VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 31.05.2006 - 5 E 1964/04.A - asyl.net: M9392
https://www.asyl.net/rsdb/M9392
Leitsatz:
Schlagwörter: Äthiopien, Oromo, OLF, Oromo Liberation Front, Union of Oromo Students in Germany, UOSG, Inhaftierung, Oppositionelle, Überwachung im Aufnahmeland, exilpolitische Betätigung, subjektive Nachfluchtgründe
Normen: GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 28 Abs. 1
Auszüge:

Der Kläger ist als Asylberechtigter anzuerkennen.

Es kann dahinstehen, ob der Kläger aus begründeter Verfolgungsfurcht sein Heimatland verlassen hat. Denn jedenfalls kann ihm eine Rückkehr dorthin wegen seiner aktiven politischen Betätigung in der OLF/UOSG nicht zugemutet werden. Die exilpolitische Betätigung stellt sich als Ausdruck und Fortführung der bereits im Heimatland erkennbar zutage getretenen oppositionellen Überzeugung des Klägers dar (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 1 2. HS AsylVfG).

Bei einer Rückkehr in sein Heimatland müsste er mit Verhören und Verhaftung von ungewisser Dauer rechnen. In Äthiopien befinden sich nach wie vor Tausende ohne Anklageerhebung in Haft, oft unter dem Vorwurf, sie würden den bewaffneten Kampf unterstützen, auch wenn sie lediglich Mitglieder oder Sympathisanten von Oppositionsgruppen sind und gewaltfrei tätig waren (vgl. dazu ai, Auskunft vom 13.02.2001 an HessVGH; Schröder, Auskunft vom 20.06.2005 an VG Wiesbaden; Institut für Afrikakunde, Auskunft vom 29.09.2004 an VG Aachen).

Im Vorfeld der Parlamentswahlen im Mai 2005 und nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses bezichtigte die Regierung die Oppositionsparteien, eine Verschwörung zum gewaltsamen Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung zu planen, ließ Oppositionspolitiker festnehmen, verbot Demonstrationen, ging gewaltsam gegen Demonstrationsteilnehmer vor und versuchte auf vielfältige Art und Weise auch die gewaltlose und legitime Wahrnehmung des Rechts auf freie Meinungsäußerung zu verhindern (vgl. dazu amnesty international vom 30.09.2005: Mutmaßliche gewaltlose politische Gefangene/Drohende Folter und Misshandlung; Human Rights Watch vom 10.05.2005: Äthiopien, Kritiker werden schikaniert und gefoltert; taz vom 03.11.2005: Blutbad in Äthiopiens Hauptstadt; Deutsche Welle vom 03.11.2005: Gewalt in Addis Abeba).

Nach den Wahlen, bei denen die Regierungskoalition die absolute Mehrheit gewonnen hat, die Oppositionsbündnisse CUD und UEDF aber auch insgesamt 161 der 524 Sitze erringen konnten (FAZ vom 11.08.2005: Regierung gewinnt Wahl in Äthiopien), beschuldigten die Oppositionsbündnisse die Regierung, die Wahl manipuliert zu haben und riefen zu Protesten auf. In der Folge wurden Tausende von Menschen verhaftet, auf den Straßen eskalierte die Gewalt.

Auch wenn es inzwischen wieder zu Freilassungen gekommen ist, so ist doch davon auszugehen, dass noch eine unbestimmte Anzahl von Verhafteten auch länger und ohne Gerichtsverfahren festgehalten werden wird. Das äthiopische Regime fühlt sich letztlich rechtsstaatlichem Handeln nicht verpflichtet. Das Vorgehen gegen auch nur vermeintliche Oppositionelle ist rigide und unberechenbar (vgl. dazu Schröder, Auskunft vom 20.06.2005 an VG Wiesbaden). Die äthiopische Regierung duldet nach wie vor keine Kräfte, die ihre Vormachtstellung nicht uneingeschränkt anerkennen und von denen zu befürchten ist, dass sie in der Bevölkerung Unterstützung für ihre oppositionelle Haltung finden (vgl. dazu ai, Auskunft vom 01.03.2001 an VG Kassel; AA, Lageberichte vom 13.05.2004 und 25.07.2005).

Es ist auch davon auszugehen, dass die regierungskritische exilpolitische Betätigung des Klägers den äthiopischen Behörden zur Kenntnis gelangt ist. Die Beobachtung exilpolitischen Verhaltens äthiopischer Staatsangehöriger ist ein erklärtes Anliegen des äthiopischen Staates.

Massive Verfolgungsgefahr besteht für ihn nicht nur aufgrund der allgemeinen Lage, sondern auch und gerade deshalb, weil er der oromischen Opposition angehört. Angehörige der OLF und deren Exilorganisation werden von der EPRDF-Regierung nach wie vor des Terrorismus verdächtigt. Es kam und kommt immer wieder zu massiven Übergriffen der Sicherheitskräfte gegenüber Mitgliedern und Unterstützern der OLF. Angesichts der hohen Bedeutung der Oromo-Frage nicht nur für das politische Überleben der jetzigen Regierung, sondern des Staates insgesamt, ist davon auszugehen, dass in den Augen der äthiopischen Sicherheitsbehörden jedwede exilpolitische Form der Unterstützung der OLF und ihrer Ziele verfolgungswürdig ist. Oromos, die sich im Ausland aufhalten, sind dem Generalverdacht ausgesetzt, den oromischen Befreiungskampf zu unterstützen. Kommt eine exilpolitische Aktivität für eine Oromo-Organisation im Ausland hinzu, verdichtet sich die Gefahr, bei einer Rückkehr Opfer von Inhaftierung und Verschwindenlassen zu werden, faktisch zur Gewissheit (so Günter Schröder, Auskunft vom 20.04.2005 an VG Wiesbaden; vgl. dazu auch ai, Auskunft vom 06.08.1997 an VG München; Institut für Afrika-Kunde, Auskunft vom 16.11.1998 an VG Berlin; Institut für Afrika-Kunde, Auskunft vom 17.12.1998 an VG Bremen; AA, Auskunft vom 26.09.2001 an VG Ansbach; Institut für Afrika-Kunde, Auskunft vom 18.02.2002 an VG Darmstadt und vom 02.11.2005 an VG Wiesbaden).