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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 10.08.2000 - 2 BvR 260/98; 2 BvR - asyl.net: R7877
https://www.asyl.net/rsdb/R7877
Leitsatz:

Überspannung der Anforderungen an das Vorliegen politischer Verfolgung iSv GG Art 16a Abs 1 auf Grund einer zu eng gefassten Begrifflichkeit der quasi-staatlichen Verfolgung. (Amtlicher Leitsatz)

 

Schlagwörter: Afghanistan, Kommunisten, Bürgerkrieg, Gebietsgewalt, Quasi-staatliche Verfolgung, Verfolgungsbegriff, Auslegung
Normen: GG Art. 16a
Auszüge:

Das Bundesverwaltungsgericht hat den Beschwerdeführern Asylrecht auf Grund einer zu eng gefassten Begrifflichkeit für die Erscheinungsform der quasi-staatlichen Verfolgung versagt, die zudem letztlich politische mit staatlicher oder quasi-staatlicher Verfolgung vollkommen gleichsetzt; es hat damit die Anforderungen an das Vorliegen politischer Verfolgung im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG überspannt.

Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts ist eine Herrschaftsorganisation nur dann staatsähnlich und damit zu politischer Verfolgung fähig, wenn sie auf einer organisierten, effektiven und nach innen und außen stabilisierten territorialen Herrschaftsmacht beruht. Eine solche Gebietsherrschaft könne sich in einem andauernden Bürgerkrieg nicht etablieren, solange jederzeit und überall mit dem Ausbruch bewaffneter Auseinandersetzungen gerechnet werden müsse, die die Herrschaftsgewalt regionaler Macht grundlegend in Frage stellten. Mit diesem Ansatz misst das Bundesverwaltungsgericht dem Erfordernis einer auch nach außen dauerhaft stabilisierten (regionalen) Herrschaftsmacht ein Gewicht bei, das ihm verfassungsrechtlich nicht zukommt. Das Element der "Staatlichkeit" oder "Quasi-Staatlichkeit" von Verfolgung darf nicht losgelöst vom verfassungsrechtlichen Tatbestandsmerkmal des "politisch" Verfolgten betrachtet und nach abstrakten staatstheoretischen Begriffsmerkmalen geprüft werden. Es muss vielmehr in Beziehung gebracht gesetzt bleiben zu der Frage, ob eine Maßnahme den Charakter einer politischen Verfolgung im Sinne von Art. 16 a Abs. 1 GG aufweist, vor der dem davon Betroffenen Schutz gewährt werden soll.

Das Bundesverfassungsgericht hat betont, dass politische Verfolgung von einem Träger überlegener, in der Regel hoheitlicher Macht ausgeht, der der Verletzte unterworfen ist; politische Verfolgung sei somit grundsätzlich staatliche Verfolgung (vgl. BVerfGE 80, 315 333 f.>). Die Prüfung bestimmter staatstheoretischer Merkmale für die Annahme vorhandener oder neu entstehender Staatlichkeit kann mithin für die Beurteilung, ob Verfolgungsmaßnahmen die Qualität politischer Verfolgung haben, nicht schlechthin konstitutiv, sondern nur - wenn auch in gewichtiger Weise - indiziell sein. Maßgeblich für die Bewertung einer Maßnahme als politische Verfolgung ist, dass der Schutzsuchende einerseits in ein übergreifendes, das Zusammenleben in der konkreten Gemeinschaft durch Befehl und Zwang ordnendes Herrschaftsgefüge eingebunden ist, welches den ihm Unterworfenen in der Regel Schutz gewährt, andererseits aber wegen asylerheblicher Merkmale von diesem Schutz ausgenommen und durch gezielt zugefügte Rechtsverletzungen aus der konkreten Gemeinschaft ausgeschlossen wird, was ihn in eine ausweglose Lage bringt, der er sich durch die Flucht entziehen kann. Die Frage, ob in einer Bürgerkriegssituation nach dem Fortfall der bisherigen Staatsgewalt von einer Bürgerkriegspartei politische Verfolgung ausgehen kann, beurteilt sich folglich maßgeblich danach, ob diese zumindest in einem "Kernterritorium" ein solches Herrschaftsgefüge von gewisser Stabilität - im Sinne einer "übergreifenden Friedensordnung" (vgl. BVerfGE 80, 315 334 f.>) - tatsächlich errichtet hat. Dieser Maßstab wird verengt, wenn die Möglichkeit politischer Verfolgung bereits mit der Erwägung verneint wird, es fehle bei allen um die Macht in ganz Afghanistan fortwährend kämpfenden Bürgerkriegsparteien an einer dauerhaft verfestigten Gebietsherrschaft nach außen. Die anhaltende (äußere) militärische Bedrohung schließt das Bestehen eines staatsähnlichen Herrschaftsgefüges im Innern nicht zwingend aus. Je nach ihrer Stärke kommt einer solchen Bedrohung zwar erhebliches indizielles Gewicht für eine solche Annahme zu, das aber in dem Maße abnimmt, in dem der Bürgerkrieg ohne entscheidende Veränderung der Machtverhältnisse andauert.

Deshalb kann dem Bundesverwaltungsgericht auch nicht in der Annahme gefolgt werden, mit der Herausbildung staatsähnlicher, zu politischer Verfolgung fähiger Strukturen sei nur zu rechnen, "wenn die Bürgerkriegsparteien nicht mehr unter Einsatz militärischer Mittel mit der Absicht, den Gegner zu vernichten, und mit Aussicht auf Erfolg um die Macht im ganzen Bürgerkriegsgebiet kämpfen" (BVerfGE 105, 306 311>). Ein solches Erfordernis, das allein wegen des andauernden äußeren Bürgerkriegsgeschehens die Möglichkeit politischer Verfolgung auf unabsehbare Zeit ausschließt, verfehlt die für Art. 16 a Abs. 1 GG maßgebliche Frage nach der Beschaffenheit des Herrschaftgefüges im Innern des beherrschten Gebietes zwischen dem verfolgenden Machthaber und den ihm unterworfenen Verfolgten.