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Zitieren als:
BVerwG, Entscheidung vom 25.05.2023 - 1 C 6.22 - asyl.net: M31550
https://www.asyl.net/rsdb/default-959c1616d7
Leitsatz:

Keine Ausweisung eines noch nie in Deutschland eingereisten Drittstaatsangehörigen:

1. Eine visumpflichtige drittstaatsangehörige Person, die sich noch nie in Deutschland aufgehalten hat, kann auf der Grundlage der §§ 53 ff. AufenthG nicht ausgewiesen werden.

2. Dem Zweck des Fernhaltens einer noch nie eingereisten Person wird durch die Grundkonzeption des Aufenthaltsgesetzes hinreichend Rechnung getragen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Interpol, Ausweisung, Familienzusammenführung, Einreise, Rechtsgrundlage, Visumsverfahren,
Normen: AufenthG §§ 53ff., AufenthG § 11, AufenthG § 5
Auszüge:

[...]

12 a) Die Ausweisung soll den weiteren Aufenthalt eines Ausländers im Inland verhindern. Sie gebietet ihm, das Inland zu verlassen, und verbietet ihm - jedenfalls nach bisheriger Rechtsprechung -, es erneut zu betreten (BVerwG, Urteil vom 7. Oktober 1975 - 1 C 46.69 - BVerwGE 49, 202 <207 f.>, Beschluss vom 9. September 1992 - 1 B 71.92 - Buchholz 402.22 Art. 32, 33 GK Nr. 7). Dabei gehört es nicht zu den tatbestandlichen Voraussetzungen der Ausweisung, dass sich der Ausländer bei Erlass der Ausweisungsverfügung noch im Bundesgebiet aufhält. Die Ausländerbehörde darf sich des Mittels der Ausweisung auch allein zu dem Zweck bedienen, den Ausländer vom Bundesgebiet fernzuhalten. Erfüllt der Ausländer einen Ausweisungsgrund, besteht Anlass für eine Gefahrenprognose und eine abwägende Ermessensentscheidung, bei der die für den Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet sprechenden Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind. Als ordnungsrechtliches Instrument muss die Ausweisung nicht nur in Fällen eines über einen längeren Zeitraum andauernden Aufenthalts, sondern namentlich auch dann zur Verfügung stehen, wenn der Ausländer grundsätzlich die Möglichkeit hat, wiederholt ein- und auszureisen und seinen Tätigkeiten in Deutschland anlässlich von Kurzaufenthalten nachzugehen (BVerwG, Urteil vom 31. März 1998 - 1 C 28.97 - BVerwGE 106, 302 <304, 306>, in dem die Frage der Zulässigkeit der Ausweisung eines noch nie eingereisten Ausländers ausdrücklich offengelassen wurde).

13 b) Darüber hinaus bieten die §§ 53 ff. AufenthG keine Rechtsgrundlage für die Ausweisung eines visumpflichtigen drittstaatsangehörigen Ausländers, der noch nie in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist und sich dort aufgehalten hat. Dies gilt auch dann, wenn der Ausländer im Ausland ein Ausweisungsinteresse verwirklicht hat und die Einreise in das Bundesgebiet beabsichtigt.

14 aa) Nach dem Wortlaut des § 53 Abs. 1 AufenthG als zentrale Norm des Ausweisungsrechts wird ein Ausländer ausgewiesen, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Diese Formulierung spricht für das Erfordernis eines vorherigen Aufenthalts. Der Begriff "Aufenthalt" enthält zwar keine zeitliche Dimension und kann einen vergangenen, aktuellen oder zukünftigen Aufenthalt erfassen. Die in der Abwägung zu berücksichtigenden "Interessen an der Ausreise" können allerdings nur bestehen, wenn sich der Ausländer im Inland aufhält oder aufgehalten hat und von dort ausreist. Noch deutlicher streiten die "Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet" für das Erfordernis eines vorherigen Aufenthalts.

15 bb) Dieser Befund wird durch die Systematik des Gesetzes gestützt. Nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind im Rahmen der Entscheidung über eine Ausweisung die Interessen an der Ausreise des Ausländers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet abzuwägen. Dabei sind gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG nach den Umständen des Einzelfalles neben seinen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bemühungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, den Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie dem rechtstreuen Verhalten die Dauer seines Aufenthalts zu berücksichtigen. Die Aufenthaltsdauer stellt damit einen erheblichen Abwägungsbelang im Rahmen der nach Maßgabe von § 55 AufenthG zu berücksichtigenden Bleibeinteressen dar. Schon die Bezeichnung als "Bleibeinteresse" deutet auf die Erforderlichkeit eines Voraufenthalts. Damit hat der Gesetzgeber die Verfestigung des Aufenthalts als Bleibeinteresse gesetzlich festgelegt und damit zu erkennen gegeben, dass sein Regelungskonzept der Ausweisung auf einem Voraufenthalt basiert und nicht auf Fälle erstreckt werden kann, in denen noch überhaupt kein Aufenthalt bestanden hat.

16 Auch die systematische Stellung der Ausweisungsvorschriften der §§ 53 ff. AufenthG in Abschnitt 1 "Begründung der Ausreisepflicht" und dort im Kapitel 5 "Beendigung des Aufenthalts" spricht ebenfalls für das Erfordernis eines Voraufenthalts, da ohne einen solchen eine Aufenthaltsbeendigung nicht möglich ist. Für einen nicht im Bundesgebiet aufhältigen Ausländer kann auch keine Verpflichtung zur Meldung bei polizeilichen Dienststellen nach § 56 Abs. 1 AufenthG bestehen, die es nur im Bundesgebiet gibt.

17 Eine Ausweisung ohne vorherigen Aufenthalt steht in systematischer Hinsicht auch nicht im Einklang mit § 11 Abs. 2 Satz 4 AufenthG, wonach die Frist für das gegen den ausgewiesenen Ausländer zu erlassende Einreise- und Aufenthaltsverbot mit der Ausreise beginnt. Dieser normative Anknüpfungspunkt zeigt, dass mit der gesetzlichen Systematik eine Ausweisung mit einem Inlandsaufenthalt verbunden ist. Die von der Beklagten für richtig gehaltene Festlegung des Fristbeginns auf den Zeitpunkt der Zustellung der Ausweisungsverfügung widerspricht dem eindeutigen Wortlaut von § 11 Abs. 2 Satz 4 AufenthG. [...]

20 Dem Zweck des Fernhaltens eines noch nie eingereisten visumpflichtigen Ausländers, der im Ausland Ausweisungsinteressen verwirklicht hat, wird vielmehr durch die Grundkonzeption des Aufenthaltsgesetzes hinreichend Rechnung getragen. Gemäß § 4 Abs. 1 AufenthG bedarf es für die Einreise und den Aufenthalt eines Ausländers im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels. Bei Vorliegen von Ausweisungsinteressen besteht eine Titelerteilungssperre (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG), die Einreise ohne den nach § 4 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel gilt als unerlaubt (§ 14 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) und ein Ausländer, der unerlaubt an den für eine legale Einreise allein zugelassenen Grenzübergangsstellen (§ 13 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) einreisen will, wird an der Grenze zurückgewiesen(§ 15 Abs. 1 AufenthG). Bei visumpflichtigen Drittstaatsangehörigen, die sich noch nie im Inland aufgehalten haben, drohen - anders als bei von der Visumpflicht befreiten oder uneingeschränkt einreiseberechtigten Ausländern - keine wiederholten Ein- und Ausreisen. Beabsichtigt ein Ausländer, bei dem Ausweisungsinteressen bestehen, konkret die Einreise in das Bundesgebiet, ist die Versagung des Visums mit der entsprechenden Eintragung in die Visadatei und das Visa-Informationssystem auf Grundlage von Art. 12 der Verordnung (EG) Nr. 767/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. Juli 2008 über das Visa-Informationssystem (VIS) und den Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt (VIS-Verordnung), das gemäß Art. 2 Buchst. e auch der Identifizierung von Personen dient, die die Voraussetzungen für eine Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder den dortigen Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllen, nach der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes das geeignete, erforderliche und angemessene Mittel zur Einreiseverhinderung, ohne dass es der Ausweisung bedarf. Die tatsächliche unerlaubte Einreise unter Verletzung der Visumpflicht vermag auch ein mit einer Ausweisung erlassenes Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht zu verhindern. [...]