VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 23.10.2006 - 6 K 2348/05.A - asyl.net: M9610
https://www.asyl.net/rsdb/M9610
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Blutrache, Verfolgung durch Dritte, mittelbare Verfolgung, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, Dorfschützer, PKK, Verdacht der Unterstützung, nichtstaatliche Verfolgung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16 a Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -, weil er nicht politisch verfolgt ist.

Der Kläger selbst hat bei seiner Asylantragstellung nicht geltend gemacht, dass er auf der Flucht vor eingetretener oder drohender politischer Verfolgung durch türkische Sicherheitskräfte ausgereist sei und er aus diesem Grund bei einer Rückkehr vor erneuter staatlicher Verfolgung nicht hinreichend sicher wäre. Er hat bei seiner Anhörung durch das Bundesamt vielmehr ausdrücklich angegeben, er habe mit dem türkischen Staat keine Probleme gehabt. Er sei hingegen von der Familie des getöteten ... und - aufgrund seiner Tätigkeit als Dorfschützer - auch von der PKK verfolgt worden. Damit beschreibt der Kläger aber keine Gefahr einer politischen Verfolgung im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG, da es sich insofern ausschließlich um Verfolgungshandlungen privater Dritter handelt.

Die vom Kläger insoweit befürchteten Straftaten, die dem Bereich der "Blutrache" zuzuordnen sein dürften, waren vor der türkischen Strafrechtsreform gemäß Art. 450 Nr. 10 des türkischen Strafgesetzbuches mit der Todesstrafe und sind jetzt grundsätzlich mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht. Der türkische Staat ist auch grundsätzlich willens und in der Lage, gegen kriminelle Übergriffe durch Privatpersonen einzuschreiten und den Betroffenen insoweit Schutz zu gewähren. Nach den vorliegenden Erkenntnissen gilt dies gerade auch für Blutrachetaten, die vom türkischen Staat hart geahndet werden, und zwar unabhängig von der Volkszugehörigkeit der betroffenen Familien bzw. der Täter, da diese den staatlichen Interessen wegen Verstoßes gegen das staatliche Straf- und Gewaltmonopol zuwiderlaufen (vgl. Auswärtiges Amt, u.a. Auskunft vom 17. Juli 2002 an VG Schleswig; VG Aachen, Urteile vom 21. April 2004 -6 K 1854/02.A und vom 26. April 2004 -6 K 261/02.A-; VG Braunschweig, Urteil vom 18. August 2003 -5 A 278/03-; VG Regensburg, Urteil vom 10. Juli 2003 -RN 13 S-).

Von einer stillschweigenden oder einvernehmlichen Duldung bzw. Tolerierung der Blutrache durch den türkischen Staat kann vor diesem Hintergrund nicht die Rede sein. Soweit der Kläger sich in der mündlichen Verhandlung - erstmals - darauf berufen hat, ihm drohe eine Gefahr der politischen Verfolgung, weil er sich in der Türkei geweigert habe, das Dorfschützeramt wieder aufzunehmen, folgt auch hieraus kein Anspruch des Klägers auf Anerkennung als Asylberechtigter. Denn die Kammer hält seine Befürchtung, durch die faktische Niederlegung des Dorfschützeramtes in den Fokus der türkischen Sicherheitskräfte geraten zu sein, für unbegründet.

Die Kammer geht dabei in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Berufungsgerichtes (vgl. OVG NRW, Urteile vom 30. Januar 1995 -25 A 4705/94.A- , Entscheidungsabdruck (EA) S. 36 f., vom 29. Juni 1995 -25 A 889/93.A-, EA S. 6 f., vom 11. März 1996 -25 A 5801/94.A-, EA S. 24 f., 36 ff., 87 f., vom 3. Juni 1997 -25 A 3631/95.A-, EA S. 28 ff., 112 f., vom 28. Oktober 1998 -25 A 1284/96.A-, EA S. 17 ff., 77 ff., vom 25. Januar 2000 -8 A 2221/96.A-, EA S. 24 ff., 83 ff. und vom 27. Juni 2002 -8 A 4782/99.A-, a.a.O., EA S. 34 ff. und vom 19. April 2005 -8 A 273/04.A-, EA S. 43 ff.) bei Würdigung der in den zitierten Entscheidungen ausgewerteten Erkenntnisse in ebenfalls ständiger Rechtsprechung (vgl. VG Aachen, Urteile vom 15. Januar 2004 -6 K 364/01.A-, <juris>, vom 6. März 2003 -6 K 1771/97.A-, vom 15. April 2002 -6 K 1194/97.A- und vom 5. März 2001 -6 K 3367/95.A- und -6 K 3427/95.A-) davon aus, dass der türkische Staat das Mittel der Aufforderung zur Übernahme des Dorfschützeramtes vielfach dazu nutzt, die Staatstreue (vorrangig) kurdischer Volkszugehöriger in Ostanatolien anhand der Bereitwilligkeit, sich als Dorfschützer bewaffnen zu lassen, zu testen. Aus der Perspektive der Sicherheitskräfte ist die Bereitschaft bzw. die Weigerung, das Dorfschützeramt zu übernehmen, das entscheidende Indiz dafür, ob der Angesprochene dem türkischen Staat loyal oder in Opposition gegenübersteht. Es gilt das Motto: "Wer nicht für mich ist, ist gegen mich". Wer sich weigert, das Dorfschützeramt zu übernehmen, gerät folgerichtig regelmäßig in den Verdacht, er sympathisiere mit der kurdischen Guerilla. Einer solchen Person bietet sich in der Regel aufgrund ihrer Vorbelastung keine inländische Fluchtalternative. Die Annahme eines hinreichend individualisierten, zu landesweiter Verfolgung führenden PKK-Verdachts ist aber nicht schon immer dann gerechtfertigt, wenn die in Rede stehende Person von Eingriffen asylerheblicher Intensität lediglich als anonym gebliebenes Mitglied einer Dorfbevölkerung betroffen war, die pauschal der Unterstützung der kurdischen Guerilla verdächtigt wird. Landesweit nicht vor Verfolgung sicher ist allein der, der sich aus Sicht der Sicherheitskräfte vor Ort einem individuellen, gegen seine Person gerichteten PKK-Verdacht ausgesetzt hat (vgl. OVG NRW, Urteile vom 19. April 2005 -8 A 273/04.A-, EA S. 45 f., vom 27. Juni 2002 -8 A 4782/99.A-, a.a.O., EA S. 34 ff., 37, 101 f., und vom 25. Januar 2000 -8 A 1292/96.A-, EA S. 33, 83 ff., sowie Beschluss vom 30. Januar 2001 -8 A 5803/00.A-, EA S. 5 f.).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist die Kammer bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalles vorliegend der Überzeugung, dass der Kläger in der Türkei nicht in einen individuellen Verdacht geraten ist, die PKK zu unterstützen oder mit der kurdischen Guerilla zu sympathisieren.

Auf der Grundlage der Angaben des Klägers geht die Kammer zunächst davon aus, dass der Kläger in seinem Heimatdorf einige Jahre als Dorfschützer tätig gewesen ist. Zur Ausübung dieser Tätigkeit sind ihm eine Waffe und ein Funkgerät überlassen worden. Das Dorfschützeramt hat er - faktisch - niedergelegt, indem er nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft der Aufforderung, das Dorfschützeramt wieder aufzunehmen, nicht nachgekommen ist, vielmehr sein Heimatdorf mit seiner Familie in Richtung Irak dauerhaft verlassen und seine ihm im Gerichtsgebäude wieder ausgehändigte Waffe in seinem Haus zurückgelassen hat.

Die Kammer geht jedoch nicht davon aus, dass der Kläger durch das unerlaubte - faktische - Niederlegen des Dorfschützeramtes als solches in den Verdacht geraten sein könnte, die PKK oder eine andere separatistische Gruppierung zu unterstützen. Anders als bei der individuellen Aufforderung zur Übernahme des Dorfschützeramtes, die für die türkischen Sicherheitskräfte häufig die Funktion eines "Loyalitätstests" erfüllt, gibt es bei aktiven Dorfschützern generell keine Veranlassung, ihre Loyalität in Zweifel zu ziehen. Zum Dorfschützer wird im Regelfall nämlich nur ernannt, wer vom türkischen Staat nach einer Sicherheitsüberprüfung als vertrauenswürdig angesehen wird. Denn es ist nicht anzunehmen, dass der türkische Staat eine Person verpflichten wird, Dorfschützer zu werden, von der er weiß oder ernsthaft annimmt, dass diese mit der PKK sympathisiert oder gar mit ihr zusammenarbeitet. Das Risiko, dass gerade solche Personen der kurdischen Guerilla ihre Waffen überlassen oder ihr wertvolle Hinweise geben oder gar mit ihrer Ausrüstung zu ihr überlaufen, ist viel zu groß, als dass es der türkische Staat zur Gewinnung von Dorfschützern eingehen wird (vgl. Aydin, Gutachten vom 15. Dezember 2000 an VG Aachen; Niedersächsisches OVG, Urteil vom 17. Juni 1997 -11 L 2620/92-, <juris>; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 29. April 1999 -A 1 S 155/97-, <juris>).

So verhält es sich auch im Fall des Klägers. Einen Loyalitätstest, sollte ein solcher mit der ursprünglich erfolgten Aufforderung, Dorfschützer zu werden, überhaupt verbunden gewesen sein, hat der Kläger ohne Zweifel bestanden. Selbst wenn der Kläger sich durch das Überlassen seiner Dienstwaffe an einen unberechtigten Dritten wegen Unterschlagung strafbar gemacht haben sollte (vgl. hierzu: Aydin, Gutachten vom 15. Dezember 2000 an VG Aachen), hätte diese Strafverfolgung angesichts der dargelegten Begleitumstände keinen politischen Charakter, sondern würde den Kläger wie jeden anderen Staatsbediensteten treffen. Im Übrigen ist davon auszugehen, dass eine derartige Straftat inzwischen verjährt wäre (vgl. Kaya, Gutachten vom 15. Dezember 2002 an VG Berlin (Verjährungsfrist: 5 - 7 ½ Jahre)).

Dem Kläger steht auch kein Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu.

Hinsichtlich der vom Kläger vorgetragenen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, namentlich die Familie F., ist bereits nicht ersichtlich, dass sie an ein asylerhebliches Verfolgungsmerkmal anknüpft. Ungeachtet dessen hat der Kläger nicht glaubhaft gemacht, beim türkischen Staat, wie von § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG gefordert, um Schutz vor den Verfolgungshandlungen nachgesucht und damit eine mögliche interne Schutzalternative erfolglos in Anspruch genommen zu haben. Er hat vielmehr angegeben, die türkischen Behörden überhaupt nicht um Schutz gebeten zu haben, weil er davon ausgegangen sei, dass ihm ohnehin nicht geholfen werde. Nach dem Wortlaut des § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG ("erwiesenermaßen") muss aber feststehen, dass der türkische Staat nicht willens oder nicht in der Lage gewesen ist, Schutz vor der Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu gewähren. Der von Verfolgung Bedrohte muss daher, weil es sich auch insoweit um persönliche Umstände handelt, konkrete Tatsachen und Umstände bezeichnen, aus denen sich ergibt, dass er erfolglos um Schutz nachgesucht hat. Er muss die persönlichen Umstände, Verhältnisse und Erlebnisse mit Blick auf das Schutzbegehren schlüssig und hinsichtlich Ort und Zeit detailliert und vollständig darlegen (vgl. Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2005, § 7 Rdnr. 104 m.w.N. zur Rechtsprechung des BVerwG).

Diesen Anforderungen wird der Kläger mit dem bloßen Hinweis darauf, der türkische Staat hätte ihm ohnehin nicht geholfen, ersichtlich nicht gerecht. Dass der türkische Staat nicht willens oder in der Lage (gewesen) ist, in derartigen Fällen mit rechtsstaatlichen Mitteln Hilfen anzubieten und den Kläger wirksam vor den angeblichen Bedrohungen zu schützen, ist - wie zuvor dargelegt - nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen über die Verhältnisse in der Türkei nicht anzunehmen.

Überdies ist ebenfalls nicht erkennbar, dass der Kläger im Sinne des § 60 Abs. 1 Satz 4 lit. c) AufenthG landesweit einer Verfolgung durch die Familie F. ausgesetzt (gewesen) sein könnte.

Schließlich kann sich der Kläger auch nicht mit Erfolg auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG berufen.

Schließlich steht auch hinsichtlich der weiter geltend gemachten Bedrohung seitens der Familie F. der Annahme einer konkreten und erheblichen Gefahr entgegen, dass der türkische Staat - wie zuvor dargelegt - nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnismitteln grundsätzlich willens und in der Lage ist, dem Kläger in der Türkei effektiven Schutz im Falle etwaiger Bedrohungen und/oder Gewaltanwendungen zu gewähren, wenn er diesen Schutz bei den staatlichen Institutionen einfordert.