Dublin-Familienzusammenführung trotz verspätetem Aufnahmegesuch:
1. Das BAMF wird verpflichtet, sich für das Asylverfahren des minderjährigen Bruders eines in Deutschland subsidiär Schutzberechtigten für zuständig zu erklären und die Ablehnungen der wiederholten Aufnahmegesuche Griechenlands aufzuheben.
2. Die Betroffenen haben ein subjektives Recht auf Familienzusammenführung aus Art. 8 Abs. 1 Dublin-III-VO, wonach unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu ihren sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhaltenden Angehörigen zusammengeführt werden müssen.
3. Der Ablauf der Frist für die Stellung des Aufnahmegesuchs (Art. 21 Abs. 1 Dublin-III-VO) und für das Verlangen die Ablehnung zu überprüfen (sog. Remonstration, Art. 5 Abs. 2 DVO) durch Griechenland ist unbeachtlich. Die Zuständigkeit fällt nicht nach Art. 21 Abs. 1 UAbs. 3 Dublin-III-VO zurück an den ersuchenden Staat (hier: Griechenland), da die Versäumung der Fristen den Betroffenen nicht zuzurechnen ist und die Zuständigkeitsregelung zur Wahrung der Familieneinheit und des Kindeswohls vor Fristenregelungen vorrangig ist.
4. Die Frage, ob eine minderjährige Person "unbegleitet" i.S.d. Art. 2 Bst. j Dublin-III-VO ist, richtet sich nach dem Recht des Aufenthaltsstaats derselben (hier: Griechenland).
(Leitsätze der Redaktion; siehe asyl.net Meldung vom 8.1.2019)
Anmerkung:
[...]
1. Die Antragsteller können für sich ein subjektives Recht auf Beachtung der in der Europäischen Grundrechtscharta verbürgten Garantien der Familieneinheit und des Kindeswohls (s. Art. 7 und 24 EGChr) beanspruchen. [...] Ausfluss des hochrangigen Schutzes des Kindeswohls und der Familieneinheit sind die in Art. 8 bis 10 Dublin III-VO niedergelegten Zuständigkeitskriterien. Werden diese Grundsätze bei der Anwendung des Dublinregimes von einem Mitgliedstaat missachtet, besteht ein subjektiver Anspruch auf Einhaltung der Grundrechtsgarantien. [...]
Art. 27 Abs. 1 Dublin, III-VO sieht explizit einen Rechtsbehelf gegen Überstellungsentscheidungen vor. D.h. im Falle der Unzuständigkeit und der damit bedingten Durchführung einer Überstellung ist hierüber eine Entscheidung zu treffen, die sodann gerichtlich angreifbar ist. Für die Bejahung der Eigenzuständigkeit des Mitgliedstaates bedarf es hingegen keiner ausdrücklichen Entscheidung. Diese erfolgt konkludent, indem der Staat sodann über das Asylbegehren des Antragstellers entscheidet. Wird aber ein subjektives Recht auf fehlerfreie Anwendung der Zuständigkeitskriterien der Dublin III-VO angenommen, welches gerichtlich geltend gemacht werden kann, so kann sich dieses nicht auf die Unzuständigkeitsentscheidung beschränken. [...]
Dieses muss jedenfalls dann gelten, wenn - wie vorliegend - die einschlägigen Zuständigkeitsbestimmungen der grundrechtlich gebotenen Wahrung der Familieneinheit dienen. Diesbezüglich ist in den Blick zu nehmen, dass nach der Dublin III-VO die Wahrung der Familieneinheit unter Beachtung der in EGrCH niedergelegten Garantien ein hoher Stellenwert eingeräumt wird und den diesbezüglichen Vorschriften ein Vorrang gegenüber anderen Zuständigkeitsregelungen (etwa Art. 12 oder 13 Dublin III-VO) zukommt. [...]
Besonderen Schutz genießen nach der Dublin III-VO Kinder und hierbei insbesondere die unbegleiteten Minderjährigen. [...]
Ist mithin bezogen auf die Zuständigkeitsregelung zur Wahrung der Familieneinheit und hier insbesondere zum Schutz von Minderjährigen eine besondere Vorrangstellung zu konstatieren, so bedingt dieses, dass die sich aus Art. 8 bis 10 Dublin III-VO ergebenden subjektive Rechte justitiabel sein müssen. Dieses folgt aus Art. 47 Grundrechts-Charta, Art. 19 Abs. 4 GG. Nach dem 19. Erwägungsgrund der Dublin III-VO muss gerichtlicher Rechtsschutz gegen eine rechtswidrige Zuständigkeitsentscheidung der Mitgliedstaaten gewährleistet sein (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Oktober 2017 - C-201/16 - Rn. 44 ff., Shiri; Generalanwältin, Schlussanträge vom 20. Juni 2017 - C-670116 -, Rn 62 f., Mengesteab). [...]
Des Weiteren ist festzuhalten, dass die Vorschriften zur Familienzusammenführung (so Art. 8 und 10 Dublin III-VO) offensichtlich auch dem Schutz der jeweils betroffenen Familienangehörigen dienen (vgl. für Fälle des Anspruchs auf Überstellung von in Deutschland lebenden Familienangehörigen: VG Freiburg, Beschluss vom 8. Mai 2018 - A 4 K 11125/17 -; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 7. März 2018 - 15a L 435/18.A -; VG Düsseldorf, Beschluss vom 21. Februar 2018 - 22 L 442/18.A -; VG Wiesbaden, Beschluss vom 15. September 2017 - 6 L 4438/17 -; jeweils juris).
Demzufolge entfalten die hier einschlägigen Vorschriften des Art. 8 Dublin III-VO und Art. 8 EMRK (Recht auf ein familiäres Zusammenleben) drittschützende Wirkung auch zugunsten des in Deutschland lebenden Bruders des Antragstellers zu 1., dem Antragsteller zu 2.
2. Die Antragsgegnerin ist gemäß Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO zuständig für die Bearbeitung des Asylverfahrens des Antragstellers. [...]
b) Der Antragsteller zu 1. ist - entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin - auch als unbegleiteter Minderjähriger im Sinne des Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO anzusehen. [...]
Ausgehend hiervon kann der Antragsteller zu 1. nicht deshalb als nicht unbegleiteter Minderjähriger angesehen werden, weil er zusammen mit seinem Cousin ... im Jahre 2016 nach Griechenland einreiste und dem Cousin von den griechischen Behörden (Public prosecutor of minor) eine temporäre Art der Vormundschaft (provisional caregiver or temporary guardian) für den minderjährigen Antragsteller zu 1. übertragen wurde. Denn der Cousin ist nicht verantwortlicher Erwachsener im Sinne des Art. 2 lit j Dublin III-VO. [...]
c) Darüber hinaus ist auch die weitere Voraussetzung des Art. 8 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO erfüllt. Die Zuständigkeit der Antragsgegnerin für die Bearbeitung des Asylantrages entspricht dem Wohl des Antragstellers zu 1. [...]
Für die vorstehende Bewertung streitet auch die Vorschrift des Art. 8 Abs. 3 Dublin III-VO. Danach bestimmt sich die Zuständigkeit des Mitgliedstaates für einen unbegleiteten Minderjährigen, dessen Familienangehörige, Geschwister oder Verwandte im Sinne der Absätze 1 und 2 sich in mehr als einem Mitgliedstaat aufhalten, danach, was dem Wohl des unbegleiteten Minderjährigen dient. Wie bereits dargelegt sprechen die Umstände für eine Zusammenführung des Antragstellers zu 1. mit seinem Bruder in Deutschland. Darüber hinaus ist in den Blick zu nehmen, dass der Cousin des Antragstellers zu 1. nicht Familienangehöriger im Sinne des Art. 2 lit g) Dublin III-VO und auch nicht als Verwandter im Sinne von Art. 2 lit h) Dublin III-VO zu qualifizieren ist. [...]
Auf die demnach gemäß Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO folgende Zuständigkeit der Antragsgegnerin für die Bearbeitung des Asylantrages des Antragstellers zu 1. kann sich nicht nur dieser berufen, vielmehr kann auch dessen in Deutschland lebender Bruder, der Antragsteller zu 2., ein eigenständiges Recht geltend machen. Denn die Vorschriften über den Vorrang der Familienzusammenführung im Dublin-Verfahren (Art. 8 bis 11 Dublin III-VO, hier Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO), dienen offensichtlich auch dem Schutz der jeweils betroffenen Familienangehörigen (vgl. VG Wiesbaden, Beschluss vom 15. September 2017 - 6 L 4438/17 - und Beschluss vom 9. März 2018 - 4 L 444/18.A -; VG Düsseldorf, Beschluss vom 21. Februar 2018 - 22 L 442/18.A -; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 7. März 2018 - 15a L 435/18.A -; VG Freiburg, Beschluss vom 8. Mai 2018 - A 4 K 11125/17 -; VG Halle (Saale), Beschluss vom 12. Juli 2018 - 7 B 125/18. HAL -; jeweils juris).
3. Die Zuständigkeit Deutschlands für die Bearbeitung des Asylverfahrens des Antragstellers zu 1. ist auch nicht wegen des Ablaufs von Zuständigkeitsfristen nach der Dublin III-VO entfallen.
a) Zwar ist die in Art. 21 Abs. 1, 20 Abs. 2 Dublin III-VO enthaltene Frist von drei Monaten nach Antragstellung zur Stellung des Übernahmegesuchs im vorliegenden Fall nicht eingehalten worden, da der Antragsteller zu 1. bereits am 10. August 2016 Asyl in Griechenland beantragt hat, die griechischen Behörden indes erst am 20. Februar 2017 im Rahmen des Dublin-Verfahrens ein Aufnahmegesuch an die Bundesrepublik Deutschland gerichtet haben. Diese Fristversäumnis kann dem Antragsteller zu 1. allerdings nicht zum Nachteil gereichen.
Hier ist zunächst in den Blick zu nehmen, dass die verspätete Antragstellung nicht dem Verantwortungsbereich des Antragstellers zu 1. zuzurechnen ist. [...] Entspricht bereits diese Vorgehensweise des Cousins als temporärer Vertreter nicht den Interessen des Antragstellers zu 1., so ist überdies anzumerken, dass das griechische Dublin-Referat zu Unrecht auf das Erfordernis einer schriftlichen Kundgabe des Wunsches auf Familienzusammenführung, respektive Überstellung nach Deutschland zur Durchführung des Asylverfahrens im vorliegenden Fall abgestellt hat. Denn im Anwendungsbereich des Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO gibt es dieses Erfordernis der schriftlichen Kundgabe des Wunsches im Gegensatz zu den Regelungen in Art. 9 und 10 Dublin III-VO (Zusammenführung von Familienangehörigen) nicht. Denn anders als bei erwachsenen Asylsuchenden bestimmt sich die Zuständigkeit im Falle eines unbegleiteten Minderjährigen unabhängig von einem Wunsch, der kundgetan werden muss, ausschließlich danach, ob die Zusammenführung mit einem Familienangehörigen oder einem der Geschwister des Antragstellers dem Kindeswohl entspricht.
Ausgehend hiervon kann die Fristversäumnis, die auf eine fehlerhafte Rechtsanwendung der griechischen Behörden und zudem auf das nicht die Interessen und dem Wohl des Minderjährigen wahrende Verhalten seines Vertreters beruhen, nicht zu Lasten des Antragstellers zu 1. gehen. Zwar sieht die Regelung in Art. 21 Abs. 1 Satz 3 Dublin III-VO vor, dass in den Fällen, in denen das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers nicht innerhalb der in den Unterabsätzen 1 und 2 niedergelegten Frist unterbreitet wird, der Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrages zuständig wird, in dem der Antrag auf internationalem Schutz gestellt wurde. Dieses hätte indes in den Fällen der Familienzusammenführung basierend auf die Zuständigkeitsregelungen nach Art. 8 bis 11 Dublin III-VO zur Konsequenz, dass wegen der im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung nicht eingehaltener formeller Fristen, die der Straffung und Beschleunigung des Dublin-Verfahrens dienen, auf Dauer eine Familienzusammenführung unmöglich machen. Dieses Ergebnis kann nicht Intention des Dublin-Regimes sein. Diesbezüglich ist in den Blick zu nehmen, dass die Zuständigkeitsvorschrift des Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO nicht nur der bloßen Aufgabenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten dient, sondern auch im spezifischen Interesse des Asylbewerbers liegt und demzufolge auch diese Zuständigkeitsnorm ihm subjektive Rechte verleiht. So zielt die Norm des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO darauf ab, dem schutzwürdigen Interesse des Flüchtlings dahingehend Rechnung zu tragen, dass sein Schutzgesuch - nach Ablauf eines gewissen Zeitraums, welcher der Klärung von Zuständigkeitsfragen vorbehalten ist - in angemessener Zeit in der Sache geprüft wird. Hierfür sprechen bereits Wortlaut und Regelungszusammenhang der Vorschrift. Wie auch bei Ablauf der Überstellungsfrist in Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin III-VO sanktioniert die Verordnung das nicht rechtzeitige Aufnahmegesuch in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO mit einem ausdrücklichen Zuständigkeitsübergang auf den ersuchenden Mitgliedstaat (vgl. VG Minden, Urteil vom 5. Juni 2015 - 6 K 182/15.A -, Rn. 42, juris).
In den Fällen der Familienzusammenführung würde indes durch den Übergang der Zuständigkeiten infolge Fristversäumnis gerade nicht den Interessen des Antragstellers Rechnung getragen werden. Vielmehr würden dadurch seine Rechte konterkariert. Dass ein Versäumen der rechtzeitigen Stellung eines Aufnahmeersuchens die Konsequenz haben kann, dass Familienangehörigen wegen einer Fristversäumnis durch eine staatliche Behörde ihr Menschenrecht auf Familienzusammenführung (Art. 8 EMRK, Art 7 GRC) versagt wird (jedenfalls unter asylrechtlichen Gesichtspunkten), erscheint kein denkmögliches Auslegungsergebnis (s. Filzwieser/Sprung, a.a.O., Art. 21 Dublin III-VO, Anmerkung K 5 (S.192)).
Der bestehende Konflikt zwischen Familieneinheit und Fristbeachtung des Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO kann mit Blick auf die besondere Wichtigkeit der Familieneinheit und insbesondere angesichts des besonders hohen Schutzgutes des Kindeswohls, hier respektive von unbegleiteten Minderjährigen nur dahingehend aufgelöst werden, dass eine Pflicht des ersuchten Mitgliedstaates zur Annahme eines Aufnahmegesuches auch nach Fristablauf bestehen muss. In diesem Zusammenhang ist auf die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte hinzuweisen, die im vergleichbaren Falle der Überschreitung der Überstellungsfrist aus Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO ein Weiterbestehen des Rechts auf Überstellung des Antragstellers zur Wahrung der Familieneinheit annehmen. Insoweit wird darauf abgestellt, dass in den Fällen, in denen der ersuchte Mitgliedstaat seiner Übernahmepflicht nach Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO nicht hinreichend nachkommt, dieses nicht zu Lasten des betreffenden Antragstellers gehen. kann und damit nicht zum Untergang seiner Rechtsposition führen darf gehen kann (vgl. VG Wiesbaden, Beschluss vom 9. März 2018, a.a.O.; VG Halle (Saale). Beschluss vom 12. Juli 2018, a.a.O.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 21. Februar 2018, a.a.O.; VG Freiburg, Beschluss vom 8. Mai 2018, a.a.O.; a.A. VG Ansbach, Beschluss vom 20. April 2018 - AN 14 E 18.50386 -; VG Würzburg, Beschluss vom 2. November 2017 - W 2 E 17.50674 -; VG Trier, Beschluss 14. Dezember 2017 - 7 L 14313/17.TR -; jeweils juris).
Diese vorstehenden Erwägungen sind auch auf den vorliegenden Fall übertragbar. Denn die Nichtwahrung der Frist zur Stellung eines Aufnahmegesuchs seitens des ersuchenden Mitgliedstaates, hier des griechischen Dublin-Referates, kann nicht zum Erlöschen des Anspruchs auf Herstellung der Familieneinheit führen. Dies gilt umso mehr als der Antragsteller auf den Zeitpunkt der Stellung des Aufnahmegesuchs keinen Einfluss hat. [...]
b) Darüber hinaus kann sich die Antragsgegnerin nicht mit Erfolg darauf berufen, dass das griechische Dublin-Referat auf die erfolgte Ablehnung des Aufnahmegesuchs der Antragsgegnerin nicht innerhalb der Frist des Art. 5 Abs. 2 der Durchführungsverordnung zur Dublin II-Verordnung (Verordnung [EG] Nr.1560/2003 vom 2. September 2003), die mangels anderweitiger Regelungen in der Verordnung [EG) Nr.118/2014 vom 30. Januar 2014 (Durchführungsverordnung zur Dublin III-Verordnung) weiterhin entsprechende Anwendung findet, remonstriert hat. Die genannte Bestimmung regelt, dass der ersuchende Mitgliedstaat, sofern er der Auffassung ist, dass die Ablehnung seines Übernahmegesuchs auf einem Irrtum beruht, oder sofern er sich auf weitere Unterlagen berufen kann, berechtigt ist, eine neuerliche Prüfung seines Gesuchs zu verlangen. Diese Möglichkeit muss binnen drei Wochen nach Erhalt der ablehnenden Antwort in Anspruch genommen werden. Der ersuchte Mitgliedstaat erteilt binnen zwei Wochen eine Antwort. [...]
Abgesehen davon steht dem Zuständigkeitsübergang aus Fristgründen auch der hochrangige Schutz der Familieneinheit und des Kindeswohls entgehen. [...]
4. Schließlich ergibt sich abgesehen von der vorstehend erörterten Fristenproblematik in jedem Fall ein Anspruch der Antragsteller aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gegenüber der Antragsgegnerin. [...]
Nimmt man nicht bereits - wie vorstehend - an, dass der Konflikt zwischen der Familieneinheit und der Einhaltung der in der Dublin III-VO vorgesehenen Fristen, hier Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO, wegen des hochrangigen Rechtsgutes der Familieneinheit sowie des Minderjährigenschutzes der Nachrang gebietet, so verdichtet sich jedenfalls das in Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO der Antragsgegnerin zustehende Ermessen zu einer Pflicht zum Selbsteintritt. Mit Blick auf die enge familiäre Verbindung der Antragsteller (Geschwisterverhältnis) sprechen humanitäre Gründe für eine Familienzusammenführung. Eine über die familiäre Verbindung hinausgehende besondere Beziehung oder ein etwaiges Abhängigkeitsverhältnis bedarf es - entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin - im Rahmen der vorliegenden Fallkonstellation nicht. Denn hier ist zu berücksichtigen, dass eine Zuständigkeit der Antragsgegnerin sich bereits aus Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO ergibt und ein Übergang der Zuständigkeit nur an Fristproblematiken scheitern könnte. Bei dem Widerstreit dieser Interessenlage kann es mithin nur eine Verdichtung des Ermessens gerichtet auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts geben (vgl. Filzwieser/Sprung, a.a.O., Art. 21 Dublin III-VO, Anm. K 5 (S. 192) und Art. 17 Dublin III-VO Anm. K 17; s. auch Nestler/Vogt, Dublin-III reversed - ein Instrument der Familienzusammenführung?, a.a.O.).
II. Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsgrund im Sinne einer besonderen Dringlichkeit einschließlich drohenden Rechtsverlusts glaubhaft gemacht. Dieser ergibt sich daraus, dass nach den gescheiterten Versuchen seitens des griechischen Dublin-Referates auf Übernahme des Antragstellers zu 1. durch die Antragsgegnerin nunmehr eine Entscheidung in der Sache über das Asylbegehren des Antragstellers zu 1. durch die griechische Asylbehörde zu besorgen ist. Erfolgt eine solche Bescheidung über das Asylbegehren, unterfiele der Antragsteller zu 1. nicht mehr dem Anwendungsbereich der Dublin III-VO. Um den Übergang der Zuständigkeit auf Griechenland abzuwenden, bedarf es daher der einstweiligen Anordnung. Die mit dieser Anordnung verbundene Vorwegnahme der Hauptsache ist zulässig, da ansonsten ein nicht umkehrbarer Übergang der Zuständigkeit auf Griechenland einträte und die Familieneinheit der Antragsteller zu 1. auf unabsehbare Zeit getrennt bliebe. Dies ist unzumutbar und rechtfertigt die ausnahmsweise Vorwegnahme der Hauptsache. [...]