VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 12.03.2007 - 4 K 1357/05.A - asyl.net: M9901
https://www.asyl.net/rsdb/M9901
Leitsatz:
Schlagwörter: Sri Lanka, Tamilen, Erlöschen, Flüchtlingsanerkennung, Passausstellung, Schutzunterstellung, Nationalpass, Asylbewerber, Folgeantrag, Änderung der Sachlage, Änderung der Rechtslage, Anerkennungsrichtlinie, Sicherheitslage, Narben, Menschenrechtslage, Zwangrekrutierung, Kindersoldaten, politische Entwicklung, Colombo, interne Fluchtalternative, LTTE, Grenzkontrollen, Situation bei Rückkehr, Festnahme, Kostenrecht, Kosten, Kostenentscheidung, teilweise Klagerücknahme, Streitwert, Flüchtlingsanerkennung
Normen: AsylVfG 72 Abs. 1 Nr. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10; VwGO § 155 Abs. 2; VwGO § 155 Abs. 1; RVG § 30
Auszüge:

Der Kläger hat einen Anspruch auf Durchführung eines Folgeverfahrens (1) sowie auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (2).

1) Die geänderte Sachlage ergibt sich aus dem Geschehensverlauf der sich seit 2005 zu verzeichnenden Verschlechterung der Sicherheitslage in Sri Lanka. Die Geltendmachung dieser Umstände, die der Kläger rechtzeitig innerhalb der nach § 51 Abs. 3 VwVfG laufenden Dreimonatsfrist vorgetragen hat, ist auch nicht von vornherein unschlüssig. Auch die vorgetragene günstige Rechtsänderung im Hinblick auf die seit dem 11.10.2006 unmittelbar wirkende Qualifikationsrichtlinie stellt eine beachtliche, für den Kläger günstige Änderung dar.

2) Die Erfolgsprüfung führt im Falle des Klägers zu dem Ergebnis, dass er schutzbedürftig ist und es deshalb verboten ist, ihn nach Sri Lanka abzuschieben.

a) Der Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG steht nicht bereits die Tatsache entgegen, dass der Kläger am 25.08.2006 vom srilankischen Generalkonsulat einen neuen Reisepass erhalten hat. Damit besteht kein rechtliches Hindernis für die hier begehrte Verpflichtung.

§ 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG sieht lediglich vor, dass die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, erlöschen, wenn der Ausländer sich freiwillig durch Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses erneut dem Schutz des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, unterstellt. Die Vorschrift ist weder direkt noch analog auf Fälle wie den hier vorliegenden anzuwenden, dass der Ausländer sich noch im Asylverfahren bzw. Asylklageverfahren befindet und den Status des Asylberechtigten bzw. vor Abschiebung Geschützten noch nicht erreicht hat. Es besteht insoweit weder eine Regelungslücke noch eine vergleichbare Interessenlage. Während ein Asylberechtigter einen Reiseausweis erhält, mit dem er auch zu Reisen außerhalb der Bundesrepublik Deutschland berechtigt ist, und deshalb eines Nationalpasses nicht mehr bedarf, erhält der Asylbewerber nur eine Bescheinigung, die nicht zum Grenzübertritt berechtigt, sodass der Asylbewerber, der mit der Ablehnung des Asylantrages rechnen muss, weiterhin ein berechtigtes Interesse an einem gültigen Reisepass hat, der es ihm im Fall der Ablehnung erlaubt, in ein Drittland weiterzureisen oder ohne Schwierigkeiten in sein Heimatland zurückzukehren (vgl. GK-AsylVfG/Schäfer, § 72 AsylVfG Rn. 12 m.w.N.).

Zudem liegt hier auch keine freiwillige erneute Unterschutzstellung durch Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses vor. Nicht jeder Kontakt des Ausländers zu Behörden seines Heimatstaates führt zum Erlöschen der Rechtsstellung als Asylberechtigter bzw. Flüchtling. Dies ist vielmehr erst dann der Fall, wenn der Ausländer die rechtlichen Beziehungen zu seinem Heimatstaat dauerhaft wiederherstellt, indem er sich den diplomatischen Schutz gleichsam auf Vorrat sichert, ohne dass die Erledigung bestimmter administrativer Angelegenheiten ihn hierzu nötigt. Einer Passausstellung kommt eine Indizwirkung dahin zu, dass sich der Betreffende wieder unter den Schutz seines Heimatstaates stellen will. Jedoch kann der äußere Geschehensablauf dieser Indizwirkung entgegenstehen. Lassen sich aus dem Verhalten des Ausländers Anhaltspunkte dafür ableiten, dass mit seiner Handlung keine Wiedererlangung des vollen diplomatischen Schutzes bezweckt war, fehlt es an der subjektiven Voraussetzung des Erlöschens der Asylberechtigten- bzw. Flüchtlingsstellung (vgl. zu allem GK-AsylVfG/Schäfer, § 72 AsylVfG Rn. 17 m.w.N.; Hailbronner, AuslR § 72 AsylVfG Rn. 7 ff.; Renner, AuslR § 72 AsylVfG Rn. 16 ff.). Das ist etwa der Fall, wenn die Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses erfolgt, weil sie erforderlich ist, um Amtshandlungen von Behörden der Bundesrepublik Deutschland vornehmen zu lassen oder vorzubereiten (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.12.1997 - 11 S 2193/97 - JURIS). Im Fall des Klägers liegt keine dauerhafte Wiederherstellung der rechtlichen Beziehungen zum Staat Sri Lanka vor. Er hat es mit der Beantragung und Entgegennahme eines neuen Reisepasses bewenden lassen. Den Pass benötigte er nach seiner in der mündlichen Verhandlung dargelegten Überzeugung für den Erhalt des Sorgerechtes für sein deutsches Kind und wohl auch für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis durch die Bremer Ausländerbehörde. Ob beides rechtlich zwingend das Vorhandensein eines Passes voraussetzte, kann hier dahinstehen. Maßgeblich sind die subjektive Vorstellung beim Kläger und seine darauf beruhende Willensentschließung, einen Pass hierfür zu benötigen und dann auch zu beschaffen. Es ist hingegen nicht erkennbar, dass der Kläger mit seinem Vorgehen den vollen diplomatischen Schutz Sri Lankas wiedererlangen wollte.

Aus dem bei der Prüfung eines Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 1 AufenthG zugrunde zu legenden Art. 1 C. Nr. 1. GFK (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) folgt ebenfalls nicht, dass hier die Passbeschaffung der Zuerkennung des Abschiebungsschutzes entgegensteht.

b) Dem Kläger droht nach den Erkenntnissen des Gerichts bei Rückkehr nach Sri Lanka mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine vom srilankischen Staat ausgehende Verfolgung und damit zugleich eine erhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung i.S. der in Art. 9 Abs. 1 lit. a der Qualifikationsrichtlinie in Bezug genommenen grundlegenden Menschenrechte (cc). Dies folgt für den Kläger aus dem Vorliegen individueller Besonderheiten - der dem Gericht in der mündlichen Verhandlung auffälligen Narben an Handgelenken, Fingern, am Kinn, an den Knien und Unterschenkeln sowie am rechten Knöchel (bb) sowie der aktuell dramatisch verschlechterten Sicherheitslage (aa).

aa)Die allgemeine Sicherheitslage in Sri Lanka stellt sich nach Auswertung der dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen wie folgt dar:

aaa)Nach den Lageberichten Sri Lanka vom 10.12.2005, 27.07.2006 und 11.12.2006 des Auswärtigen Amtes - AA - sowie dessen Ad-hoc-Information über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Sri Lanka vom 31.01.2007 ergibt sich folgendes: (...)

Seit der Eskalation der Gewalt im November 2005 verschlechterte sich die Menschenrechtslage drastisch, besonders im Norden und Osten des Landes.

Trotz vermehrter polizeilicher Kontrollen der tamilischen Bevölkerung in Colombo sowie Fahrzeug- und Wohnungsdurchsuchungen war die tamilische Bevölkerung im Regierungsgebiet noch bis ins Jahr 2006 hinein gut integriert und konnte am öffentlichen Leben weitgehend unbehindert teilnehmen. Allerdings kam es in jüngster Vergangenheit zu einer Vielzahl von Festnahmen von Tamilen, insbesondere wenn sie sich bei Personenkontrollen durch Armee oder Polizei nicht ausweisen konnten und deshalb zur Identitätsüberprüfung in Polizeigewahrsam genommen wurden. Die meisten der derart Festgenommenen wurden nach wenigen Tagen wieder freigelassen. In Colombo gibt es über die ganze Stadt verteilt Kontrollpunkte, an denen verdächtige Personen - in erster Linie Tamilen - angehalten, kontrolliert und bei Vorliegen auch nur vager Verdachtsmomente willkürlich und ohne Rechtsgrundlage festgenommen werden.

Im Dezember 2006 wurden teilweise die repressiven Anti-Terror-Gesetze wieder eingeführt.

bbb) Die Schweizerische Flüchtlingshilfe berichtet in der Dokumentation "Asylsuchende aus Sri Lanka" vom 01.02.2007 unter Hinweis auf weitere Quellen wie folgt:

Die LTTE wie auch die von staatlicher Seite unterstützte Karuna-Gruppe rekrutieren weiterhin in den unter ihrer Kontrolle stehenden Gebieten Kinder und Jugendliche auch unter Zwang für ihre Streitkräfte. Personen, die für die LTTE tätig waren, LTTE-Deserteure und der Spionage für die LTTE verdächtige Personen müssen mit Verfolgung, Verhaftung, Folter bis hin zu extralegaler Tötung seitens srilankischer Sicherheitskräfte rechnen.

ccc)Der UNHCR ergänzt in seiner Stellungnahme von Januar 2007 zum Bedarf an internationalem Schutz von Asylsuchenden aus Sri Lanka:

Die Sicherheitslage hat sich seit Januar 2006 drastisch verschlechtert. Beide Konfliktparteien beziehen bewusst die Zivilbevölkerung in den bewaffneten Konflikt mit ein. Es werden Vertreibungen in großem Umfang festgestellt. Vor zielgerichteter Gewalt und Menschenrechtsverletzungen der LTTE gibt es in Anbetracht der Reichweite der Verfolgungsmaßnahmen der LTTE und des Unvermögens der staatlichen Behörden, Schutz zu garantieren, keine realistische interne Fluchtalternative. Gleiches gilt für Personen, die vor zielgerichteter Gewalt und Menschenrechtsverletzungen seitens der staatlichen Behörden oder paramilitärischer Gruppen fliehen.

bb) Der Kläger hat mehrere Narben, wie oben dargelegt wurde. Die Kammer konnte sich hiervon in der mündlichen Verhandlung überzeugen. Die Narben sind nicht zu übersehen. Das Auswärtige Amt hat aufgrund der Nachfrage der erkennenden Kammer im Verfahren 4 K 1500/05 mit Schreiben vom 08.02.2007 mitgeteilt, dass eine Verfolgung aufgrund des Vorhandenseins von Narben nicht auszuschließen sei, ohne eine weitere Differenzierung hinsichtlich der Art der Narben und der Stelle ihres Vorhandenseins am Körper vorzunehmen.

cc) Übertragen auf den Fall des Klägers bedeutet die deutlich verschlechterte Sicherheitslage in Sri Lanka im Zusammentreffen mit seiner individuellen Lage, die gemäß Art. 4 Abs. 3 lit. c der Qualifikationsrichtlinie zu berücksichtigen ist, dass ihm als Mann tamilischer Volkszugehörigkeit, der von seinem Alter her von den Sicherheitskräften in die Nähe der kämpfenden LTTE gebracht werden könnte, weil er mehrere deutlich sichtbare Narben am Körper trägt, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung droht. Es kommt dabei nicht darauf an, wodurch der Kläger sich die Narben zugezogen hat.

Es ist danach beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei Einreise über den Flughafen Colombo den Sicherheitskräften bereits wegen seiner Narben und seiner LTTE-rekrutierungsfähigen persönlichen Eigenschaften auffällt. Er dürfte zunächst festgenommen oder zumindest einer eingehenden Überprüfung seiner Person unterzogen werden. Wie lange er festgesetzt würde bzw. eine "Überprüfung" dauern würde, ist ungewiss. Angesichts des Zusammenbruchs jeglicher Rechtsschutzmöglichkeiten stellt ein solcher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartender Eingriff in seine Freiheit und möglicherweise in sein Leben und seine körperliche Unversehrtheit eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung i.S.d. Kapitel I II und III der Qualifikationsrichtlinie bzw. des § 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 33 GFK dar. Angesichts der ausschließlichen Möglichkeit einer Rückführung über Colombo, aber auch angesichts der im ganzen Land und auf den Ausfallstraßen von Colombo bestehenden zahlreichen Kontrollstellen mit intensiver Personenüberprüfung ergibt sich aufgrund der oben dargestellten derzeitigen Verhältnisse in Sri Lanka auch keine inländische Fluchtalternative im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts.

III)) Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Obwohl der Kläger den auf die Asylanerkennung nach Art. 16a GG gerichteten Teil der Klage zurückgenommen hat, muss die Beklagte die gesamten Verfahrenskosten tragen. Die Kostenregelung des § 155 Abs. 2 VwGO, die vorsieht, dass derjenige, der eine Klage zurücknimmt, die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, wirkt sich bei der vorliegenden teilweisen Klagrücknahme gem. § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO nicht aus (vgl. für den Fall der übereinstimmenden teilweisen Hauptsacheerledigung bezüglich Abschiebungsandrohung und Klage auf Aufenthaltserlaubnis BVerwG, Urt. v. 29.11.1988 -1 C 75/86 -, NVwZ 1989, 765, 768 m. w. N.). Grundsätzlich gilt § 155 Abs. 2 VwGO für den von der Rücknahme betroffenen Teil. Vorliegend führt dies jedoch nicht zu einer teilweisen Kostenlast des Klägers, da der zurückgenommene Antrag sich hier nicht gegenstandswerterhöhend ausgewirkt hat. Der Gegenstandswert von 3000,00 Euro hat sich durch die teilweise Klagrücknahme nicht verringert. Nach der geänderten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist auch für Klageverfahren, die nicht die Asylanerkennung, sondern nur die Anerkennung als Konventionsflüchtling nach § 60 Abs. 1 AufenthG (ggf. einschließlich weiterer nachrangiger Schutzbegehren) zum Gegenstand haben, nunmehr ein Gegenstandswert von 3000,-- Euro anzusetzen (BVerwG, Beschl. v. 21.12.2006 - 1 C 29/03 - = JURIS), wenn auf sie die Rechtslage ab dem 01. Januar 2005 (§ 30 RVG) anwendbar ist.