EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 07.02.2019 - C-322/17 Bogatu gg. Irland - Asylmagazin 4/2019, S. 129 f. - asyl.net: M27019
https://www.asyl.net/rsdb/m27019
Leitsatz:

Anspruch auf Kindergeld für im EU-Ausland lebende Kinder:

Für den Anspruch einer Person auf Familienleistungen im zuständigen Mitgliedstaat für ihre Kinder, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, ist weder Voraussetzung, dass diese Person in dem ersten Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübt, noch, dass sie dort aufgrund oder infolge einer Beschäftigung eine Geldleistung bezieht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienleistungen, Kindergeld, Unionsbürger, Arbeitslosigkeit, Arbeitnehmerbegriff,
Normen: VO 883/2004 Art. 67, VO 883/2004 Art. 11 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

21 In Anbetracht dieser Situation ist erstens darauf hinzuweisen, dass Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt, dass eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats hat, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden.

22 Wie sich aus seinem Wortlaut ergibt, bezieht sich dieser Artikel auf die einer "Person" zuerkannten Rechte, ohne indessen zu verlangen, dass eine solche Person über eine besondere Stellung und somit insbesondere über die Stellung eines Arbeitnehmers verfügt. Allerdings legt er nicht selbst die Anforderungen fest, denen der Anspruch dieser Person auf Familienleistungen unterliegen kann, sondern verweist in diesem Punkt auf die Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats.

23 Unter diesen Umständen ist es zur Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts erforderlich, diesen Artikel im Licht des Kontexts, in dem er steht, und des mit ihm verfolgten Ziels auszulegen.

24 Was zunächst den Kontext betrifft, in dem Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 steht, ist zu bemerken, dass dieser Artikel insbesondere in Verbindung mit Art. 68 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung zu betrachten ist, der anzuwenden ist, wenn Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen zu gewähren sind, und der in einem solchen Fall die Anwendung von Prioritätsregeln vorsieht, nach denen der Reihe nach zunächst die durch eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgelösten Ansprüche, dann die durch den Bezug einer Rente ausgelösten Ansprüche und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche zu berücksichtigen sind.

25 Da diese Bestimmung mehrere Gründe aufzählt, aus denen einer Person Familienleistungen zu gewähren sein können, darunter den auf eine Beschäftigung gestützten, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 allein auf den Grund einer Beschäftigung beschränkt.

26 Was sodann das mit Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 verfolgte Ziel angeht, ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsgesetzgeber insbesondere bestrebt war, mit dem Erlass dieser Verordnung deren Anwendungsbereich auf andere Kategorien von Personen als Arbeitnehmer, die unter die Verordnung Nr. 1408/71 fielen, und insbesondere auf nicht erwerbstätige Personen, die von dieser nicht erfasst waren, zu erstrecken.

27 Dieses Ziel geht allgemein aus der Entscheidung des Unionsgesetzgebers hervor, in Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 klarzustellen, dass diese Verordnung u.a. auf "Staatsangehörige eines Mitgliedstaats" Anwendung findet, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, während Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 vorsah, dass diese frühere Verordnung auf "Arbeitnehmer und Selbständige" Anwendung fand, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten.

28 Im besonderen Fall der Familienleistungen kommt dieses Ziel dadurch zum Ausdruck, dass in Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 dort, wo in Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71, den er abgelöst hat, auf einen "Arbeitnehmer" Bezug genommen wurde, der Begriff "Person" verwendet wird. Insoweit spiegelt Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 den Willen des Unionsgesetzgebers wider, den Anspruch auf Familienleistungen nicht mehr nur auf Arbeitnehmer zu beschränken, sondern ihn auf andere Kategorien von Personen auszuweiten.

29 Vor diesem Hintergrund ist Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen, dass er nicht verlangt, dass eine bestimmte Person im zuständigen Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübt, um dort Anspruch auf Familienleistungen haben zu können.

30 Zweitens ergibt sich aus Art. 11 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004, auf den das vorlegende Gericht in seiner Frage Bezug nimmt, dass eine Person, die aufgrund oder infolge einer Beschäftigung eine Geldleistung bezieht, also eine Geldleistung, die ihren Ursprung in der früheren Ausübung einer Beschäftigung hat, für die Zwecke der Bestimmung der auf diese Person anwendbaren Rechtsvorschriften als diese Beschäftigung ausübend anzusehen ist.

31 Aus Rn. 25 des vorliegenden Urteils ergibt sich aber, dass Art. 67 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass er nicht verlangt, dass die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats für eine bestimmte Person im Hinblick auf Familienleistungen auf der Ausübung irgendeiner Beschäftigung, einschließlich einer früheren Beschäftigung, beruht.

32 Daraus folgt, dass der gegebenenfalls von Art. 11 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 erfasste Bezug von Geldleistungen auf die in Rn. 29 des vorliegenden Urteils gezogene Schlussfolgerung keine Auswirkungen hat.

33 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Verordnung Nr. 883/2004, insbesondere ihr Art. 67 in Verbindung mit ihrem Art. 11 Abs. 2, dahin auszulegen ist, dass für den Anspruch einer Person auf Familienleistungen im zuständigen Mitgliedstaat in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens weder Voraussetzung ist, dass diese Person in diesem Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübt, noch, dass sie von ihm aufgrund oder infolge einer Beschäftigung eine Geldleistung bezieht. [...]