VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 09.02.2007 - 13 K 1978/05.A - asyl.net: M9562
https://www.asyl.net/rsdb/M9562
Leitsatz:
Schlagwörter: Iran, Krankheit, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, fachärztliche Stellungnahmen, Sachaufklärungspflicht, medizinische Versorgung, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (früher: § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.

Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Kläger leidet nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), einer mittelschweren bis schweren psychischen Störung, einer mittelgradigen depressiven Episode sowie einer Somatisierungsstörung (psychovegetatives Syndrom, vegetative Dystonie, ICD-10: somatoforme Störung mit multiplen, wiederholt auftretenden und körperlich häufig wechselnden Symptomen von mindestens zweijähriger Dauer, vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 260. Auflage 2004, S. 1698).

Inhaltlich orientieren sich die Feststellungen des Gutachters entsprechend der gerichtlichen Vorgabe an der International Classification of Deseases, 10. Fassung; einer vollständigen Auflistung aller Krankheiten in einem Nummernsystem der WHO (World Health Organisation) mit klinisch diagnostischen Leitlinien (ICD 10) (Quelle: Dr. Lothar Lindstedt, Qualitätsanforderungen an medizinische Gutachten mit Beispielen aus dem Problemkreis traumatisierter Flüchtlinge, veröffentlicht im Internet unter folgender Adresse: www.bafl.de/template/publikationen/asylpraxis_pdf/asylpraxis_band_7_teil_06.pdf).

Die PTBS (Kapitel F 43.1 nach ICD 10) ist danach eine Reaktion auf schwere Belastungen und gehört zum Überbegriff der Anpassungsstörungen (F 43). Sie entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, flashbacks) oder in Träumen.

Dem Befund des Gutachters zufolge sind sämtliche diagnostischen Kriterien der PTBS bei den objektivierbaren Symptomen und den von dem Kläger berichteten Ereignissen, Beschwerden und Symptomen erfüllt. Ausgehend hiervon gelangt er zu der für das Gericht nachvollziehbaren Erkenntnis, dass eine Rückkehr des Klägers in den Iran wegen der Gefahr der Retraumatisierung eine erhebliche Verschlimmerung der PTBS nach sich ziehe und akute Suizidgefahr bestehe.

Eine solche, dem Kläger mit überwiegender Wahrscheinlichkeit drohende Retraumatisierung stellt einen Prozess dar, der vor der Abschiebung beginnt und sich im Herkunftsland fortsetzt, d.h. dass eine erhebliche Verschlechterung des Krankheitsbildes während der Durchführung einer Abschiebung ebenso zu erwarten wäre wie alsbald nach der Abschiebung im Heimatland. Gleiches gilt bei dem hier vorliegenden Krankheitsbild für die Suizidalität (vgl. hierzu: Gierlichs, "Die ‘Lebenserfahrung’ des OVG Münster", in: ZAR 2006, 405, 407; ders.: Auskunft an das VG Aachen vom 4. Oktober 2006).

Die Gefahr der Retraumatisierung knüpft damit zumindest auch an die Umstände des Zielstaats an und ist demzufolge zielstaatsbezogen.

Die festgestellte Krankheit des Klägers ist auch nicht im Iran behandelbar. Nach den Feststellungen des Sachverständigen kann ungeachtet dessen, dass die mit der PTBS verbundenen Symptome von Angst und Depression psychopharmakologisch behandelt werden müssen, die eigentliche Behandlung der Erkrankung des Klägers nur durch eine traumaspezifische, teilweise stationäre, teilweise ambulante psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung erfolgen, die in Deutschland durchgeführt werden kann. Jedenfalls ist es nach den Befunden des Gutachters evident, dass die Behandlung nicht im Iran erfolgen kann. Diese Einschätzung findet ihre Bestätigung in den dem Gericht vorliegenden Auskünften und Stellungnahmen sachverständiger Stellen zur Situation des Gesundheitswesens im Iran. Danach ist allein die medikamentöse Symptombehandlung in größeren Städten möglich. Dort gibt es, auch psychiatrische Krankenhäuser, die aber lediglich mittels medikamentöser Therapie behandeln. Eine (ambulante oder stationäre) Psychotherapie ist im Iran "kein Thema", weil sie als westliche "Unkultur" angesehen wird (vgl. Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Iran vom 21. September 2006 (Stand: August 2006), Az.: 508-516.80/3 IRN, S. 37; Auskunft des Deutschen Orient-Instituts an das VG Mainz vom 3. Juni 2002, Az.: 418 i/br).

Die Richtigkeit dieser Feststellungen des Sachverständigen werden durch die Kritik der Beklagten nicht in Frage gestellt. Ferner ist ohne Belang, dass der Gutachter seine Feststellungen auf der Grundlage einer ambulanten nervenärztlichen Untersuchung getroffen hat. Denn der Gutachter hat unter Auswertung des gesamten Akteninhalts gewürdigt, dass sich der Kläger bereits in laufender ambulanter psychotherapeutischer Therapie befindet. Darüber hinaus stellt die im streitbefangenen Bescheid enthaltene Würdigung der Angaben des Klägers zu seiner Vorverfolgung als unglaubhaft, auf welche die Beklagte nach wie vor verweist, die Beurteilung des gerichtlichen Gutachters nicht in Frage. Denn die seinerzeitigen Erklärungen des Klägers können nicht ohne weiteres einer solchen Würdigung zu Grunde gelegt werden, weil Dr. ... festgestellt hat, dass Angst, psychovegetative Reaktionen und dissoziative Phänomene als typische Symptome einer PTBS bei dem Kläger in Erscheinung getreten waren, wenn im Zusammenhang mit der Verfolgungsgeschichte z.B. von Gefängnishaft und Folter die Rede war. Vielmehr sprächen aus gutachterlicher Sicht die Authentizität der psychopathologischen Phänomene und die in sich schlüssigen und konsistenten Angaben des Klägers dafür, dass die von ihm beschriebenen Tatbestände der Gefängnisaufenthalte, der körperlichen und psychischen Verletzungen und Folterungen und die damit verbundene Hilflosigkeit tatsächlich erlebt worden seien. Ungeachtet dessen ist die Frage der Glaubhaftigkeit der auf eine politische Vorverfolgung im Einzelnen abzielenden Angaben für die Frage, ob dem Kläger auf Grund einer im Iran nicht behandelbaren, sich dort voraussichtlich wesentlich verschlimmernden Krankheit Abschiebungsschutz zu gewähren ist, ohne Belang.

Letztlich weckt auch die Stellungnahme des Dr. ... vom 6. Februar 2006, auf welche sich der Beklagte beruft, keine Zweifel an der Richtigkeit der Feststellungen des Sachverständigen Dr. .... Eine lediglich depressive Reaktion auf seine sozioökonomisch ungünstige Stellung als "Asylant", wie sie Dr. ... annimmt, liegt nach dessen Beurteilung bei dem Kläger nicht vor. Die Fehlbeurteilung durch Dr. ... ist nach dem Befund des gerichtlichen Sachverständigen dadurch zu erklären, dass dieser auf eine sorgfältige Exploration und empathische (in die Erlebnisweise des Patienten einfühlende) Beurteilung der Traumatisierungen des Klägers (die insbesondere in der Psychiatrie und Psychotherapie in der Arzt-Patienten-Beziehung wichtig ist, vgl. Pschyrembel, a.a.O., S. 481) verzichtet hat. Hinzu kommt, dass die Stellungnahme Dr. ... durch die von der Klägerseite überreichte methodenkritische Stellungnahme des Dr. Gierlichs vom 18. April 2006 nachvollziehbar in Zweifel gezogen worden ist. Im Kern kritisiert Dr. Gierlichs die Auffassung Dr. ... eine PTBS könne nur nachgewiesen werden, wenn auch ein Trauma (so genanntes "A-Kriterium") nachgewiesen sei. Der Nachweis von Ursachen anhand von Beweisen oder die Glaubhaftigkeitsuntersuchung mit Methoden der forensischen Psychologie gehöre nicht zum Aufgabengebiet des Klinikers. Vielmehr sei das Fehlen von Beweisen oft ein Charakteristikum traumatisierter Gewalt. Ein solcher "Beweis" ist - worauf Dr. Gierlichs zutreffend hingewiesen hat - in asylrechtlichen Verfahren in aller Regel auch nicht zu führen, weshalb - auch im Rahmen der Feststellung eines Abschiebungsverbots - lediglich der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, nicht aber des Vollbeweises vorliegen muss. In diesem Zusammenhang ist aber zu berücksichtigen, dass die Angaben des Betreffenden, die für die Annahme beachtlicher Wahrscheinlichkeit als alleinige Grundlage genügen können, wegen der Traumastörung nur bedingt zu Grunde gelegt oder teilweise aus therapeutischen Gründen nicht erfragt werden können.