe der UNHCR über 5,26 Mio. Menschen bei der Rückkehr assistiert. Die Mehrheit der Rückkehrer lebe in Flüchtlingslagern, angemieteten Unterkünften oder bei Gastfamilien. Die Bedingungen seien prekär. Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland würden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Wenn Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder das Land mit ihrer Familie verlassen hätten, sei es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existierten oder der Zugang zu ihnen erheblich eingeschränkt sei. Dies könne die Reintegration stark erschweren. Der Mangel an Arbeitsplätzen stelle für den Großteil der Rückkehrer die "größte Schwierigkeit" dar, da der Zugang zum Arbeitsmarkt maßgeblich von lokalen Netzwerken abhinge (ausführlich: Auswärtiges Amt, Lagebericht Afghanistan v. 31.5.2018, S. 27-31).

Laut einem Bericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) von April 2019 stünden in den Großstädten Kabul, Herat und Mazar-e Sharif Unterkünfte und Nahrung grundsätzlich zur Verfügung, sofern der Lebensunterhalt gewährleistet sei. Zugang zu angemessener Unterkunft sei jedoch sogar für viele Afghanen mit mittlerem Einkommen eine "Herausforderung". Die Mehrheit der städtischen Unterkünfte seien als Slums einzustufen. Flüchtlinge lebten in der Regel in Flüchtlingssiedlungen. Zugang zu Trinkwasser sei in den Städten oft eine "Herausforderung", insbesondere in den Slums und Flüchtlingssiedlungen. Verglichen mit den ländlichen Gegenden sei der Zugang zu Wasserquellen und sanitären Anlagen in den Städten besser. In Kabul, Herat und Mazar-e Sharif seien auch Einrichtungen zur Gesundheitsversorgung vorhanden; diese seien aufgrund des Anstiegs der Zahl der Flüchtlinge und Rückkehrer jedoch überlastet. Das Fehlen finanzieller Mittel sei eine "große Hürde" beim Zugang zur Gesundheitsversorgung. Aufgrund der Wirtschafts- und Sicherheitslage bestehe eine hohe Arbeitslosenquote, insbesondere bei städtischen Jugendlichen. Zusätzliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt sei das Ergebnis der steigenden Zahl von Flüchtlingen. Städtische Armut sei weit verbreitet und steige an. In diesem Umfeld hänge die Fähigkeit zur Gewährleistung des Lebensunterhalts überwiegend vom Zugang zu Unterstützungsnetzwerken - etwa Verwandten, Freunden oder Kollegen - oder von finanziellen Mitteln ab (siehe zum Ganzen: EASO, Afghanistan: Key socio-economic indicators, focus on Kabul city, Mazar-e Sharif and Herat City, Country of Origin Information Report, April 2019).

Ausweislich des Länderinformationsblatts Afghanistan des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 29. Juni 2018 seien von den 2,1 Mio. Personen, die in informellen Siedlungen lebten, 44 % Rückkehrer. Die Zustände in diesen Siedlungen seien unterdurchschnittlich und besonders wegen der Gesundheits- und Sicherheitsverhältnisse besorgniserregend. 81 % der Menschen in informellen Siedlungen seien Ernährungsunsicherheit ausgesetzt, 26 % hätten keinen Zugang zu adäquatem Trinkwasser und 24 % lebten in überfüllten Haushalten. Rückkehrer erhielten Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehrten, und internationalen Organisationen (z.B. IOM, UNHCR) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (z.B. IPSO und AMASO), die die Reintegration in Afghanistan finanziell, mit Nahrungsmitteln oder sonstigen Sachleistungen sowie durch Beratung unterstützten. Gleichwohl sei die Möglichkeit der Rückkehr zur Familie oder einer sonstigen Gemeinschaft mangels konkreter staatlicher Unterbringungen für Rückkehrer der zentrale Faktor. Ein fehlendes familiäres Netzwerk stelle eine "Herausforderung" für die Reintegration von Migranten in Afghanistan dar; Unterstützungsnetzwerke könnten sich auch aus der Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder Religion sowie aus "professionellen" (Kollegen, Kommilitonen etc.) oder politischen Verbindungen ergeben (siehe zum Ganzen: BFA, Länderinformationsblatt Afghanistan v. 29.6.2018, S. 314-316, 327-331).

Nach den UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018 seien die humanitären Indikatoren in Afghanistan auf einem kritisch niedrigen Niveau. Ende 2017 sei bezüglich 3,3 Mio. Afghanen ein akuter Bedarf an humanitärer Hilfe festgestellt worden; nunmehr kämen weitere 8,7 Mio. Afghanen hinzu, die langfristiger humanitärer Hilfe bedürften. Über 1,6 Mio. Kinder litten Berichten zufolge an akuter Mangelernährung, wobei die Kindersterblichkeitsrate mit 70 auf 1.000 Geburten zu den höchsten in der Welt zähle. Ferner habe sich der Anteil der Bevölkerung, die laut Berichten unterhalb der Armutsgrenze lebe, auf 55 % (2016/17) erhöht, von zuvor 33,7 % (2007/08) bzw. 38,3 % (2011/12). 1,9 Mio. Afghanen seien von ernsthafter Nahrungsmittelunsicherheit betroffen. Geschätzte 45 % der Bevölkerung hätten keinen Zugang zu Trinkwasser, 4,5 Mio. Menschen hätten keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung. In den nördlichen und westlichen Teilen Afghanistans herrsche die seit Jahrzehnten schlimmste Dürre, weshalb die Landwirtschaft als Folge des kumulativen Effekts jahrelanger geringer Niederschlagsmengen zusammenbreche. 54 % der Binnenvertriebenen (Internally Displaced Persons - IDPs) hielten sich in den Provinzhauptstädten Afghanistans auf, was den Druck auf die ohnehin überlasteten Dienstleistungen und Infrastruktur weiter erhöhe und die Konkurrenz um Ressourcen zwischen der Aufnahmegemeinschaft und den Neuankömmlingen verstärke; die bereits an ihre Grenze gelangten Aufnahmekapazitäten der Provinz- und Distriktszentren seien extrem belastet. Dies gelte gerade in der durch Rückkehrer und Flüchtlinge rapide wachsenden Hauptstadt Kabul (Anfang 2016: geschätzt 3 Mio. Einwohner). Flüchtlinge seien zu negativen Bewältigungsstrategien gezwungen wie etwa Kinderarbeit, früher Verheiratung sowie weniger und schlechtere Nahrung. Laut einer Erhebung aus 2016/17 lebten 72,4 % der städtischen Bevölkerung Afghanistans in Slums, informellen Siedlungen oder unzulänglichen Wohnverhältnissen. Im Januar 2017 sei berichtet worden, dass 55 % der Haushalte in den informellen Siedlungen Kabuls mit ungesicherter Nahrungsmittelversorgung konfrontiert gewesen seien (siehe zum Ganzen: UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender v. 30.8.2018, S. 36 f., 125 f.).

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) berichtet, aufgrund der zunehmenden Gewalt, der anhaltenden internen Vertreibung und der sehr hohen Rückkehrerströme aus dem Iran bleibe die humanitäre Situation weiterhin "gravierend". Der Verlust der Lebensgrundlage und ein eingeschränkter Zugang zu Grunddienstleistungen habe dazu geführt, dass Ende 2018 geschätzte 6,3 Mio. Menschen in akuter humanitärer Not und rund 3,7 Mio. in schwerer Not lebten. Ca. 23,8 % der Bevölkerung lebe in großen Städten. Hiervon lebe die Mehrheit - ca. 72,4 %, geschätzt ca. 5 Mio. Menschen - in Slums oder anderen inadäquaten Unterkünften. Die Wasserversorgung und die Versorgung mit sanitären Einrichtungen sei nach Berichten von UNOCHA in Afghanistan eine der weltweit schlechtesten. 2019 seien landesweit beinahe 15,9 Mio. Menschen von Lebensmittelunsicherheit betroffen, 4,9 Mio. benötigten dringend Lebensmittel- und Lebensunterhaltshilfe. Der Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen werde durch die weitverbreitete Gewalt, unerschwingliche Preise sowie eine unzureichende Abdeckung und Kapazität verhindert oder verzögert. Landesweit bestehe ein extremer Mangel an chirurgischer Notfallversorgung und qualifiziertem Personal. Erschwerend komme die zerstörte oder beschädigte Infrastruktur hinzu. In zahlreichen Orten seien grundlegende Medikamente nicht verfügbar. Zur Situation der Rückkehrer berichtet SFH, in Kabul lebten viele Rückkehrer in einer der derzeit 67 informellen und illegalen Siedlungen in Zelten, Lehmziegelhütten oder unter Planen um die Stadt herum. Es bestünden nur beschränkte Möglichkeiten, den Lebensunterhalt zu verdienen, Dies geschehe oft als Tagelöhner in prekären Arbeitsverhältnissen. Oft sähen Rückkehrer sich deswegen gezwungen, auf negative Überlebensmechanismen zurückzugreifen, indem sie ihre Nahrungsmittelaufnahme verringerten, ihre Kinder verheirateten oder diese zum Arbeiten oder Betteln schickten. Insbesondere Familien, Frauen und Kinder seien in diesen informellen Siedlungen einem erhöhten Schutzrisiko ausgesetzt und würden oft erneut vertrieben (vgl. hierzu ausführlich Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH Afghanistan: Gefährdungsprofile Update der SFH-Länderanalyse, 12.09.2019).

bb. Persönliche Situation des Klägers

Ausgehend von diesen Verhältnissen in Afghanistan insgesamt sowie insbesondere in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung ist die Einzelrichterin nach der informatorischen Anhörung des Klägers zu der Überzeugung gelangt (§ 108 VwGO), dass in seiner Person Besonderheiten vorliegen, die ihm die unerlässliche Flexibilität nehmen, die er auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie bei dem (Wieder-) Aufbau eines sozialen Netzwerkes in Kabul bräuchte, um sich eine Existenzgrundlage auf einem Art. 3 EMRK genügenden Niveau zu unterhalten. Diese Einschätzung gründet sich einerseits auf die im Bundesgebiet durchlebte und zwischenzeitlich identitätsprägende Persönlichkeitsentwicklung, die nach dem persönlichen Eindruck in der mündlichen Verhandlung erkennbar war und den sonstigen persönlichen Umständen des Klägers. Hierbei ist eine Gesamtbetrachtung der den Kläger individuell betreffenden Umstände vorzunehmen.

Zunächst ist zu berücksichtigen, dass der Kläger wesentliche und prägende Teile seiner Sozialisation als Heranwachsender außerhalb Afghanistans erfahren hat. Er hat Afghanistan bereits als 18-Jähriger verlassen, ohne dort - weil weder üblich noch erforderlich - ein eigenständiges Leben außerhalb seines Familienverbandes bewältigt zu haben. Während seines zwischenzeitlich 7,5-jährigen Aufenthalts im Bundesgebiet hat er eine unbefristete Festanstellung bei der Firma ... erhalten, wo er seit dem ... beschäftigt ist. Der Inhaber der Firma und Chef des Klägers bestätigt ihm eine tolle Integration, sieht ihn als wichtige Arbeitskraft und seine Mitwirkung in der Firma als persönliche Bereicherung an. Zudem ist der Kläger im Februar 2019 in das Fernschulprogramm der "ils" eingetreten, wo er zunächst das Abitur und weiterführend ein Ingenieurstudium anstrebt. Er unterhält seit 2,5 Jahren eine augenscheinlich ernsthafte, uneheliche Beziehung zu seiner Freundin. Zudem spricht der Kläger sehr gut Deutsch, davon konnte sich die Einzelrichterin im Rahmen der mündlichen Verhandlung überzeugen. Diese Einbindung hat zu einer Anpassung seiner Lebensweise an die Sitten und Gebräuche im Bundesgebiet geführt. Der Kläger gab in der mündlichen Verhandlung zudem an, dass er nicht gläubig sei und er die Bezeichnung als "Sunnit" daher nicht wünsche. Die Neuorientierung seiner Lebensweise hat auch erkennbaren Ausdruck in seinem beruflichen Werdegang und seinem diesbezüglichen Auftreten gefunden. Der Kläger zeigt seine vorstehend umrissene Lebenseinstellung im Bundesgebiet auch äußerlich erkennbar - wenn auch nicht unveränderlich. Dies war in der mündlichen Verhandlung selbst optisch und auch im Hinblick auf sein Verhalten wahrnehmbar. Die Einzelrichterin hat bei alledem keine Anhaltspunkte für die Annahme, die Verhaltensweise des Klägers könne nur von asyltaktischen Erwägungen motiviert sein: vielmehr ist sie Ausdruck einer neu gefundenen inneren Einstellung, die Ausfluss der Integration des Klägers in die Lebensverhältnisse im Bundesgebiet und in sein neues soziales Umfeld (Freundin, Beruf, Freundeskreis) ist. Bereits aufgrund dieses "Settings" ist im individuellen Fall des Klägers davon auszugehen, dass er keinen - für die Sicherung seiner Existenz zwingend notwendigen - Zugang zum hart umkämpften Kabuler Wohnungs- und Arbeitsmarkt finden wird. Arbeitgeber und Vermieter sind aufgrund der Vielzahl anderer - aus ihrer Sicht moralisch unbedenklicher - Bewerber, nicht darauf angewiesen, ihren Leumund durch eine Aufnahme des Klägers zu gefährden. Denn Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte, aber insbesondere auch Abgeschobene - sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben. Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahingehend wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, jedenfalls Selbstjustiz bis hin zur "Bestrafung" mit dem Tod - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen auszulösen. Auch schwelt gegenüber Rückkehrern der Verdacht, womöglich in Europa eine schwere Straftat begangen zu haben. Denn nach einer in Afghanistan weit verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab, weshalb ein Abgeschobener im vermeintlich regellosen Europa ein schweres Verbrechen verübt haben müsse. Damit sind Rückkehrer zusätzlichen Risiken - über die allgemeinen Sicherheitsprobleme hinaus - ausgesetzt (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 - juris; EASO Country of Origin Report: Afghanistan - lndividuals targeted under societal and legal norms, Stand: Dezember 2017, Kapitel 8, S. 92 ff; zur Sicherheitslage landesweit vgl. EASO, Country of Origin Information Report - Afghanistan Security Situation, Dezember 2017). Der Kläger erfüllt - wie beschrieben - das Klischee der "Verwestlichung", so dass eine Erwartungshaltung dahingehend, auf den Kläger werden auch die übrigen - negativen - Vorurteile zutreffen, naheliegt. Auf familiären Rückhalt würde der Kläger bei seiner Rückkehr nicht hinreichend verlässlich zurückgreifen können. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Familie bereit wäre, einen "verwestlichten" Verwandten, der das Land bereits 2006 - vor nunmehr 13 Jahren - verlassen hat und keinen Kontakt zu ihnen pflegt, aufzunehmen und zu unterstützen. Eine Rückkehr aus Europa wird auch verbreitet als persönliches Versagen erachtet, da die betreffende Person es trotz des vermeintlich leichten Lebens im "Westen" - weit verbreitet ist auch die Auffassung, jeder Europäer sei (Euro-) Millonär - nicht "geschafft" hat. Vor diesem Hintergrund ist nicht mehr entscheidend, ob der Kläger zudem - wie er selbst schon im Rahmen des Erstverfahrens vorgetragen hat - außerdem mit seinem Cousin verfeindet ist. Hiernach ist es wahrscheinlich, dass der Kläger sich bei einer Abschiebung in Kabul als Ankunfts- und Endort der Abschiebung dort auf der Straße wiederfände. Möglichkeiten einer kurzfristigen Unterbringung in Kabul durch staatliche oder Hilfsorganisationen sind dem Gericht nach derzeitiger Erkenntnislage nicht bekannt. Ein Programm, mit dem der IOM Rückkehrern eine Bleibe für die ersten 14 Tage angeboten hat, wird aktuell nicht weiter fortgeführt (Stuttgarter Nachrichten: "Abgeschobene Afghanen: Bargeld anstatt Bleibe", Bericht vom 09.05.2019, so auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 26. Juni 2019 - A 11 S 2108/18 -, juris, Rn. 99-102, m.w.N.). Der Wohnungsmarkt in Kabul ist - wie die gesamte Infrastruktur - durch die Vielzahl von Rückkehrern und Binnenvertriebenen völlig überlastet, so dass Rückkehrer ohne entsprechende Ressourcen, wie auch der Kläger, sich in einer der vielen informellen Siedlungen am Stadtrand wiederfinden, wo sie unter überwiegend menschenunwürdigen Verhältnissen bei zu geringen Platz, einem Mangel an Hygiene, medizinischer Versorgung, Nahrungsmitteln und Trinkwasser hausen müssen. Dort besteht zudem eine hohe Wahrscheinlichkeit, ein Opfer von Gewaltverbrechen zu werden.

Auf innerstaatliche Alternativen zu Kabul kann der Kläger nicht in zumutbarer Weise zurückgreifen. Zwar gibt es durchaus Flugverbindungen von Kabul auch in die Großstädte Herat und Mazar-e Sharif (jeweils ca. 6000-7000 Afghani mit Ariana Afghan Airlines, www.flyariana.com oder 80-90 USD mit Kam Air, www.book-kamair. crane.aero; zuletzt abgerufen am 11.12.2019), die entsprechend der aktuellen obergerichtlichen Rechtsprechung als interne Fluchtalternativen in Betracht kommen (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 29.10.2019 - A 11 S 1203/19 -, juris). Allerdings sind die dortigen Lebensbedingungen nicht besser als in Kabul. Auch Herat und Mazar-e Sharif sind durch den steigenden Zuzug von Rückkehrern und Binnenvertriebenen stark belastet, was sich - insbesondere für vulnerable Personen - neben der Konkurrenz um Wohnraum und Arbeit auch in Bezug auf wachsende Nahrungsmittelunsicherheit auswirkt (EASO Afghanistan Key Socio economic indicators, Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, Stand April 2019, S. 31, 37 f.). Nachdem der Kläger weder in Herat, noch in Mazar-e Sharlf auf ein tragfähiges familiäres Netzwerk oder sonstige Vorteile zurückgreifen könnte, ist davon auszugehen, dass er dort - ebenso wenig wie in Kabul - nicht hinreichend verlässlich eine Existenzgrundlage aufbauen und unterhalten könnte. Insofern gelten die obigen Ausführungen für diese Städte gleichermaßen. Weitere innerstaatliche Alternativen zu einer Wohnsitznahme in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat, zum Beispiel in ländlichen Gegenden, scheitern bereits an der (sicheren) Erreichbarkeit weiter Landesteile Afghanistans. Der Verwaltungsgerichtshof führte bereits im Jahr 2017 in seinem Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -, juris, Rn. 317 ff., hierzu aus:

"Denn es ist bereits eine tatsächliche, zumutbare Erreichbarkeit anderer Landesteile [außer Kabul] gemäß § 3e Abs. 1 Nr. 2 Var. 1 AsylG [...] angesichts der Lage der landesweiten Verbindungsstraßen Afghanistans nicht ersichtlich. Seit dem Jahr 2013 sind regierungsfeindliche Elemente immer erfolgreicher beim Abschneiden der Hauptverkehrsstraßen geworden. Seit Anfang 2014 haben sie zunehmend die Kontrolle über die Haupttransport- und -zufahrtsstraßen. Im Oktober 2016 blockierten die Taliban die Straße von Kabul nach Mazar-e Sharif, behielten sie unter ihrer Kontrolle und suchten systematisch nach Regierungsbeamten oder -sympathisanten. Auch die Bewohner der Dschuzdschan- (auch Jawzjan-) Provinz haben ihre Besorgnis über die wachsenden Bedrohungen auf der Shiberghan-Sar-e Pol-Autobahn ausgedrückt. Nur ein kurzer Teil zwischen Kabul und der Wardak-Provinz kann normal passiert werden. Im August 2016 hatten die Taliban die Autobahn zwischen Helmand und Kandahar für mehrere Wochen blockiert. Auch kleinere Straßen in ländlichen Gebieten werden regelmäßig von den Taliban blockiert oder geschlossen. Außerdem sind Entführungen, Geiselnahmen und Hinrichtungen von Zivilisten im Schnellverfahren auf den Straßen eine ernste und wachsende Bedrohung. [...] Darüber hinaus sind auch improvisierte Sprengfallen und Landminen ernsthafte Probleme auf afghanischen Straßen. [...]"

Die Einzelrichterin schließt sich dieser Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs auch in Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel an. Das Auswärtige Amt führt hierzu in seinem aktuellen Lagebericht unter anderem aus, dass die Zahl illegaler Kontrollpunkte und Überfälle auf Überlandstraßen angestiegen sei (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Afghanistan, Stand 02.09.2019, S. 22). EASO berichtet, die mangelnde Sicherheit auf den Straßen bilde die größte Einschränkung der Reisefreiheit (EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan: Key socio-economic indicators - Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 21).

Auf dieser Grundlage führt die Gesamtbewertung der vom Kläger zu bewältigenden Widrigkeiten bei einer Rückkehr nach Afghanistan, primär nach Kabul, zur Annahme eines Abschiebungsverbots. Der Kläger ist zwar im Ausgangspunkt der Personengruppe der sog. jungen und gesunden, alleinstehenden Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen zuzurechnen, denen wohl grundsätzlich (gerade noch) angesonnen werden kann, sich unter den prekären Umständen insbesondere und beispielhaft in Kabul durchzuschlagen und eine - wenn auch karge - Existenzgrundlage zu schaffen (vgl. jüngst wieder VGH Bad.-Württ., Urteil vom 29.10.2019, a,a.O., juris). In seiner Person und Vita kumulieren sich aber - wie gezeigt - einzelne Besonderheiten, die jedenfalls in ihrer Gesamtschau zu der Annahme führen, dass dem Kläger eine ansatzweise menschenwürdige Existenz in Afghanistan nicht wird möglich sein wird. Für den Kläger besteht daher zur Überzeugung des Gerichts die ernsthafte Gefahr im Sinne einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit, dass ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan die Verelendung in einem der provisorischen Flüchtlingslager oder Slums in Kabul droht, in denen eine Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser, Heizung und medizinischer Behandlung nicht gewährleistet ist.

Im Rahmen des dem Gericht zur Überprüfung gestellten Klagegegenstandes kommt es hiernach nicht mehr entscheidend darauf an, ob der Kläger durch seinen Cousin in Afghanistan zusätzlich dem Verdacht der Konversion ausgesetzt wäre. [...]