VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 18.01.2007 - 11 UE 111/06 - asyl.net: M9478
https://www.asyl.net/rsdb/M9478
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Staatsangehörigkeitsrecht, Einbürgerung, Rücknahme, Staatsangehörigkeit, Verlust, Entziehung, Falschangaben, arglistige Täuschung, Loyalitätserklärung, verfassungsfeindliche Bestrebungen, IGMG, Milli Görüs
Normen: VwVfG § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 1; VwVfG § 48 Abs. 2 S. 3 Nr. 2; GG Art. 16 Abs. 1
Auszüge:

Die Berufung ist zulässig (§ 124a Abs. 6 VwGO) und begründet. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts kann der angefochtene Bescheid keine Rechtsgrundlage in § 48 HVwVfG finden.

Grundsätzlich kann die Rücknahme einer rechtswidrigen Einbürgerung auf § 48 HVwVfG gestützt werden (siehe BVerwG, Urteil vom 3. Juni 2003 - 1 C 1.9.02 -, BVerwGE 118, 216 ff.; Hess. VGH, Urteil vom 18. Mai 1998 - 12 UE 1542/98). Die im Staatsangehörigkeitsrecht seit jeher vorhandenen punktuellen Regelungen über Rücknahme und Verlust der Staatsangehörigkeit (heute z.B. §§ 17 ff. StAG) stellen kein abgeschlossenes Regelungssystem dar, durch das der Gesetzgeber zu erkennen gegeben hätte, dass es sich um eine umfassende und abschließende Regelung der Materie mit der Folge handeln soll, dass die allgemeinen Regelungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes von vornherein nicht mehr zu Anwendung kommen (vgl. Sachs in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, Kommentar, 6. Aufl., § 48 Rdnr. 17).

§ 48 HVwVfG ist auf die Rücknahme von Einbürgerungen jedoch nur anwendbar unter den Einschränkungen, die sich aus Art. 16 Abs. 1 GG ergeben (siehe BVerfG, Urteil 24. Mai 2006 - 2 BvR 669/04 - DVBl. 2006, 910). Die Vorschrift bedarf insoweit verfassungskonformer Anwendung unter Berücksichtigung der Grundrechtsnorm. Hieraus ergibt sich, dass die Rücknahme einer Einbürgerung nur zulässig ist, wenn die Einbürgerung erschlichen oder vom Betroffenen auf vergleichbar vorwerfbare Weise erwirkt worden ist, obwohl eigentlich die Voraussetzungen für die Einbürgerung nicht vorgelegen hätten.

Nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG, darf die deutsche Staatsangehörigkeit ausnahmslos nicht entzogen werden und ein Verlust der Staatsangehörigkeit darf nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird. Die Entziehung nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG stellt einen Spezialfall des Verlusts der Staatsangehörigkeit nach Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG dar. Um eine Entziehung handelt es sich bei einer Verlustzufügung, die die - für den Einzelnen und für die Gesellschaft gleichermaßen bedeutsame - Funktion der Staatsangehörigkeit als verlässliche Grundlage gleichberechtigter Zugehörigkeit beeinträchtigt (BVerfG, a.a.O., Jurisausdruck Rdnr. 49). Eine Entziehung liegt insbesondere bei einer Verlustzufügung vor, die der Betroffene nicht oder nicht auf zumutbare Weise beeinflussen kann (BVerfG, a.a.O., Rdnr. 50; ferner BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 1990, 2 BvR 116/90 -, NJW 1990, 2193; BVerfG, Beschluss vom 10. August 2001 - 2 BvR 2101/00 -, NVwZ 2001, 1393; BVerwG, Urteil vom 12. Dezember 1995 - 9 C 113/95 -, BVerwGE 100, 139, 145). Denn zur Verlässlichkeit eines Staatsangehörigkeitsstatus gehört auch die Vorhersehbarkeit eines Verlusts und damit ein ausreichendes Maß an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit (BVerfG, 24.05.2006, a.a.O., Rdnr. 50). Hiernach liegt im Falle einer erschlichenen Einbürgerung keine verfassungsrechtlich verbotene Entziehung der Staatsangehörigkeit vor, weil der Betroffene durch sein vorwerfbares Verhalten selbst den Grund für die Rücknahme der Einbürgerung gesetzt hat (BVerfG, a.a.O.). In diesem Falle kann die Rücknahme einer Einbürgerung ihre Rechtsgrundlage in § 48 HVwVfG finden. Einfachrechtlich ist diese Fallgruppe in § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 HVwVfG ausdrücklich benannt.

Entgegen der Auffassung des Beklagten ist die Rücknahme einer Einbürgerung nicht darüber hinausgehend auch in der in § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 HVwVfG benannten Fallgruppe zulässig. Soweit der Betroffene den Verwaltungsakt (lediglich) durch Angaben erwirkt hat, die in, wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren, ohne dass, darüber hinaus eine Täuschung, Drohung, Bestechung oder vergleichbar vorwerfbares Verhalten festgestellt werden kann, ist die Anwendung der Rücknahmevorschriften gesperrt durch das Entziehungsverbot aus Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG. Dies ergibt sich aus folgenden. Erwägungen:

§ 48 Abs. 2 Satz 3 HVwVfG ist bei der Rücknahme einer Einbürgerung zunächst nicht für die Fragestellung anwendbar, ob die Rücknahme zulässig ist, sondern stellt (nur) einen Maßstab dar, an dem sich das Rücknahmeermessen des § 48 Abs. 1 Satz 1 HVwVfG orientiert. Denn bei der Einbürgerung handelt es sich um einen begünstigenden Verwaltungsakt (§ 48 Abs. 1 Satz 2 HVwVfG), der aber nicht unter die Regelungen des § 48 Abs. 2 HVwVfG fällt. Hiernach ist die Rücknahme einer rechtswidrigen Einbürgerung nicht wie im Falle von auf Geldleistung oder Sachleistung gerichteten Verwaltungsakten eingeschränkt durch Vertrauensschutzbelange (§ 48 Abs. 2 Satz 1 HVwVfG), sondern grundsätzlich uneingeschränkt möglich und die Frage des Vertrauensschutzes ist (lediglich) bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen (siehe zum Ganzen Sachs, a.a.O., Rdnr. 122, Rdnr. 179 ff.). Im Falle der Rücknahme einer Einbürgerung tritt daneben aber der auch in Art. 16 Abs. 1 GG zum Ausdruck gekommene Gedanke, dass Staatsangehörigkeitsverhältnissen wegen ihrer Bedeutung sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft grundsätzlich Beständigkeit zukommen soll (s. etwa BVerwG, Urteil vom 3. Juni 2003, .a.a.O., Jurisausdruck Rdnr. 15). Dies führt unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Mai 2006 (a.a.O.) zu der Auslegung, dass in der Fallgruppe des § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 HVwVfG (Erwirken der Einbürgerung durch unrichtige Angaben) eine Rücknahme ausscheidet.

Nach § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 HVwVfG fällt der Vertrauensschutz nämlich bereits dann weg, wenn der Verwaltungsakt durch objektiv in wesentlicher Beziehung unrichtige oder unvollständige Angaben erwirkt worden ist. Nicht notwendig ist darüber hinaus hier, dass die fehlerhaften Angaben schuldhaft gemacht worden sind (BVerwG, Urteil vom 20. Okto-ber 1987 - 9 C 255.86 - BVerwGE 78, 139, 142; Sachs, a.a.O., Rdnr. 61). Der Tatbestand des § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 HVwVfG erfordert somit nicht, dass der Betroffene die Unrichtigkeit seiner Angaben kannte oder kennen musste. Notwendig ist hier lediglich, dass er erkannte oder erkennen musste, dass die entsprechende Angabe von ihm gefordert war (Sachs, a.a.O.). Grund für den Wegfall des Vertrauensschutzes ist in dieser Fallgruppe, dass die. Ursache für die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts in der Sphäre des Begünstigten lag (Sachs, a.a.O.).

Damit liegt jedoch im Sinne der Rechtsprechung des. Bundesverfassungsgerichts (Urteil v. 24.05.2006, a.a.O., Jurisausdruck Rdnr. 49 bis 51) kein vorwerfbares Verhalten und damit keine Voraussehbarkeit des späteren Verlusts der Staatsangehörigkeit vor. Es würde sich bei Rücknahme einer Einbürgerung wegen etwa unwissentlich unrichtiger Angaben um eine Verlustzufügung handeln, die aus Sicht des Betroffenen willkürlich erfolgt und die er nicht auf zumutbare Weise beeinflussen kann. Somit läge in diesem Fall eine verbotene Entziehung der Staatsangehörigkeit im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG vor.

Nach Maßgabe dieser Grundsätze durfte die Einbürgerung des Klägers nicht zurückgenommen werden.

Der Kläger hat seine Einbürgerung jedoch nicht durch arglistige Täuschung im Sinne des § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 HVwVfG oder vergleichbar vorwerfbares Verhalten erwirkt. "Erwirken" setzt ein zweck- und zielgerichtetes Handeln voraus, das auf eine Rechtsfolge gerichtet ist (vgl. Sachs, a.a.O., Rdnr. 155). Es lässt sich nicht zur Überzeugung des Senats feststellen, dass der Kläger bei Abgabe seiner Loyalitätserklärung wissentlich und zweckgerichtet, um seine Einbürgerung rechtswidrigerweise zu erreichen, von ihm unterstützte verfassungsfeindliche Bestrebungen verschwiegen hat. Seine Erklärung, keine gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen zu verfolgen oder zu unterstützen, setzte eine Wertung in zweifacher Hinsicht voraus. Sie unterscheidet sich wesentlich von in ihrer Struktur einfachen Fragen, die etwa durch Ankreuzen bzw. mit "ja" oder "nein" zu beantworten sind, wie etwa Fragen nach anhängigen Ermittlungsverfahren oder Personenstandsverhältnissen (s. in diesen anders gelagerten Fällen zur Mitteilungspflicht des Einbürgerungsbewerbers BVerwG, Urteil vom 9. September 2003 - 1 C 6/03 -, BVerwGE 119, 17, 22 ff.). Anhand der abstrakt und allgemein ihm vorgegebenen Kriterien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung musste der Kläger hier zum einen selbst bewerten, ob er diesen Grundsätzen für sich zustimmen kann oder ob er im Wege seiner Aktivitäten für die IGMG die freiheitlich-demokratische Grundordnung letztlich überwinden will. Zum anderen musste der Kläger einzuschätzen versuchen, wie seine Aktivitäten mutmaßlich von der Einbürgerungsbehörde eingestuft werden.

Danach war für den Kläger kein Anlass gegeben, seine Aktivitäten bei Milli Görüs, die er selbst in erster Linie als religiös motivierte Betätigung für einen religiös ausgerichteten Verein ansieht, ohne ausdrückliche Frage der Einbürgerungsbehörde nach Mitgliedschaften in Vereinigungen als verfassungsfeindliche Betätigung einzuschätzen.

Es konnte ihm hier nicht abverlangt und zugemutet werden, die Bewertung der Tätigkeit von Milli Görüs, die erst der Behörde im Rahmen der Anwendung von § 86 Nr. 2 AuslG bzw. § 11 Satz 1 Nr. 2 StAG obliegt, bereits selbst vorweg zu nehmen. Es lässt sich nicht feststellen, dass der verfassungsfeindliche Charakter der Bestrebungen von Milli Görüs damals (zum Zeitpunkt der Abgabe der Loyalitätserklärung) - aber ebenso auch heute - so eindeutig und offensichtlich war, dass angenommen werden muss, jedes Vorstandsmitglied von örtlichen Mitgliedsvereinigungen unterstütze verfassungsfeindliche Bestrebungen. Immerhin ist die Frage, ob Aktivitäten für die Vereinigung Milli Görüs die Annahme des Unterstützens verfassungsfeindlicher Bestrebungen rechtfertigen, in der Rechtsprechung unterschiedlich gesehen worden (einerseits etwa VGH München, Urteil vom 16. Juli 2003 -, 20 BV 02.2747, 20 CS 02.2850 -, BayVBl. 2004, 84 - verfassungsfeindliche Bestrebungen bejaht, allerdings nicht im Falle einer Einbürgerung, sondern für die Beurteilung der luftverkehrsrechtlichen Zuverlässigkeit; andererseits: VG Karlsruhe, Urteil vom 26. Februar 2003 - 4 K 2234/01 - juris -: Stellung als Vorsitzender eines Ortsvereins der IGMG begründet kein Einbürgerungshindernis nach § 86 Nr. 2 AuslG).

Der Vortrag des Beklagten, aus § 25 Satz 2 HVwVfG könne nicht hergeleitet werden, dass dem Kläger durch Vorlage einer Liste aller Organisationen, die von der Einbürgerungsbehörde als verfassungsfeindlich angesehen werden, weitergehende Auskunft über die von ihm erwarteten Angaben zu erteilen- wäre, führt zu keinem anderen Ergebnis. Es mag offen bleiben, ob die Vorlage einer derartigen "Liste" zweckmäßig wäre im Hinblick darauf, dass sie kaum abschließend sein könnte. Denn nach Auffassung des Senats ist es ohne rechtliche Hindernisse (etwa aus Gründen des Datenschutzes) und ohne Einbuße an Verwaltungspraktikabilität möglich, im Rahmen des Einbürgerungsverfahrens unter Hinweis auf die Anforderungen aus § 11 Satz 1 Nr. 2 StAG den Einbürgerungsbewerber allgemein und umfassend nach Mitgliedschaften und früheren Mitgliedschaften in Vereinigungen und Vereinen zu befragen. Dann hätte es hier dem Kläger oblegen, seine Mitgliedschaft und Vorstandstätigkeit bei Milli Görüs offen zu legen und der Beklagte hätte vor der Einbürgerung die Möglichkeit gehabt, nach entsprechender Erkundigung bei den Verfassungsschutzbehörden eine eigene Bewertung der Mitgliedschaft und Vorstandstätigkeit im örtlichen Verein vorzunehmen. Ein Verschweigen hätte dann bei entsprechender Bewertung der verschwiegenen Aktivitäten ohne weiteres zur Annahme einer durch Täuschung erschlichenen Einbürgerung führen können.

Dagegen kann im vorliegenden Fall ohne konkretisierende weitere Fragen der Einbürgerungsbehörde nicht festgestellt werden, dass der Kläger wissentlich für die Einbürgerung relevante Umstände verschwiegen hat mit dem Ziel, seine Einbürgerung auch rechtswidrigerweise zu erreichen (s. zur Verneinung einer Täuschung bereits dann, wenn ein Irrtum über Mitteilungspflichten nicht ausgeschlossen werden kann: BVerwG, Urteil vom 3. Juni 2003 - 1 C 19.02 -, BVerwGE 118, 216 ff., Juris-Ausdruck Rdnr. 27).

II. Auch wenn man annehmen würde, dass die Rücknähme einer Einbürgerung über die Fälle von Täuschung oder vergleichbar vorwerfbarem Verhalten hinausgehend auch in der Fallgruppe des § 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 HVwVfG bei lediglich objektiv unrichtigen oder unvollständigen Angaben des Betroffenen verfassungsrechtlich zulässig ist, könnte der angefochtene Bescheid keinen Bestand haben. Denn es lässt sich nicht feststellen, dass der Kläger objektiv unrichtige Angaben über verfassungsfeindliche Betätigungen gemacht hat und die Einbürgerung deshalb auf dem Verschweigen von Umständen beruht, die allein oder überwiegend in seiner Sphäre liegen. Auch hier ist maßgeblich, dass vom Kläger keine Angaben über Betätigungen in Vereinen verlangt worden waren, sondern demgegenüber eine Erklärung, dass er keine verfassungsfeindlichen Bestrebungen unterstützt. Es handelte sich dabei um eine Erklärung, bei der nicht gefordert war, konkrete Angaben zu machen, sondern bei der das Vorliegen von Umständen verneint werden sollte, wobei diese Erklärung - wie oben näher ausgeführt - eine Wertung voraussetzte. Mithin war die vom Kläger geforderte Erklärung nicht auf die Angabe von Umständen gerichtet, bei denen festgestellt werden kann, dass sie im Sinne des § 48 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 HVwVfG richtig oder falsch, oder unvollständig sind. Ebenso wie bei der Frage des Vorliegens einer arglistigen Täuschung kann auch hier nicht angenommen werden, dass der verfassungsfeindliche Charakter der Bestrebungen von Milli Görüs so eindeutig und offensichtlich war, dass die vom Kläger abgegebene Erklärung als eine Angabe angesehen werden muss, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig war.