OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 09.10.2006 - 1 B 282/06 u.a. - asyl.net: M9896
https://www.asyl.net/rsdb/M9896
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Duldung, Umverteilung, räumliche Beschränkung, örtliche Zuständigkeit, Ausländerbehörde, gewöhnlicher Aufenthalt, freiwillige Ausreise, Schutz von Ehe und Familie, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, Unterzeichnerstaat, Kroatien, Staatsangehörigkeit ungeklärt, Serbien, Kosovo, UNMIK, Roma, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2; VwVfG § 3 Abs. 1 Nr. 3a; SGB I § 30 Abs. 3 S. 2; GG Art. 6; EMRK Art. 8
Auszüge:

Die Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Ablehnung der beantragten einstweiligen Anordnung richtet, zulässig, aber nur zum Teil begründet.

5. Die Antragstellerinnen haben keinen Anspruch darauf, dass ihnen die Antragsgegnerin eine Duldung nach § 60a Abs. 2 und 4 AufenthG für das Land Bremen ausstellt.

a. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. zuletzt den Beschluss vom 12.01.2006 - 1 A 290/05 - NordÖR 2006, 175) ist die Ausländerbehörde, in deren Bezirk sich der Ausländer tatsächlich aufhält, für die Entscheidung über ein Duldungsbegehren örtlich unzuständig, wenn der Aufenthalt des Ausländers zuletzt auf den Bezirk einer anderen Ausländerbehörde räumlich beschränkt war, die ihm eine Duldung erteilt hat oder hatte, und der Ausländer die - auch über das Ende der Duldung hinaus fortdauernde - räumliche Beschränkung missachtet. Durch die räumliche Beschränkung wird der Ausländer nämlich gehindert, in einem anderen Bezirk seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu nehmen, der Voraussetzung für die örtliche Zuständigkeit der Ausländerbehörde ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 3a BremVwVfG, § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I; vgl. dazu auch die stRspr des BVerwG seit BVerwGE 80, 313). Das gilt nach der Rechtsprechung des Senats und einiger anderer Oberverwaltungsgerichte (vgl. OVG Mecklenburg-Vorpommern, NordÖR 1999, 74 und 2001, 73; OVG Berlin, NVwZ-Beilage I 2001, 20; ThürOVG, InfAuslR 2004, 336) - jedenfalls im Grundsatz - auch dann, wenn der Ausländer eine Änderung dieser räumlichen Beschränkung und die Zuweisung in den Bezirk einer anderen Ausländerbehörde begehrt.

Ob von diesem Grundsatz entsprechend der Rechtsprechung einiger anderer Oberverwaltungsgerichte (vgl. HessVGH, InfAuslR 1996, 360; NdsOVG, NVwZ-Beilage I 2003, 22; SächsOVG, InfAuslR 2004, 341; OVG Hamburg, NordÖR 2004, 344 und 2006, 315; BayVGH, Beschl. v. 13.10.2005 - 24 ZB 05.1954 <juris>; mit abweichender Begründung im Ergebnis ebenso OVG Nordrhein-Westfalen, InfAuslR 2006, 64) ausnahmsweise dann abzuweichen ist, wenn "zwingende Gründe", etwa der Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 und 2 GG, für einen Ortswechsel des Ausländers sprechen, hat der Senat in seiner bisherigen Rechtsprechung offen lassen können. Die Frage, ob ein materieller Rechtsanspruch in diesen Fällen die örtliche Zuständigkeit begründet (vgl. OVG Hamburg, NordÖR 2006, 315 <316>), bedarf auch in diesem Verfahren keiner Entscheidung, denn solche zwingenden Gründe liegen hier nicht vor.

Die Notwendigkeit, im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 und 2 GG eine Duldung für das Land Bremen zu erteilen, kann nur dann bestehen, wenn Ehepartner oder Eltern und ihre minderjährigen Kindern andernfalls voneinander getrennt leben müssten und ihnen eine solche Trennung auch vorübergehend, d. h. für die voraussichtliche Dauer der Duldung, nicht zuzumuten ist. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die in einer Lebensgemeinschaft verbundenen Eltern des Kindes verheiratet sind oder nicht, denn die Beziehung der nicht verheirateten Eltern untereinander fällt, auch wenn Art. 6 Abs. 1 GG für sie nicht gilt, jedenfalls in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK (stRspr des EGMR, vgl. z.B. NJW 1995, 2153 (Keegan/Irland); weitere Nachweise bei Marauhn, in: Heselhaus/Nowak <Hg.>, Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 19 Rn 19).

b. Eine solche Notwendigkeit besteht regelmäßig dann nicht, wenn es den Familienangehörigen möglich ist, die Familieneinheit im Ausland herzustellen.

Wie das Bundesverwaltungsgericht (InfAuslR 1999, 330 <331>) zutreffend ausgeführt hat, ist die Bundesrepublik Deutschland aufgrund des Art. 8 EMRK nicht ohne weiteres verpflichtet, ausländischen Ehegatten (oder anderen Familienangehörigen) verschiedener Staatsangehörigkeit, von denen - wie hier - keiner ein Bleiberecht in Deutschland hat oder jemals hatte und die beide ausreisepflichtig sind, die Führung der ehelichen (oder familiären) Lebensgemeinschaft in Deutschland zu ermöglichen, indem zumindest von einer Abschiebung abgesehen wird, solange die Heimatstaaten nicht dem jeweils anderen Ehegatten (oder Familienangehörigen) den Aufenthalt gestatten. Ist auch der Heimatstaat an Art. 8 EMRK gebunden, ist es in erster Linie Sache der Ausländer, den daraus resultierenden Anspruch auf Herstellung der Familieneinheit gegenüber dem Heimatstaat durchzusetzen, selbst wenn damit eine zeitweise Trennung der Familienangehörigen verbunden sein sollte.

Im Falle der Antragstellerin zu 1. muss aber nach der Mitteilung der Landkreises E. an das Oberverwaltungsgericht und nach den Ausführungen des Landkreises E. in dem Bescheid vom 06.07.2005 über die Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis angenommen werden, dass - jedenfalls gegenwärtig und auf absehbare Zeit - auch eine freiwillige Ausreise nach Kroatien nicht möglich ist. Die Abschiebung der Antragstellerin zu 1. ist nämlich in der Vergangenheit daran gescheitert, dass die Republik Kroatien nicht bereit war, die Antragstellerin zu 1. aufzunehmen. Nach Art. 2 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Kroatien über die Rücknahme von Personen (Rückübernahmeabkommen) vom 25.04.1994 (abgedruckt in: Huber <Hg.>, Handbuch des Ausländerrechts, A 778) ist Kroatien zur Aufnahme verpflichtet, wenn die kroatische Staatsangehörigkeit nachgewiesen oder glaubhaft gemacht wird. Diese Bestimmung findet nach Art. 2 Abs. 4 des dazu vereinbarten Protokolls (abgedruckt bei Huber <Hg.>, a.a.O.) entsprechende Anwendung auf ehemals jugoslawische Staatsangehörige, die vor ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ihren Wohnsitz in der Republik Kroatien hatten. Anders als die deutschen Ausländerbehörden sehen die kroatischen Behörden diese Voraussetzungen offenbar nicht als gegeben an.

Herrn K. dürfte zwar die freiwillige Ausreise in den Kosovo mit Hilfe eines EU-Laissez-Passer möglich sein. Zugunsten der Antragsgegnerin mag auch unterstellt werden, dass die freiwillige Ausreise von Roma in den Kosovo trotz des bestehenden Abschiebestops grundsätzlich zumutbar ist (vgl. in diesem Sinne NdsOVG, ZAR 2006, 31; OVG Nordrhein-Westfalen, NVwZ-RR 2006, 576). Es kann jedoch nicht mit hinreichender Sicherheit prognostiziert werden, dass es Herrn K. von dort aus gelingen würde, die Antragstellerinnen in absehbarer Zeit nachzuholen und die Familieneinheit nach vorübergehender Trennung wiederherzustellen. Zwar sind die Verwaltungsbehörden der UNMIK im Kosovo angewiesen, bei ihrer Tätigkeit neben anderen international anerkannten Menschenrechtsstandards auch die der EMRK anzuerkennen (Sec. 1.3 UNMIK/Reg/2000/59 <27 October 2000>: abrufbar unter www. unmikonline.org/regulations/2000/re2000_59.htm). Es fehlt jedoch an einem Durchsetzungsmechanismus der entsprechenden Rechte gegenüber der internationalen Verwaltung, die Immunität genießt (Sec. 3 UNMIK/Reg/2000/47 <18 August 2000>; abrufbar www.unmikonline.org/regulations/2000/ reg47-00.htm). Die Möglichkeit der Durchsetzung der Ansprüche aus Art. 8 EMRK im Heimatland, auf die das Bundesverwaltungsgericht in dem zitierten Beschluss verweist, ist im Fall von Herrn K. daher gegenwärtig zumindest fraglich. Die Herstellung der Familieneinheit im Kosovo ist deshalb in absehbarer Zeit nicht gesichert.

c. Die Notwendigkeit, die Familieneinheit im Lande Bremen zu ermöglichen, besteht aber auch dann nicht, wenn sie anderswo innerhalb der Bundesrepublik Deutschland herbeigeführt werden kann.

Eine gesetzliche Regelung, die Herrn K. einen Anspruch auf Beseitigung dieses Hindernisses und Duldung in Niedersachsen geben könnte, gibt es im Aufenthaltsrecht ebenso wenig wie es sie umgekehrt für einen Anspruch der Antragstellerinnen auf eine Duldung in Bremen gibt. § 15a AufenthG, der die Verteilung und den - auf die Verteilung anzurechnenden - nachträglichen Ortswechsel unerlaubt eingereister und geduldeter Ausländer unter Berücksichtigung familiärer und anderer zwingender Gründe regelt, gilt nicht zugunsten von Herrn K., weil er vor dem 01.01.2005 eingereist ist (vgl. § 15a Abs. 6 AufenthG). Eine dem § 15a AufenthG entsprechende Regelung für Altfälle gibt es nicht. Auch eine länderübergreifende Verwaltungsvereinbarung darüber, welchem Ortswechsel in derartigen Fällen Vorrang einzuräumen ist, besteht nicht.

Das Fehlen einer entsprechenden Regelung kann jedoch nicht dazu führen, dass die Ausländerbehörden beider Länder die zuzugswilligen Familienangehörigen wechselseitig auf die bloße Möglichkeit einer positiven Entscheidung der jeweils anderen Ausländerbehörde verweisen dürfen mit der Folge, dass keine der beiden Behörden einen Ortswechsel ermöglicht. Dadurch würde die Herstellung der Familieneinheit in einer Weise vereitelt, die mit dem Schutz der (Ehe und) Familie aus (Art. 6 Abs. 1 GG und) Art. 8 EMRK nicht vereinbar wäre. Die Ausländerbehörde des "Ziel"-Bundeslandes ist deshalb gehindert, die Ausländer, die den Wechsel in dieses Land begehren, auf eine gleichrangige Alternative des Ortswechsels des anderen Teils der Familie in das "Herkunfts"-Bundesland der Antragsteller zu verweisen, wenn die Realisierung dieser Alternative keinen Erfolg verspricht.

Zu weit geht es nach Auffassung des Senats allerdings, wenn ein solcher Verweis nur dann für statthaft gehalten wird, wenn entweder die andere Ausländerbehörde verbindlich ihre Bereitschaft zur Aufnahme der gesamten Familie erklärt hat oder eine dahin gehende Verpflichtung verbindlich, etwa durch ein Verwaltungsgericht, festgestellt worden ist (so OVG Nordrhein-Westfalen, InfAuslR 2006, 64 <69>). Eine derart weitgehende Präferenz für das "Ziel"-Bundesland ist durch die Notwendigkeit, die Familieneinheit herzustellen, nicht gerechtfertigt. Sie würde, weil die geschilderten Voraussetzungen in der Regel nicht ohne die Mitwirkung der betroffenen Ausländer herbeigeführt werden können, dazu führen, dass es von deren individueller Wahl abhinge, in welchem Bundesland die Familie geduldet würde. Das stünde im Widerspruch zu Sinn und Zweck der räumlichen Beschränkung von Duldungen.

Die Duldungen der Antragstellerinnen sind räumlich auf das Land Niedersachsen beschränkt, weil die Antragstellerinnen diesem Land im Rahmen ihrer Asylverfahren zugewiesen und auf die Aufnahmequote dieses Landes angerechnet worden sind (vgl. § 61 Abs.1 Satz 1 AufenthG, §§ 45, 52, 51, 14 Abs. 2 Nr. 3, 14a Abs. 2 AsylVfG).

Die Notwendigkeit einer Umverteilung zur Herstellung der Familieneinheit und die Verteilung der betroffenen Ausländer auf die verschiedenen Bundesländer zum Zwecke einer größtmöglichen Lastenverteilungsgerechtigkeit sind daher im Wege praktischer Konkordanz zu einem möglichst schonenden Ausgleich zu bringen. Daraus folgt, dass, solange eine Anrechnungsregelung nicht besteht, die Familieneinheit so herzustellen ist, dass möglichst wenig in die vorgenommene Verteilung und die daraus resultierende räumliche Beschränkung eingegriffen wird.

Hier sind zwei Familienangehörige dem Land Niedersachsen zugewiesen und auf dessen Quote angerechnet worden, während der Aufenthalt nur einer Person auf das Land Bremen beschränkt worden ist. Der geringstmöglichste Eingriff in die vorgenommene Verteilung besteht deshalb darin, dass Herr K. dem Wohnort der Antragstellerinnen zugewiesen wird.