OVG Nordrhein-Westfalen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 05.05.1999 - 9 A 4671/98.A - asyl.net: R3362
https://www.asyl.net/rsdb/R3362
Leitsatz:

Anspruch eines irakischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit auf Anerkennung als Asylberechtigter; Begriff der politischen Verfolgung.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Irak, Kurden, Haft, Folter, PUK, Mitglieder, Peshmerga, Wehrdienstentziehung, Gruppenverfolgung, Nordirak, Gebietsgewalt, Verfolgung durch Dritte, Mittelbare Verfolgung, KDP, Nachfluchtgründe, Subjektive Nachfluchtgründe, Antragstellung als Asylgrund, Illegale Ausreise, Interne Fluchtalternative, Verfolgungssicherheit, Existenzminimum, Bewaffnete Auseinandersetzungen, Reisewege
Normen: GG Art. 16a; AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Für den Zeitraum ab Oktober 1991 bis zur Ausreise des Klägers im August 1997 fehlt es an einer effektiven Gebietsgewalt der irakischen Zentralregierung (und der Kurdenorganisationen) in den kurdischen Autonomiegebieten und drohte auch die (Wieder-) Errichtung einer zentralirakischen Gebietsgewalt nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit; dies schließt allerdings eine staatliche Verfolgung durch die irakische Zentralmacht in den genannten Gebieten noch nicht gänzlich aus...

Auf der Grundlage der verfügbaren Erkenntnismittel kann nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, daß der irakische Geheimdienst durch seine Agenten und Spitzel auch nach dem Rückzug der irakischen Truppen aus den kurdischen Autonomiegebieten im Oktober 1991 dort tätig war (und ist) und auch - vereinzelt -, etwa durch Bombenanschläge, Hinrichtungen und Vergiftungen, die physische Vernichtung von Menschen betrieben hat....

Von dessen Aktivitäten sind aber allenfalls exponierte Vertreter der kurdischen Gruppen, höherrangige Funktionäre und/oder Militärs betroffen. Hinzukommen als potentielle Anschlagsopfer örtliche kurdische Mitarbeiter der westlichen Hilfsorganisationen oder der UN, da diese Organisationen grundsätzlich der Spionage verdächtigt und - nicht zuletzt wegen der der zentralirakischen Destabilisierungspolitik widersprechenden Unterstützung der Kurden - als Feind angesehen werden...

Zu dem danach allenfalls gefährdeten Personenkreis gehört der Kläger weder im Hinblick auf seine behauptete Wehrdienstentziehung noch unter Berücksichtigung des Umstandes, daß er PUK-Peshmerga gewesen sein will, oder angesichts der Stellung eines Asylantrages in Verbindung mit einer ggf. "illegalen" Ausreise. Der Kläger ist seine Behauptung, er habe als PUK-Peshmerga seit 1998 bis zu seiner Ausreise an PUK-Versammlungen teilgenommen und Zeitungen verteilt, trotz seiner Aussage, in den letzten Jahren seien die Kontakte zur PUK sehr schwach gewesen und man habe nichts mehr tun können, als wahr unterstellt - weder in der erforderlichen Art und Weise exponiert als politischer Führer der PUK tätig gewesen noch hat er die Innehabung einer höherrangigen militärischen Funktion innerhalb der PUK-Peshmerga auch nur ansatzweise geltend gemacht. Referenzfälle über irakische Geheimdienstaktivitäten auch gegenüber einfachen PUK-Kämpfern sind selbst im Rahmen des irakischen Truppeneinmarsches Ende August 1996 in die kurdischen Autonomiegebiete nicht bekannt geworden. Erst recht gilt dies für schlichte Wehrdienstflüchtlinge sowie die zahlreichen Asylantragsteller und "illegal" aus dem Nordirak Ausgereisten.

Dem hiernach unverfolgt ausgereisten Kläger droht im Falle seiner Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine landesweite staatliche Verfolgung. Dabei kann dahinstehen, ob er etwa in den von der irakischen Zentralmacht beherrschten Gebieten wegen seiner angeblichen Wehrdienstentziehung im Jahr 1989, der Asylantragstellung einer ggf. "illegalen" Ausreise und/oder seiner behaupteten - Tätigkeit als PUK-Peshmerga einer staatlichen Verfolgung ausgesetzt wäre, weil er jedenfalls auf die autonomen Kurdengebiete in den provinzen Dohuk, Erbil und Sulaimaniya verwiesen werden kann. Diese genügen auch bei der Zugrundelegung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes den Anforderungen, die an eine die Asylanerkennung ausschließende inländische Fluchtalternaitve zu stellen sind...

Die danach für den Kläger verfolgungsfreien und auch im übrigen unzumutbare existenzielle Gefahren und Nachteile nicht aufweisenden Landesteile im Norden Iraks sind für ihn auch ohne weiteres zu erreichen. Um das Gebiet der inländischen Fluchtalternative zu erreichen und etwa nach Zacho oder in die Provinz Sulaimaniya zu gelangen, muß der Kläger das zentralirakische Herrschaftsgebiet nicht durchqueren; er kann vielmehr unmittelbar über die türkische bzw. die iranische Grenze in den Nordirak und die kurdischen Autonomiegebiete in den Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaimaniya einreisen. Die Frage einer gefährdungsfreien Reise bis zum Heimatstaat Irak, d.h. im vorliegenden Falle, die Möglichkeit, von der Bundesrepublik Deutschland bis zur offenen türkischen bzw. iranischen Grenze zum Nordirak und zu den dortigen Grenzübergängen ... zu gelangen, betrifft im Grundsatz die Art und Weise der Durchsetzung der Verwaltungsvollstreckung ( § 55 Abs. 2, Abs. 4 S. 1 AuslG) und vermag lediglich im Ausnahmefall ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG in verfassungskonformer Auslegung zu begründen. Für die Frage des bestehens einer inländischen Fluchtalternative ist die Erreichbarkeit des Heimatstaates damit ohne Bedeutung.