EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 25.07.2018 - C-585/16 Alheto gg. Bulgarien - asyl.net: M26700
https://www.asyl.net/rsdb/m26700
Leitsatz:

Voraussetzungen für Flüchtlingsanerkennung von Personen aus UNRWA-Mandatsgebieten:

Ist eine Person bei UNRWA (hier: Gaza) registriert und über einen Drittstaat ausgereist, der ebenfalls zum Mandatsgebiet des UNRWA gehört und in dem ihr Schutz und Beistand gewährt wurde (hier: Jordanien), so ist diese Person unter bestimmten Voraussetzungen nach Art. 35 Abs. 1b der Asylverfahrensrichtlinie vom Flüchtlingsschutz ausgeschlossen.

Dies gilt nur, wenn der Drittstaat bereit ist, die betroffene Person wiederaufzunehmen sowie den Schutz oder Beistand des UNRWA anerkennt und dem Grundsatz der Nicht-Zurückweisung zustimmt, so dass sich die betroffene Person in seinem Hoheitsgebiet in Sicherheit und unter menschenwürdigen Lebensbedingungen so lange aufhalten kann, wie es die im Gebiet des gewöhnlichen Aufenthalts bestehenden Gefahren erfordern.

Ob diese Voraussetzungen vorliegen, hat die nationale Asylbehörde bzw. die Fachgerichte zu überprüfen. Nur wenn das Vorliegen dieser Voraussetzungen festgestellt werden kann, ist ein Ausschluss vom Flüchtlingsschutz möglich.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Palästinenser, besetzte Gebiete, Gaza-Streifen, Gaza, UNRWA, Ausschlussgrund, Hamas, ipso facto Flüchtling, Drittstaatenregelung, anderweitige Sicherheit vor Verfolgung, Alheto, Bulgarien
Normen: AsylG § 3 Abs. 3, RL 2013/32 Art. 35 Abs. 1b, Art. 35, AsylG § 27,
Auszüge:

[...]

131 Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 35 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass bei einer beim UNRWA registrierten Person, wenn ihr von dieser Organisation in einem Drittstaat, der nicht dem Gebiet entspricht, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, aber zum Einsatzgebiet der Organisation gehört, tatsächlich Schutz oder Beistand gewährt wird, davon auszugehen ist, dass ihr in diesem Drittstaat ausreichender Schutz im Sinne der genannten Bestimmung gewährt wird.

132 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass diese Frage gestellt wird, weil Frau Alheto während des bewaffneten Konflikts zwischen dem Staat Israel und der Hamas im Juli und August 2014 den Gazastreifen verließ, um sich in Jordanien in Sicherheit zu bringen, wo sie sich aufhielt und von wo aus sie nach Bulgarien reiste.

133 Jordanien gehört zum Einsatzgebiet des UNRWA. Folglich kann – auch wenn der Gerichtshof weder die Art des Mandats dieser Organisation noch deren Kapazitäten zur Erfüllung ihres Mandats zu prüfen hat – nicht ausgeschlossen werden, dass das UNRWA in Jordanien imstande ist, einer bei ihm registrierten Person mit seiner Aufgabe im Einklang stehende Lebensverhältnisse zu bieten, nachdem diese Person aus dem Gazastreifen geflohen ist.

134 Daher kann, falls einer Person, die das Einsatzgebiet des UNRWA verlassen und einen Antrag auf internationalen Schutz in der Union gestellt hat, in diesem Einsatzgebiet vom UNRWA tatsächlich Schutz oder Beistand gewährt wird, so dass sie sich dort in Sicherheit und unter menschenwürdigen Lebensbedingungen aufhalten kann, ohne der Gefahr einer Zurückweisung in das Gebiet ihres gewöhnlichen Aufenthalts ausgesetzt zu sein, solange für sie keine sichere Rückkehr dorthin möglich ist, die für die Entscheidung über ihren Antrag zuständige Behörde nicht davon ausgehen, dass diese Person aufgrund von Umständen, die von ihrem Willen unabhängig sind, gezwungen war, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen. In diesem Fall muss die betreffende Person gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 nach seiner Auslegung durch die oben in Rn. 86 angeführte Rechtsprechung in der Union von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen werden.

135 Hier hat das vorlegende Gericht auf der Grundlage einer individuellen Prüfung aller maßgeblichen Umstände zu beurteilen, ob dies bei Frau Alheto der Fall ist.

136 Sofern dies zu bejahen ist, könnte diese Situation, vorbehaltlich der nachstehenden Erwägungen, zur Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz führen, soweit er auf die Gewährung von subsidiärem Schutz gerichtet ist.

137 Nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 können die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz nämlich als in vollem Umfang unzulässig betrachten, wenn ein Staat, der kein Mitgliedstaat ist, als erster Asylstaat des Antragstellers im Sinne von Art. 35 der Richtlinie betrachtet wird.

138 Dabei kann ein Staat schon nach dem Wortlaut von Art. 35 Abs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2013/32 als erster Asylstaat für einen Antragsteller angesehen werden, wenn der Antragsteller in dem betreffenden Staat als Flüchtling anerkannt wurde und er diesen Schutz weiterhin in Anspruch nehmen darf oder wenn ihm in dem betreffenden Staat anderweitig ausreichender Schutz, einschließlich der Anwendung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung, gewährt wird, vorausgesetzt, dass er von diesem Staat wieder aufgenommen wird.

139 Beim UNRWA registrierte Personen haben, wie oben in Rn. 6 ausgeführt, den Status "Palästinaflüchtling im Nahen Osten". Folglich haben sie keinen speziell mit dem Haschemitischen Königreich Jordanien verbundenen Flüchtlingsstatus und können daher nicht allein aufgrund dieser Registrierung und des ihnen vom UNRWA gewährten Schutzes oder Beistands unter Art. 35 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 fallen.

140 Dagegen ist im Fall eines beim UNRWA registrierten Palästinensers, der seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort im Gazastreifen verlassen hat und nach Jordanien gereist ist, bevor er sich in einen Mitgliedstaat begeben und dort einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, anzunehmen, dass ihm in diesem Drittstaat anderweitig ausreichender Schutz, einschließlich der Anwendung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung, im Sinne von Art. 35 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 gewährt wird, sofern er erstens die Garantie hat, dort wieder aufgenommen werden zu können, ihm zweitens vom UNRWA tatsächlich ein von dem Drittstaat anerkannter oder sogar unterstützter Schutz oder Beistand gewährt wird und sich drittens die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, davon überzeugt haben, dass er sich in dem Drittstaat in Sicherheit und unter menschenwürdigen Lebensbedingungen so lange wird aufhalten können, wie es die im Gazastreifen bestehenden Gefahren erfordern.

141 In diesem Fall würde das Haschemitische Königreich Jordanien als unabhängiger Staat, dessen Hoheitsgebiet sich von dem des gewöhnlichen Aufenthalts des Betroffenen unterscheidet, durch seine Verpflichtung zu dessen Wiederaufnahme, durch seine Anerkennung des in seinem Hoheitsgebiet vom UNRWA tatsächlich gewährten Schutzes oder Beistands und durch seine Zustimmung zum Grundsatz der Nicht-Zurückweisung nämlich einen Akteur darstellen, der im Sinne von Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 Schutz bieten kann, und würde alle Voraussetzungen von Art. 35 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 erfüllen, um unter den dort genannten Begriff des ersten Asylstaats zu fallen.

142 Das vorlegende Gericht hat – gegebenenfalls nach einer Anweisung an die DAB, alle erheblichen Unterlagen und Tatsachen vorzulegen – zu beurteilen, ob im vorliegenden Fall alle oben in Rn. 140 beschriebenen Voraussetzungen erfüllt sind.

143 Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 35 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass im Fall einer beim UNRWA registrierten Person, der von dieser Organisation in einem Drittstaat, der nicht dem Gebiet entspricht, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, aber zum Einsatzgebiet der Organisation gehört, tatsächlich Schutz oder Beistand gewährt wird, davon auszugehen ist, dass ihr in diesem Drittstaat ausreichender Schutz im Sinne der genannten Bestimmung gewährt wird, sofern der Drittstaat sich verpflichtet, den Betroffenen wieder aufzunehmen, nachdem er sein Hoheitsgebiet verlassen hat, um internationalen Schutz in der Union zu beantragen, und den Schutz oder Beistand des UNRWA anerkennt und dem Grundsatz der Nicht-Zurückweisung zustimmt, so dass sich der Betroffene in seinem Hoheitsgebiet in Sicherheit und unter menschenwürdigen Lebensbedingungen so lange aufhalten kann, wie es die im Gebiet des gewöhnlichen Aufenthalts bestehenden Gefahren erfordern. [...]