VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 30.11.2017 - 23 K 463.17 A - asyl.net: M26134
https://www.asyl.net/rsdb/m26134
Leitsatz:

1. Im Rahmen der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist weder eine Verletzung von Art. 3 EMRK noch von Art. 20 ff. der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) zu prüfen.

2. Anerkannten Schutzberechtigten droht bei einer Überstellung nach Griechenland eine Verletzung ihrer Rechten aus Art. 3 EMRK.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Griechenland, internationaler Schutz in EU-Staat, Drittstaatenregelung, Unzulässigkeit, Abschiebungsverbot, Aufnahmebedingungen, Anerkannte, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Europäische Menschenrechtskonvention, EATRR,
Normen: EMRK Art. 3 EMRK, RL 2011/95/EU Art. 20, AsylG §29 Abs. 1 Nr. 2, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

18 1. Weder das nationale Recht noch das Unionsrecht sehen als Voraussetzung für die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG eine Prüfung vor, ob der Betroffene im Fall einer Überstellung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 24. August 2016 - 13 A 63/16.A -, juris Rn. 41; vgl. auch Fastenrath, Anmerkung zu VGH Kassel, Urteil vom 4. November 2016 - 3 A 1292/16.A -, NVwZ 2017, 575 [575]). Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht die Frage der Prüfung des Art. 3 EMRK im Rahmen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in mehreren Vorlagebeschlüssen dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt, welcher diese bisher noch nicht beantwortet hat (vgl. hierzu: BVerwG, Beschlüsse vom 2. August 2017 - BVerwG 1 C 37/16 - juris, Vorlagefrage 1.b) und Rn. 20 ff. und vom 23. März 2017 - BVerwG 1 C 17.16 -, juris, Vorlagefrage 3.b) und Rn. 28 ff.). Jedoch hat das Bundesverwaltungsgericht selbst aufgezeigt, dass die Prüfung der Lebensbedingungen in dem den internationalen Schutz gewährenden Staat im Rahmen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht zwingend geboten ist, sondern durchaus auch eine Lösung über das Ausländerrecht möglich - und nach seiner Auffassung offenbar vorzugswürdig - ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 2. August 2017 - BVerwG 1 C 37.16 -, juris Rn. 24). Dieser Ansicht ist auch die erkennende Kammer, weshalb sich die Frage einer Verletzung des Art. 3 EMRK erst im Rahmen der Abschiebungshindernisse des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG stellt (vgl. bereits Beschlüsse der Kammer vom 12. Juli 2017 - VG 23 L 503.17 A -, juris Rn. 7 und - VG 23 L 293.17 A -, juris Rn. 8; VG Berlin, Beschluss vom 20. Juli 2017 - VG 28 L 282.17 A -, juris Rn. 10 f.; offen gelassen: VG Berlin, Beschluss vom 2. Juni 2017 - VG 33 L 365.17 A -, juris Rn. 12).

19 Eine Prüfung des Art. 3 EMRK im Rahmen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist insbesondere nicht deshalb angezeigt, weil dem Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund der Zuerkennung internationalen Schutzes nach § 25 Abs. 2 AufenthG eine bessere Rechtsstellung eingeräumt wird, als dem Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG aufgrund eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG. Letzterer hat nicht zu allen in Art. 20 ff. der Richtlinie 2011/95/EU gewährleisteten Rechten Zugang. Denn der auf dem Abschiebungsverbot beruhende Aufenthaltsstatus besteht ohnehin nur für zwei Jahre des tatsächlichen und dauernden Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland, also für einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum. Nach dem Ablauf dieser zwei Jahre kommt der Betroffene auch ohne Durchführung eines weiteren Asylverfahrens in Deutschland in den vollen Genuss der mit der Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte. Denn auf einen in einem anderen Mitgliedstaat anerkannten Flüchtling findet Art. 2 des - von Deutschland ratifizierten - Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 (vgl. BGBl. 1994 II, S. 2645) Anwendung. Nach dessen Abs. 1 geht die Verantwortung für einen Flüchtling spätestens nach Ablauf von zwei Jahren des tatsächlichen und dauernden Aufenthalts im Bundesgebiet auf Deutschland über (vgl. zum Vorstehenden: BVerwG, Beschlüsse vom 2. August 2017 - BVerwG 1 C 37.16 -, juris Rn. 24 und vom 27. Juni 2017 - BVerwG 1 C 26/16 -, juris Rn. 34). Darauf, ob auch der Mitgliedstaat, der den Flüchtlingsstatus zuerkannt hat, diesem Übereinkommen zugestimmt hat, kommt es entgegen der klägerischen Auffassung nicht an. [...]

23 Vor allem aber spricht für die Prüfung des Art. 3 EMRK im Rahmen der Abschiebungsverbote und nicht bereits bei § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG die Beibehaltung des zentralen Prinzips des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, wonach die Prüfung eines Asylantrags nur durch einen einzigen Mitgliedstaat erfolgt (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO; vgl. Fastenrath, Anmerkung zu VGH Kassel, Urteil vom 4. November 2016 - 3 A 1292/16.A -, NVwZ 2017, 575 [575]). Dies soll nicht nur Mehrfachanerkennungen, sondern auch - bei nochmaliger Durchführung eines Asylverfahrens nicht auszuschließende - divergierende Entscheidungen innerhalb der Union mit allen ihren unionsrechtlich unerwünschten Folgeerscheinungen vermeiden (vgl. zum Vorstehenden: BVerwG, Beschluss vom 27. Juni 2017 - BVerwG 1 C 26/16 -, juris Rn. 35). Anders als im Falle des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO ist die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags im vorliegenden Fall geklärt. Ein Mitgliedstaat hat bereits die Verantwortung für die konkrete Person übernommen. Zudem soll eine in einem Mitgliedstaat drohende Verletzung von Art. 3 EMRK nicht dazu führen, dass der Betroffene besser gestellt wird als andere Asylbewerber, indem sein Asylverfahren in zwei verschiedenen Ländern durchgeführt wird und er letztlich eine Wahlmöglichkeit erhält, in welchem Land er seinen Schutzstatus in Anspruch nehmen möchte.

24 2. Erst recht ist im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht maßgeblich, ob die Bedingungen in dem Mitgliedstaat, in den überstellt werden soll, lediglich in einzelnen Punkten den Anforderungen der Art. 20 ff. der Richtlinie 2011/95/EU nicht genügen, ohne bereits gegen Art. 3 EMRK zu verstoßen (vgl. Beschlüsse der Kammer vom 12. Juli 2017 - VG 23 L 503.17 A -, juris Rn. 7 und vom 12. Juli 2017 - VG 23 L 293.17 A -, juris Rn. 8; VG Berlin, Beschluss vom 20. Juli 2017 - 28 L 282.17 A -, juris Rn. 10 f.; VG Berlin, Beschluss vom 2. Juni 2017 - VG 33 L 365.17 A -, juris Rn. 12; a.A. wohl: VG Düsseldorf, Beschlüsse vom 17. Juli 2017 - 22 L 3003/17.A -, juris Rn. 13 ff. und vom 12. Juli 2017 - 22 L 1857/17.A -, juris Rn. 13 ff.; offen gelassen: VG Hamburg, Beschluss vom 11. Juli 2017 - 9 AE 3225/17 -, juris Rn. 8). Selbst nach der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts bedarf es bei dieser Konstellation "offenkundig weder der nochmaligen Durchführung eines Asylverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat noch einer unionskonformen erweiternden Auslegung der dort für anerkannte Flüchtlinge geltenden aufenthalts- und sozialrechtlichen Vorschriften" (wörtlich BVerwG, Beschluss vom 2. August 2017 - BVerwG 1 C 37.16 -, juris Rn. 22).

25 Das Gemeinsame Europäische Asylsystem beruht auf der Grundannahme, dass sich die Mitgliedstaaten Vertrauen - namentlich in die Beachtung der Grundrechte - entgegenbringen dürfen (vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u.a. -, juris Rn. 78 ff., 83). Das Funktionieren dieses Systems ist deshalb darauf angewiesen, dass die Schwelle, ab der ein solches Vertrauen nicht (mehr) gerechtfertigt ist, nicht zu niedrig angesetzt wird. Eine Absenkung begünstigte überdies die schon in erheblichem Umfang stattfindende Sekundärmigration von Schutzberechtigten und das sogenannte "asylum shopping", deren Verhinderung eines der Ziele des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist. Gegen eine Herabsetzung der Schwelle des Art. 3 EMRK spricht auch, dass der Unionsgesetzgeber auf eine Vereinheitlichung existenzsichernder Leistungen für anerkannte Schutzberechtigte innerhalb der Union verzichtet hat (vgl. zum Vorstehenden: BVerwG, Beschlüsse vom 2. August 2017 - BVerwG 1 C 37.16 -, juris Rn. 23; vom 27. Juni 2017 - BVerwG 1 C 26/16 -, juris Rn. 33 und vom 23. März 2017 - BVerwG 1 C 17.16 -, juris Rn. 35). [...]