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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 15.02.2000 - 2 BvR 752/97 - asyl.net: R5995
https://www.asyl.net/rsdb/R5995
Leitsatz:

Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die fachgerichtliche Feststellung und Beurteilung des Charakters einer staatlichen Maßnahme, insbesondere des EInsatzes von Folter, als "politische Verfolgung" und an die Würdigung des Vorbringens eines Asylbewerbers zu seinen individuellen Verfolgungsgründen.

Schlagwörter: Türkei, Kurden, PKK, Sympathisanten, Newroz, Festnahme, Folter, Verfolgungsbegriff, Terrorismusbekämpfung, Politmalus, Interne Fluchtalternative, Herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Zukunftsprognose, Sachaufklärungspflicht
Normen: VwGO § 86 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die fachgerichtliche Feststellung und Beurteilung des Charakters einer staatlichen Maßnahme, insbesondere des Einsatzes von Folter, als "politische Verfolgung" und an die Würdigung des Vorbringens eines Asylbewerbers zu seinen individuellen Verfolgungsgründen.

Das Verwaltungsgericht hat die vom Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung unter Beweis gestellten Behauptungen dazu, daß er in der Türkei zweimal wegen Unterstützung der PKK verhaftet und sehr schwer mißhandelt worden sei, als wahr bzw. nicht widerlegbar unterstellt. Damit hat es im Rahmen des geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 86 Abs. 1 VwGO) seiner Entscheidung folgenden Sachverhalt zugrunde gelegt: Der Beschwerdeführer wurde zweimal auf die Wache gebracht und für drei bzw. fünf Tage festgehalten. Dort wurde er sehr schwer gefoltert, wobei die Folterungen bei der zweiten Festnahme sogar noch heftiger waren als bei der ersten. Den ihm gemachten Vorwurf der Unterstützung der PKK stritt er dabei ab.

Diese vom Beschwerdeführer geschilderten Maßnahmen hat das Verwaltungsgericht als asylrechtlich unerheblich qualifiziert. Die dazu angestellten Erwägungen stehen schon maßstäblich mit den oben dargelegten Grundsätzen, wonach solche Maßnahmen auch im Bereich des staatlichen Rechtsgüterschutzes politische Verfolgung sein können, nicht im Einklang.

Das Verwaltungsgericht hat unberücksichtigt gelassen, daß bereits die besondere Intensität der Verfolgungsmaßnahme ein sonstiger Umstand sein kann, der darauf schließen läßt, daß es sich um Maßnahmen politischer Verfolgung - wenngleich unter dem Deckmantel angeblicher "Terrorismusbekämpfung" bzw. "gerechtfertigt" als "ordnungsrechtliche Maßnahmen" - handeln kann (BVerfGE 80, 315 339>). Im Sinne "sonstiger Umstände" können neben der dem Beschwerdeführer zugefügten besonders extremen menschenrechtswidrigen Behandlung zudem bereits das zweimalige Auftreten solcher Vorkommnisse, deren schikanöse Tendenz und schließlich auch das Ausbleiben gesetzlich vorgesehener strafrechtlicher Konsequenzen Anhaltspunkte für eine politische Gerichtetheit der Verfolgungsmaßnahmen ergeben. Das Vewaltungsgericht hat die vom Beschwerdeführer erlittenen besonders schweren Folterungen - ohne erkennbare Würdigung der gegebenen besonderen Umstände - als ordnungsrechtliche Maßnahmen aufgrund konkreter Verdachtsmomente zur Terrorismusbekämpfung beurteilt und damit zu Unrecht ohne Weiteres als nicht asylbegründend erachtet.

Das Verwaltungsgericht ist auch der Frage, ob die dem Beschwerdeführer widerfahrenen staatlichen Maßnahmen härter als diejenigen zur Verfolgung ähnlicher - nicht politischer - Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit und deshalb asylrelevant (vgl. BVerfGE 80, 315 338>) gewesen sein könnten, nicht nachgegangen. Es hat den ihm eröffneten fachgerichtlichen Wertungsrahmen dadurch, daß es eine solche Prüfung - wie auch die insoweit gebotene weitere Sachaufklärung - unterlassen hat, verkannt. Es ist dem Urteil insoweit weder zu entnehmen, daß es sich bei den vom Beschwerdeführer geschilderten Maßnahmen um "übliche" Foltermaßnahmen gehandelt hätte, die so auch bei der Verfolgung nicht politischer Straftaten von vergleichbarer Gefährlichkeit in der Türkei ergriffen worden wären, noch daß hierzu die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen worden sind.

Der die Urteilsgründe insoweit einleitende Verweis auf den Bundesamtsbescheid, wonach die weit verbreitete Mißhandlung von Personen im türkischen Polizeigewahrsam als Folge von Tradition und Geisteshaltung anzusehen sei und sowohl gewöhnliche strafrechtliche Verdächtige, als auch Personen betreffen könne, die im Rahmen von Ermittlungen nach dem Anti-Terror-Gesetz verhaftet würden, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Der Bundesamtsbescheid befaßt sich an dieser Stelle nur allgemein mit Mißhandlungen im Polizeigewahrsam, nicht jedoch mit schweren Folterungen. Es fehlt bereits an einem Anhaltspunkt dafür, daß damit zum Ausdruck gebracht werden sollte, auch für gewöhnliche Straftäter seien so schwere Folterungen, wie sie der Beschwerdeführer geschildert hat, im türkischen Polizeigewahrsam an der Tagesordnung. Ferner fehlt eine Begründung, die erkennen ließe, aufgrund welcher tatsächlichen Grundlage das Bundesamt zu einer solchen Erkenntnis für gewöhnliche Straftäter gelangt sein könnte.

Da es sich bei den vom Beschwerdeführer geschilderten schweren Mißhandlungen nach dem objektiven Geschehensablauf jedenfalls auch um Akte politischer Verfolgung handeln kann und der Beschwerdeführer dies auch als Verfolgung aus politischen Gründen erlebt hat, wäre es Sache des Verwaltungsgerichts gewesen, dem näher nachzugehen. Das Verwaltungsgericht hat dies unterlassen und damit auch gegen seine vom Asylgrundrecht umfaßte Sachaufklärungspflicht verstoßen.

Der sich schon aus § 86 Abs. 1 S. 1 VwGO ergebenden umfassenden Verpflichtung des Gerichts, von Amts wegen jede mögliche Aufklärung des Sachverhalts bis hin zur Grenze der Zumutbarkeit zu versuchen, kommt vorliegend im Hinblick auf Art. 16 a GG verfassungsrechtliches Gewicht zu. Die Darlegungs- und Mitwirkungspflicht des Asylbewerbers wäre überspannt, würde man von ihm verlangen, eine unterschiedliche Behandlung im Rahmen polizeilicher Maßnahmen bei der Strafverfolgung und -vollstreckung von politisch Verfolgten einerseits und (sonstigen) Straftätern andererseits von sich aus darzutun. Solange sich insoweit ein "Politmalus" bei solchen Verfolgungsmaßnahmen nicht von vornherein ausschließen läßt, ist es Sache des Gerichts, den Sachverhalt, soweit ihm Entscheidungserheblichkeit zukommt, auch tatsächlich in einer der Bedeutung des Asylgrundrechts entsprechenden Weise aufzuklären. Hierzu bestand vorliegend insbesondere deshalb Anlaß, weil auch das hier zuständige Niedersächsische Oberverwaltungsgericht u.a. von einer im Vergleich zu sonstigen Straftätern häufigeren und härteren Mißhandlung solcher Häftlinge im türkischen Polizeigewahrsam ausgeht, denen eine staatsfeindliche Gesinnung zugeschrieben wird.