EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 07.08.2018 - C-123/17 Yön gg. Deutschand - asyl.net: M26456
https://www.asyl.net/rsdb/m26456
Leitsatz:

Deutschland verstößt mit seinen Einreisebestimmungen (Visumserfordernis) für türkische Staatsangehörige beim Ehegattennachzug nicht grundsätzlich gegen EU-Recht (Assoziationsabkommen), wenn die Vorschriften dem Ziel der effektiven Einwanderungskontrolle dienen. Sie sind jedoch nur dann zulässig, wenn sie im Detail nicht über das selbst erklärte Ziel der Einwanderungskontrolle hinausgehen. Dies muss im Einzelfall im Rahmen der Ermessensausübung überprüft werden.  

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familiennachzug, Ehegattennachzug, türkische Staatsangehörige, Türkischer Arbeitnehmer, Visum, Visumsverfahren, nationales Visum, Zuwanderungskontrolle, öffentliches Interesse, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziierungsabkommen EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Stillhalteklausel, Visumspflicht, Yön, Deutschland
Normen: AufenthG § 5 Abs. 2, ARB 1/80 Art. 7, ZP Art. 41,
Auszüge:

[...]

72 Im Rahmen der Auslegung von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 hat der Gerichtshof ausgeführt, dass eine Beschränkung, mit der bezweckt oder bewirkt wird, die Ausübung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Inland durch einen türkischen Staatsangehörigen strengeren Voraussetzungen zu unterwerfen als denen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Beschlusses Nr. 1/80 galten, verboten ist, es sei denn, sie gehört zu den in Art. 14 dieses Beschlusses aufgeführten Beschränkungen oder ist durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie geeignet, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten, und geht nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinaus (Urteil vom 12. April 2016, Genc, C-561/14, EU:C:2016:247, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

73 Diese Beurteilung ist auf Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 übertragbar.

74 Nach Art. 12 des Assoziierungsabkommens haben die Vertragsparteien im Einklang mit dem ausschließlich wirtschaftlichen Zweck, der die Grundlage der Assoziation zwischen der Gemeinschaft und der Republik Türkei bildet, nämlich vereinbart, sich von den die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betreffenden Bestimmungen des Primärrechts der Union leiten zu lassen, so dass die im Rahmen dieser Bestimmungen geltenden Grundsätze so weit wie möglich auf türkische Staatsangehörige übertragen werden müssen, die Rechte aufgrund des Assoziierungsabkommens besitzen (Urteil vom 12. April 2016, Genc, C-561/14, EU:C:2016:247, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

75 Als Drittes ist somit zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme die in Rn. 72 des vorliegenden Urteils genannten Kriterien erfüllt.

76 Hierzu ist zum einen festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme nicht unter die Beschränkungen in Art. 9 des Beschlusses Nr. 2/76 fällt, der Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80 entspricht, da diese Maßnahme nach den Angaben des vorlegenden Gerichts auf Gründen der effektiven Einwanderungskontrolle sowie der Steuerung der Migrationsströme beruht.

77 Zum anderen kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs das Ziel, die Migrationsströme wirksam zu steuern, ein zwingender Grund des Allgemeininteresses sein, der eine neue Beschränkung im Sinne von Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 zu rechtfertigen vermag (vgl. entsprechend Urteil vom 29. März 2017, Tekdemir, C-652/15, EU:C:2017:239, Rn. 39).

78 Daher ist zu prüfen, ob, wie die Stadt Stuttgart und die deutsche Regierung geltend machen, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zu dessen Erreichung erforderlich ist.

79 Was zunächst die Eignung der Maßnahme für die Zwecke des verfolgten Ziels angeht, so erlaubt die für Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers sind, der sich rechtmäßig in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhält, bestehende Verpflichtung, vor der Einreise in das deutsche Hoheitsgebiet ein Visum zur Familienzusammenführung einzuholen, was Vorbedingung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung ist, zwar die Kontrolle, ob der Aufenthalt der Drittstaatsangehörigen in diesem Mitgliedstaat rechtmäßig ist. Da die wirksame Steuerung der Migrationsströme deren Kontrolle erfordert, ist eine solche Maßnahme geeignet, die Verwirklichung dieses Ziels zu gewährleisten.

80 Sodann ist hinsichtlich der Frage, ob die Maßnahme über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinausgeht, festzustellen, dass die den Drittstaatsangehörigen auferlegte Verpflichtung, ein Visum für die Einreise nach und den Aufenthalt in Deutschland zur Familienzusammenführung einzuholen, als solche nicht außer Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht.

81 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt jedoch auch, dass die Einzelheiten der Umsetzung einer solchen Verpflichtung nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist (Urteil vom 29. März 2017, Tekdemir, C-652/15, EU:C:2017:239, Rn. 43).

82 Hierzu ist anzumerken, dass das nationale Recht, wie sich aus Rn. 23 des vorliegenden Urteils ergibt, eine Härtefallklausel vorsieht, wonach von der Visumpflicht abgesehen werden kann, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es auf Grund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren im Herkunftsland nachzuholen.

83 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Akten, dass Frau Yön, als sie aus den Niederlanden nach Deutschland einreiste, nicht das zur Familienzusammenführung erforderliche Visum besaß, sondern ein von der niederländischen Botschaft in Ankara erteiltes Schengen-Visum.

84 Wie der Vorlageentscheidung zu entnehmen ist, kann nach dem nationalen Recht die Einreise von Frau Yön in das deutsche Hoheitsgebiet ohne das erforderliche Visum nicht automatisch zur Ablehnung ihres Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung führen. Die Entscheidung, aufgrund der Härtefallklausel von der Visumpflicht abzusehen, liegt jedoch im Ermessen der zuständigen Behörden, wobei sie die konkreten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen haben.

85 Im vorliegenden Fall beruft sich Frau Yön nach den Angaben in der Vorlageentscheidung darauf, dass sie aufgrund ihres Gesundheitszustands und des Umstands, dass sie Analphabetin sei, von ihrem Ehemann abhängig sei.

86 Sollte Frau Yön aufgrund gesundheitlicher Probleme oder anderer Schwierigkeiten so stark von der Hilfe und persönlichen Unterstützung ihres Ehemanns abhängig sein, dass er sie in die Türkei begleiten müsste, damit sie in diesem Drittstaat das Verfahren zur Erteilung des erforderlichen Visums nachholen kann, und sollte das den zuständigen Behörden eingeräumte Ermessen es ihnen unter solchen Umständen ermöglichen, nicht von der Visumpflicht abzusehen, obwohl sie bereits über alle für die Entscheidung über das Aufenthaltsrecht der Klägerin des Ausgangsverfahrens in Deutschland erforderlichen Gesichtspunkte verfügen – was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist –, würde die Anwendung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Maßnahme über das hinausgehen, was zur Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels erforderlich ist.

87 Unter solchen Umständen könnte nämlich nicht mit Erfolg geltend gemacht werden, dass nur die Ausreise von Frau Yön aus dem deutschen Hoheitsgebiet, um in der Türkei das Verfahren zur Erteilung des erforderlichen Visums nachzuholen, die zuständige Behörde in die Lage versetzen würde, die Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts zur Familienzusammenführung zu beurteilen und damit die Verwirklichung des Ziels der effizienten Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationsströme zu gewährleisten.

88 Dagegen müsste unter solchen Umständen der Ehemann von Frau Yön aufgrund ihrer Abhängigkeit von ihm seine Erwerbstätigkeit in Deutschland aufgeben, um mit seiner Ehefrau zur Durchführung eines Visumverfahrens in die Türkei zu reisen, ohne dass bei seiner Rückkehr aus der Türkei seine berufliche Wiedereingliederung gewährleistet wäre, obwohl die Voraussetzungen für die Familienzusammenführung von den zuständigen Behörden in Deutschland geprüft werden könnten, so dass die Verwirklichung des genannten Ziels unter Vermeidung der angesprochenen Nachteile sichergestellt werden könnte.

89 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 7 des Beschlusses Nr. 2/76 dahin auszulegen ist, dass eine in der Zeit vom 20. Dezember 1976 bis 30. November 1980 eingeführte Maßnahme des nationalen Rechts wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, nach der die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung für Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers sind, der sich rechtmäßig in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhält, davon abhängt, dass diese Staatsangehörigen vor der Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Staates ein Visum zur Familienzusammenführung einholen, eine "neue Beschränkung" im Sinne dieser Bestimmung darstellt. Eine solche Maßnahme kann jedoch aus Gründen der effektiven Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationsströme gerechtfertigt sein; sie ist aber nur zulässig, soweit die Einzelheiten ihrer Umsetzung nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinausgehen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist. [...]