Versagung des Einvernehmens des Bundesinnenministeriums für die Aufnahme Geflüchteter aus Griechenland gegenüber dem Land Berlin rechtmäßig:
"1. Die Anordnung der obersten Landesbehörde nach § 23 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, einer bestimmten Ausländergruppe aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, ist eine politische Leitentscheidung, die gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit des Einvernehmens mit dem Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) bedarf.
2. Das Land kann eine Versagung des - zweckgebundenen - Einvernehmens im verwaltungsrechtlichen Bund-Länder-Streit überprüfen lassen; dafür fehlt es nicht von vornherein an der Klagebefugnis.
3. Das gesetzliche Erfordernis des Einvernehmens ist eine im Einklang mit Art. 84 Abs. 1 Satz 5 und 6 GG stehende Regelung des Verwaltungsverfahrens durch den Bund, von der die Länder gemäß § 105a AufenthG nicht abweichen dürfen.
4. Das BMI muss seine Entscheidung über die Erteilung des Einvernehmens an dem ihm (allein) zugewiesenen Belang der Bundeseinheitlichkeit ausrichten. Bei der Konkretisierung des Begriffs der Bundeseinheitlichkeit ist ihm ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum eingeräumt.
5. Bundeseinheitlichkeit bezieht sich auf eine im Grundsatz einheitliche Behandlung der fraglichen Personengruppe im Bundesgebiet und zielt unter anderem auf die Verhinderung negativer Auswirkungen auf die anderen Länder oder den Bund.
6. Hat der Bund in eigener Zuständigkeit Ausländer aus der fraglichen Gruppe aus denselben humanitären Gründen aufgenommen, darf das BMI einer Landesaufnahmeanordnung auch bei fehlender Kohärenz mit den eigenen, auf dieselbe Personengruppe zielenden Maßnahmen das Einvernehmen verweigern.
7. Das BMI ist im Grundsatz auch berechtigt, ein koordiniertes Vorgehen aller oder mehrerer durch das Gemeinsame Europäische Asylsystem zusammengeschlossener Mitgliedstaaten durch eine kohärente und einheitliche Vertretung der Bundesrepublik Deutschland zu befördern."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
1 Das klagende Land Berlin begehrt die Feststellung, dass die Versagung des Einvernehmens durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (seit 8. Dezember 2021: Bundesministerium des Innern und für Heimat; im Folgenden: BMI) zu einer nach § 23 Abs. 1 AufenthG beabsichtigten Anordnung über die Erteilung humanitärer Aufenthaltserlaubnisse für 300 als besonders schutzbedürftig definierte Personen aus dem (ehemaligen) Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos rechtswidrig war. [...]
15 1.1 Der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten und die sachliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts sind gegeben. Es handelt sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nicht verfassungsrechtlicher Art zwischen einem Land und dem Bund (§ 50 Abs. 1 Nr. 1, § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO). [...]
22 c) Der Kläger ist auch klagebefugt (§ 42 Abs. 2 VwGO). [...]
24 § 23 Abs. 1 AufenthG ist - auch unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung von Bund und Ländern - dahin auszulegen, dass dem Land grundsätzlich ein durchsetzbarer Anspruch auf Erteilung des Einvernehmens zustehen kann. Einfach-rechtlich vermittelt § 23 Abs. 1 Satz 1 AufenthG den Ländern im Bereich der humanitären Aufnahme von Ausländergruppen einen Raum für eigene politische Entscheidungsbefugnisse. Diese Rechtsstellung ist durch die Notwendigkeit des Einvernehmens zwar beschränkt, wird dadurch aber nicht aufgehoben. Denn das Einvernehmen dient nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der Regelung der Wahrung der Bundeseinheitlichkeit und ist an diesem Zweck auszurichten (siehe näher unter 2.3 a)). [...]
29 2. Die Klage ist nicht begründet. Dem Kläger stand gegen die Beklagte kein Anspruch auf Erteilung des Einvernehmens zu seiner Aufnahmeanordnung vom 9. Juni 2020 zu; die Weigerung des BMI, das Einvernehmen zu erteilen, war rechtmäßig. [...]
31 § 23 Abs. 1 Satz 1 AufenthG verleiht der obersten Landesbehörde die Befugnis, aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen an Ausländer aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen anzuordnen. Zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit bedarf eine solche Anordnung nach § 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG des Einvernehmens mit dem BMI. Dieses Einvernehmen ist zwingende Voraussetzung für die Wirksamkeit der Anordnung (BVerwG, Urteil vom 27. Januar 2009 - 1 C 40.07 - BVerwGE 133, 72 Rn. 11; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Dezember 2021, § 23 AufenthG Rn. 17; Röcker, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 23 AufenthG Rn. 10). [...]
50 2.2 Nach § 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG bedarf die Anordnung zur Wahrung der Bundeseinheitlichkeit des Einvernehmens mit dem BMI. Dieses zwingende Erfordernis des Einvernehmens zu Aufnahmeanordnungen der obersten Landesbehörden findet seine verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 84 Abs. 1 Satz 2 und 5 GG. Es handelt sich um eine verfassungsmäßige, nach Art. 84 Abs. 1 Satz 5 GG einer Abweichung durch die Länder unzugängliche (das heißt abweichungsfeste) Regelung des Verwaltungsverfahrens. [...]
57 2.3 Die Weigerung des BMI, das gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 AufenthG erforderliche Einvernehmen zu erteilen, war im maßgeblichen Zeitpunkt der Erledigung der Aufnahmeanordnung rechtmäßig. Die hierfür in erster Linie angeführte Begründung, dass die Aufnahmeanordnung zu einer - grundlegend - unterschiedlichen Rechtsstellung von Personen aus demselben griechischen Flüchtlingslager im Bundesgebiet führen würde, ist vom Zweck des Einvernehmens gedeckt.
58 a) Das Erfordernis des Einvernehmens des BMI dient nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der Norm der Wahrung der Bundeseinheitlichkeit. [...]
60 b) Aufnahmeanordnungen nach § 23 Abs. 1 AufenthG haben aufgrund ihres einzelfallübergreifenden Inhalts politischen Charakter; ihr Erlass geht über einen typischen Verwaltungsvollzug hinaus. Dem ist durch Entscheidungsspielräume Rechnung zu tragen, die nicht nur der obersten Landesbehörde bei Erlass der Anordnung, sondern auch dem BMI bei der Entscheidung über das Einvernehmen zuzugestehen sind. Diese Entscheidung ist daher zwar an dem ihm (allein) zugewiesenen Belang der Wahrung der Bundeseinheitlichkeit auszurichten. Bei der Konkretisierung des Begriffs der Bundeseinheitlichkeit ist dem BMI indes ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum eingeräumt. Denn die Entscheidung über die Erteilung des Einvernehmens ist ungeachtet ihrer Zweckbindung ebenso wie die Aufnahmeentscheidung der obersten Landesbehörde eine - auch - politische Entscheidung. Sie ist mit dem BMI ebenfalls der höchsten politischen Verwaltungsebene (hier: des Bundes) zugewiesen; und die Bestimmung der Grenze bundesstaatlich hinnehmbarer Uneinheitlichkeit ist mit politischen Wertungen verknüpft, bei denen von umfänglicher gerichtlicher Kontrolle freie Handlungsspielräume der Bundesexekutive anzuerkennen sind.
61 Die gerichtliche Kontrolle ist in derartigen Fällen darauf beschränkt, ob die Behörde die gültigen Verfahrensbestimmungen eingehalten hat, von einem richtigen Verständnis des anzuwendenden Gesetzesbegriffs ausgegangen ist, den erheblichen Sachverhalt zutreffend und vollständig ermittelt hat und sich bei der eigentlichen Beurteilung an allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe gehalten, insbesondere das Willkürverbot nicht verletzt hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 - 1 C 37.14 - Buchholz 451.902 Europ. Ausländer- und Asylrecht Nr. 77 Rn. 21 m.w.N.). [...]
d) Bundeseinheitlichkeit bezieht sich auf eine im Grundsatz einheitliche Behandlung der fraglichen Personengruppe im Bundesgebiet und zielt unter anderem auf die Verhinderung negativer Auswirkungen auf die anderen Länder (horizontal) oder den Bund (vertikal). Dies verlangt keine Uniformität im Sinne absoluter Übereinstimmung, denn § 23 Abs. 1 AufenthG weist die Entscheidungsbefugnis über eine gruppenbezogene Aufnahme gerade der obersten Landesbehörde und damit auch einzelnen Ländern zu (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 2000 - 1 C 19.99 - BVerwGE 112, 63 <69>). Soll gleichwohl die "Bundeseinheitlichkeit" gewahrt werden, ist indes eine möglichst einheitliche Aufnahmepraxis sowohl dem Grunde nach als auch bei der Ausgestaltung von Aufnahmeanordnungen erwünscht. Dem entspricht eine häufige Staatspraxis,
nach der sich die Länder und der Bund im Rahmen der Innenministerkonferenz auf die Aufnahme bestimmter Ausländergruppen und bestimmte Eckpunkte dazu verständigen und das BMI zu derartigen Vereinbarungen - oft noch vor Ausarbeitung konkreter Landesaufnahmeanordnungen - sein Einvernehmen erteilt (vgl. etwa Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, Stand Dezember 2015, § 23 Rn. 21 und 33). Das schließt Aufnahmeanordnungen, die nicht derart umfassend abgestimmt sind, zwar nicht aus. Über das erforderliche Einvernehmen kann das BMI dann aber zumindest verhindern, dass sich einzelne Länder durch Erlass entsprechender Anordnungen zu weit von einer bundeseinheitlichen Rechtsanwendung entfernen (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 2000 - 1 C 19.99 - BVerwGE 112, 63 <69>). Hat der Bund in eigener Zuständigkeit Ausländer aus der fraglichen Gruppe aus denselben humanitären Gründen aufgenommen, darf das BMI einem Landesaufnahmeprogramm auch bei fehlender Kohärenz mit den eigenen, auf dieselbe Personengruppe zielenden Maßnahmen das Einvernehmen verweigern. [...]
64 Bei der Bewertung der Erheblichkeit von Uneinheitlichkeiten oder Inkohärenzen im Einzelfall hat das BMI - wie ausgeführt - einen Beurteilungsspielraum. Es muss eine Versagung des Einvernehmens stets begründen. Ob und wie konkret dabei nachteilige Auswirkungen auf die anderen Länder oder den Bund dargelegt werden müssen, hängt vom Einzelfall ab. Je größer und gewichtiger sich die durch eine Aufnahmeanordnung bewirkte Uneinheitlichkeit darstellt, umso weniger rechtfertigungsbedürftig ist ein Veto des BMI. Umgekehrt wird das Einvernehmen in der Regel zu erteilen sein oder dessen Versagung besonders fundierter Begründung bedürfen, wenn ein Land nur in Details der Ausgestaltung eigene Wege geht. [...]
67 Das BMI ist unter dem Aspekt des ihm zugewiesenen Belangs der Bundeseinheitlichkeit im Grundsatz auch berechtigt, ein koordiniertes Vorgehen aller oder mehrerer durch das Gemeinsame Europäische Asylsystem zusammengeschlossener Mitgliedstaaten durch eine kohärente und einheitliche Vertretung der Bundesrepublik Deutschland zu befördern. Das Einvernehmen zu einer humanitären Landesaufnahme darf in solchen Fällen verweigert werden, wenn der Bund plausibel machen kann, dass er sich auf überstaatlicher Ebene entsprechend positioniert hat oder dass er in konkreten Verhandlungen steht, und dies durch konkurrierende Maßnahmen auf Landesebene beeinträchtigt wird. [...]
70 bb) Auch in der Sache ist eine Rechtswidrigkeit der Versagung des Einvernehmens hier nicht festzustellen. Das BMI hatte seine Entscheidung vor allem damit begründet, dass die Aufnahmeanordnung des Klägers zu einer - grundlegend - unterschiedlichen Rechtsstellung von Personen aus demselben griechischen Flüchtlingslager im Bundesgebiet geführt hätte. Denn der Bund hatte seinerseits bereits unter gänzlich anderen Maßgaben einer größeren Zahl von unbegleiteten und behandlungsbedürftigen Minderjährigen (letztere nebst Kernfamilien) die Einreise nach Deutschland ermöglicht. Diese Aufnahme ist im Einklang mit Verfahrensregeln, die von mehreren Mitgliedstaaten unter Beteiligung der Europäischen Kommission zu diesem Zweck abgestimmt waren, dergestalt erfolgt, dass der Bund die Zuständigkeit für das Asylverfahren der ausgewählten Person(en) nach der Dublin III-VO übernommen hat. Die im Klageverfahren vorgelegten Standard Operating Procedures (SOP) vom 11. Mai 2020 (dort insbesondere Nr. 18 ff., Nr. 26) haben dies nachträglich bestätigt. Dieses Vorgehen des Bundes hatte - systemkonform und sachangemessen - die Durchführung eines ergebnisoffenen Asylverfahrens auf der Grundlage einer asylverfahrensrechtlichen Aufenthaltsgestattung zum Ziel. Demgegenüber hätte die vom Kläger beabsichtigte humanitäre Aufnahme nach § 23 Abs. 1 AufenthG zur sofortigen Erteilung von längerfristigen, zunächst auf drei Jahre befristeten Aufenthaltserlaubnissen geführt, ohne dass eine Prüfung des Schutzbedarfs auch in Bezug auf das jeweilige Herkunftsland vorgesehen gewesen wäre. Einer ohne sachliche Gründe so grundlegend unterschiedlichen Rechtsstellung von Personen aus demselben griechischen Flüchtlingslager in Deutschland durfte das BMI wegen nicht hinreichender Wahrung der Bundeseinheitlichkeit durch Versagung seines Einvernehmens zu der Aufnahmeanordnung entgegentreten. [...]