VG Freiburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 04.12.2006 - A 3 K 11249/05 - asyl.net: M9425
https://www.asyl.net/rsdb/M9425
Leitsatz:
Schlagwörter: Serbien, Kosovo, Montenegro (A), Ashkali, Magjup, Ägypter, UCK, Übergriffe, Racheakte, Blutrache, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, interne Fluchtalternative, Existenzminimum, Erreichbarkeit, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzfähigkeit, KFOR, UNMIK
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die Kläger können die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG beanspruchen.

Die Kläger sind nach Maßgabe der vorstehenden Grundsätze vorverfolgt aus dem Kosovo ausgereist. Aus den von ihnen vorgelegten Gerichtsunterlagen, welche der vom Bundesamt eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amts vom 22.09.2005 zufolge echt sind, ergibt sich, dass der Kläger Ziff. 1 in der Nacht vom 01. auf den 02.01.2000 in Notwehr einen albanischen Volkszugehörigen erschossen hat, der seinerseits auf die Kläger geschossen hatte. Zur Überzeugung des Berichterstatters steht auch fest, dass der Angriff an die Zugehörigkeit der Kläger zum Volk der Magjup bzw. Ashkali anknüpfte. Denn sie wurden vor dem Vorfall am 02.01.2000 mehrfach durch das Opfer sowie weitere Personen, die sich als UCK-Angehörige ausgaben, aufgesucht und massiv bedrängt. Auch wenn die Albaner Geld verlangten und damit kriminelle Motive eine Rolle spielten, so ist offensichtlich, dass die Kläger gerade wegen ihrer Zugehörigkeit zum Volk der Magjup als vermeintlich leichte Opfer ausgesucht wurden und die Verfolgungsmaßnahmen auch auf ihre Vertreibung gerichtet waren.

Unschädlich ist, dass die Verfolgung durch albanische Volkszugehörige, die in der Bedrohung mit einer Schusswaffe am 02.01.2000 gipfelte, nicht staatlichen Stellen zugerechnet werden kann. Denn eine Verfolgung i.S.d. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen, einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG). Die KFOR und die UNMIK, die zum Zeitpunkt der Verfolgung (Ende des Jahres 1999 bzw. Anfang 2000) - als internationale Organisationen - die staatliche Macht im Kosovo ausgeübt haben (vgl. ad hoc-Bericht des AA zur aktuellen Lageentwicklung im Kosovo vom 08.12.1999), waren erwiesenermaßen auch nicht in der Lage, Schutz vor weiterer Verfolgung, insbesondere vor Racheakten von Familienangehörigen des Getöteten oder sonstiger albanischer Volkszugehöriger zu bieten. Dies ergibt sich aus den glaubhaften Angaben der Kläger, wonach sie, nachdem sie über Monate hinweg immer wieder von albanischen Volkszugehörigen aufgesucht und bedrängt worden waren, um Schutz bei der (italienischen) KFOR in Peje nachgesucht haben, der das Leben der Kläger gefährdende Angriff am 02.01.2000 aber nicht verhindert werden konnte. Darüber hinaus hat sich die Klägerin Ziff. 2, weil ihr Schutz durch die KFOR in ihrem Haus nicht zugesichert werden konnte, in den ca. drei Wochen bis zur Ausreise allem Anschein nach in Absprache mit der KFOR in der serbisch-orthodoxen Kirche in Peje aufgehalten. Unmittelbar nach der Freilassung des Klägers Ziff. 1 aus der Haft riet die KFOR den Klägern zur Ausreise und brachte sie an die Grenze zu Montenegro. Aus all dem folgt, dass sich die KFOR bezogen auf den gesamten Kosovo nicht zur Gewährung von Schutz in der Lage sah. Auch insoweit stimmt die Schilderung der Kläger mit der Erkenntnislage überein. Das Auswärtige Amt (vgl. Bericht v. 18.05.2000 a.a.O.) berichtete von einer alarmierenden Lage von Minderheiten im Kosovo und ging davon aus, dass ihre Sicherheit weiterhin selbst in ethnischen Enklaven und unter KFOR-Präsenz nicht immer zuverlässig gewährleistet werden könne.

Auch bestand keine zumutbare inländische Fluchtalternative. Ob den Klägern eine Einreise nach Serbien hätte gelingen können, erscheint bereits zweifelhaft. Teilweise wurden Roma- und Ashkali-Flüchtlinge aus dem Kosovo, die sich der Fluchtkolonne der Serben angeschlossen haben, an der Grenze zu Serbien von serbischen Polizisten zurückgewiesen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe: Kosova, Lageübersicht - Oktober 1999). Jedenfalls war die Situation derjenigen, denen die Einreise gelang, in humanitärer Hinsicht besonders schwierig. Staatliche Hilfen für die Flüchtlinge der Roma und Ashkali aus dem Kosovo gab es kaum. Sie lebten unter katastrophalen humanitären Verhältnissen in der Nachbarschaft ihrer Volksgruppen-Angehörigen, die selbst schon sehr gedrängt und ärmlich wohnten, in behelfsmäßigen Unterkünften, oft ohne Strom und in Zelten unter extrem schlechten hygienischen Bedingungen (vgl. Gesellschaft für bedrohte Völker, Auskunft vom 05.04.2000 an VG Karlsruhe). Ähnlich stellt sich die Situation hinsichtlich der nach Montenegro geflüchteten Roma und Ashkali dar.

Sind die Kläger hiernach vorverfolgt aus dem Kosovo ausgereist, kann ihnen der Schutz des § 60 Abs. 1 AufenthG nur dann versagt werden, wenn bei Rückkehr nach Serbien eine Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist.

Gemessen hieran besteht nach wie vor die Gefahr politischer Verfolgung durch albanische Volkszugehörige im Kosovo. Racheaktionen albanischer Volkszugehöriger im Kosovo können nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Daran ändert auch die Aussage des Auswärtigen Amts in der vom Bundesamt eingeholten Auskunft vom 22.09.2005 nichts, wonach in den Städten des Kosovo Racheakte, die durchaus blutig enden könnten, kaum zu verzeichnen seien, so dass es (eher) wahrscheinlich sei, dass die Familie des Getöteten eine Blutrache gar nicht in Erwägung ziehe. Danach können Racheakte keineswegs als völlig unwahrscheinlich angesehen werden, zumal das Auswärtige Amt in einer anderen Auskunft (v. 01.12.2005 an VG Karlsruhe) davon spricht, dass "insbesondere" außerhalb der größeren Städte des Kosovo nicht selten zwischen verschiedenen Familien Racheaktionen aus allen erdenklichen Gründen festzustellen seien, die im Kosovo landläufig als Blutrache bezeichnet und ohne Beachtung der einschränkenden Regeln des Kanun vergleichbar beharrlich betrieben würden und zum Teil auch vergleichbar blutige bzw. tödliche Folgen nach sich zögen. Dies macht deutlich, dass schwerwiegende Racheakte auch in den Städten des Kosovo keineswegs ausgeschlossen werden können. Ein solcher Racheakt wäre auch Folge der den Klägern vor der Ausreise drohenden ethnischen Verfolgung und der dadurch ausgelösten Notwehrhandlung des Klägers Ziff. 1, so dass ein innerer Zusammenhang mit der erlittenen Vorverfolgung besteht. Die Anwendung des sogenannten herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes ist unter diesen Umständen gerechtfertigt (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.02.1997 a.a.O.).

Auch zum heutigen Zeitpunkt steht den Klägern keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung. Montenegro scheidet als innerstaatliche Fluchtalternative aus, nachdem das montenegrinische Parlament am 03.06.2006 eine Unabhängigkeitserklärung abgegeben und die Bundesrepublik Deutschland die Republik Montenegro inzwischen völkerrechtlich anerkannt hat.

Einer innerstaatliche Fluchtalternative außerhalb des Kosovo, etwa in Belgrad - wie vom Bundesamt im angefochtenen Bescheid angesprochen - kann den Klägern nicht zugemutet werden. Das Auswärtige Amt (vgl. Auskunft vom 08.02.2005 an VG Bremen) berichtet, aus dem Kosovo stammende serbische Staatsangehörige genössen ungeachtet ihrer ethnischen Zugehörigkeit zwar grundsätzlich Niederlassungsfreiheit auf dem gesamten Territorium der Republik Serbien. In der Praxis sei dieser Anspruch jedoch nicht immer problemlos durchsetzbar.