VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 09.03.2011 - A 5 K 3151/10 - asyl.net: M18404
https://www.asyl.net/rsdb/m18404
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen erneuter Verfolgungsgefahr durch die Hamas im Gazastreifen für ein Mitglied des Sicherheitsdienstes der Fatah; keine inländische Fluchtalternative im Westjordanland oder in Israel.

Schlagwörter: Asylverfahren, Flüchtlingsanerkennung, Palästinenser, Palästinensische Gebiete, Israel, staatenlos, Gruppenverfolgung, interne Fluchtalternative, Vorverfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat aber Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift kann, wie bereits oben dargelegt, eine Verfolgung i.S. des Satzes 1 ausgehen von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder nichtstaatlichen Akteuren, soweit die anderen genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine inländische Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG). Die Hamas übt seit etwa Mitte 2007 und derzeit quasi-staatliche Gewalt im Gazastreifen aus (vgl. hierzu mit ausführlicher Begründung VG Arnsberg, Urteil vom 7.11.2008, aaO., VG Hannover, Urteil vom 11.1.2011, aaO., juris Rd.Nr, 75). Der Kläger ist vorverfolgt ausgereist. Er hat im Wesentlichen widerspruchsfrei vorgetragen, dass er seit seiner Geburt bis 2004 bei seinem Vater bzw. in dessen Haus in ) bei Khan Younis gelebt habe. Er habe ab 2004 der Preventive Security, einem Sicherheitsdienst der Fatah, angehört und als Personenschützer gearbeitet bzw. bei der Festnahme von Hamas-Mitgliedern mitgewirkt. Über seine Zugehörigkeit zur Preventive Security hat der Kläger einen Dienstausweis vorgelegt. Er hat vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung seine Aufgaben beschrieben. Der Kläger hat auch im Wesentlichen widerspruchsfrei und plausibel dargelegt, dass er im Juli 2006 von der Hamas niedergeschossen worden sei. Er sei in der Folgezeit in Gaza, Kairo und Jordanien medizinisch behandelt worden und habe bleibende Beschwerden behalten; das Gericht konnte sich von den Verletzungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung überzeugen. Der Kläger hat - wenn auch im Gegensatz zu seinen sonstigen Angaben bezüglich des Überfalls weniger überzeugend und unpräzise, aber noch glaubhaft - dargelegt, dass er nach Rückkehr aus Ägypten erneut von der Hamas angegriffen worden sei und sich dann bei seinem Vater versteckt hätte. Zweifel an der Richtigkeit der Angaben insbesondere zu dem Überfall auf ihn hat das Gericht nicht. Es ist durch Erkenntnisse belegt, dass es bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Fatah und Hamas im Gazastreifen mit zahlreichen Opfern gegeben hat. So hat das Auswärtige Amt in seiner Auskunft vom 03.05.2006 an das Verwaltungsgericht Magdeburg ausgeführt, dass es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, Ermordungen, Entführungen, Schießereien und Gefechten im Gazastreifen zwischen Hamas und Fatah gekommen ist. Die Auseinandersetzungen hatten bis zum Zeitpunkt der Auskunft 150 Todesopfer gefordert (vgl. auch Auskunft GIGA - Uwe Brocks - vom 06.03.2007 an das VG Würzburg über Auseinandersetzungen zwischen Hamas und Fatah).

Ist der Kläger vorverfolgt ausgereist, so kann auch nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass er erneut Verfolgungsmaßnahmen durch die Hamas bei einer Rückkehr in den Gazastreifen zu gewärtigen hat. Der Kläger als Mitglied eines Sicherheitsdienstes der Fatah ist nach den vorliegenden Erkenntnissen auch bei einer Rückkehr in den Gazastreifen gefährdet (vgl. VG Hannover, Urteil vom 11.01.2011 - 7 A 3869/10 - , juris, und die dort genannte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.10.2009; vgl. auch Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 12.03.2007 an das VG Magdeburg), in seiner Funktion gehörte der Kläger nicht nur zum Kreis der einfachen Fatah- Mitglieder, sondern hatte eine in der Gefährdung funktionärsähnliche Stellung.

Der Kläger kann auch nicht auf eine inländische Fluchtalternative im Westjordanland verwiesen werden. Eine inländische Fluchtalternative setzt jedenfalls voraus, dass der Betroffene dort innerstaatlichen Schutz, nämlich Sicherheit vor Verfolgung, erreichen kann und ihm ein Aufenthalt am Ort der Fluchtalternative zumutbar ist. Grundsätzlich bestehen kann eine innerstaatliche Fluchtalternative in anderen Landesteilen, in denen dem Betroffenen keine politische Verfolgung droht und nur dann, wenn er dort nicht in eine ausweglose Lage gerät. Gemessen daran steht dem Kläger keine inländische Fluchtalternative in Israel offen. Generell kann ein Palästinenser aus dem Gazastreifen, der dort Verfolgung durch die Hamas-Regierung zu befürchten hat, nicht nach Israel ausweichen. Palästinenser, die im Gazastreifen oder im Westjordanland wohnen, erhalten ausnahmslos keine Niederlassungsbewilligung in Israel. Sie würden mangels eines Aufenthaltsrechts von Israel in den Gazastreifen bzw. das Westjordanland, wo sie nach israelischer Sicht herkommen und ohne israelische Staatsbürgerschaft auch hingehören, weitergeleitet (VG Arnsberg, Urteil vom 07.11.2008, a.a.O.). Dem Kläger stünde insbesondere im Westjordanland keine Fluchtalternative offen. Zwar könnte er als Fatah-Angehöriger dort möglicherweise durch diese Organisation Schutz vor Verfolgung durch die Hamas finden, weil das Westjordanland faktisch von der Fatah regiert wird. Ein Asylsuchender kann aber nur dann auf das Gebiet einer inländischen Fluchtalternative verwiesen werden, wenn dieses - gegebenenfalls auch über das Ausland - zumutbar erreichbar ist. Daran fehlt es hinsichtlich des Westjordanlandes. Denn die Einreise von außerhalb Israels in die besetzten Gebiete bedarf - ebenso wie eine Einreise vom israelischen Kerngebiet aus - der Zustimmung der Israelis. Umgekehrt haben die Palästinenser unbeschadet ihrer unumschränkten Sicherheitskompetenz in den Bevölkerungszentren des Westjordanlandes keinerlei "außenpolitische Kompetenz", d.h. sie können nicht bestimmen, wer von außerhalb des Landes oder der Gebiete dorthin einreisen darf (vgl. zum Vorgenannten VG Arnsberg, Urteil vom 07.11.2008, a.a.O.). Das bedeutet für den Kläger, dass eine Einreise in das Westjordanland nicht ohne Zustimmung offizieller israelischer Stellen möglich wäre. Sollten die Israelis überhaupt eine Rückkehr des Klägers erlauben und nicht von einer die Wiedereinreise ausschließenden Aufgabe des Rückkehrrechts wegen eines längeren Auslandsaufenthalts ausgehen, würden sie eine solche nach den weiter oben dargelegten Grundsätzen aber lediglich in den Gazastreifen gestatten bzw. den Kläger dorthin abschieben (vgl. wiederum mit Nachweis VG Arnsberg, Urteil vom 07.11.2008, a.a.O. und Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.10.2009 an das VG Hannover zu den Einreisemöglichkeiten von Gaza-Palästinensern nach Israel bzw. das Westjordanland). Liegen danach die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vor, ist das Bundesamt gemäß § 60 Abs. 1 Satz 6 AufenthG zugleich zur Feststellung zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. [...]